Erklärung

Henrys Sicht:

Ohne mich anzurühren hat Gabriel mich auf das Sofa im Wohnzimmer verfrachtet und eine Decke um mich herum festgesteckt. Er hat ihn geschlagen. Er was so wütend, mit jedem Recht, und doch steht er in der Küche und kocht mir einen Tee.

Und ich weiß einfach nicht, wie das passieren konnte. Oder eigentlich weiß ich es schon, schäme mich aber unendlich dafür. Zwar haben wir nie definiert, was wir für einander sind, aber als Gabriel seine Freitags-Treffen für mich aufgegeben hat, war das ein deutliches Zeichen, dass er sich mit niemand anderem trifft. Natürlich hat er von mir das gleiche erwartet, genauso wie ich selbst von mir.

Als ich aus der Wohnung gerannt bin, habe ich das ja auch alles gar nicht geplant. Erst einmal bin ich nur ziellos losmarschiert, an dem kleinen Waldstück vorbei, an dem ich morgens entlanglaufe, am Supermarkt abgebogen und da stand ich dann vor dem Bürogebäude, in dem ich arbeite, und habe gemerkt, dass ich nirgendwo anders hinkann, zu Fuß, ohne Portemonnaie oder Handy. Nicht einmal eine Unterhose habe ich getragen, in der Eile Gabriels Hose übergezogen, die überall ungemütlich geschubbert hat. Und dann habe ich hochgesehen zu meinem Bürofenster und gemerkt, dass ich nur von einem anderen Menschen in der Stadt wusste, wo er wohnt.

Es ist ganz schnell gegangen, zu ihm zu laufen, und er sah so lieb und besorgt aus, als er sich mein sinnloses, verheultes Gebrabbel angehört und mir Klamotten von sich zum Anziehen gegeben hat. Dann hat er sich zu mir aufs Sofa gesetzt und mir beruhigend eine Hand aufs Knie gelegt. Ich habe in dem Moment sogar gewusst, dass es unverfänglich gemeint war, er mich nur trösten wollte, aber da sind die Gedanken von vorher wieder auf mich eingestürzt. Die Gedanken, die sich schon seit einiger Zeit angesammelt haben.

Da war ein „Der bricht dir ja durch, wenn du ihn fickst!" und Gabriels Gesicht, als ich nachts zu ihm gekommen bin, um ihn zu küssen und zu streicheln. Die Aussage meiner Cousins, dass selbst ein schwuler Mann sich doch niemals für so ein Weichei wie mich erwärmen könnte. Sein Schreck auf mein Flehen hin, er möge mit mir schlafen. Und seine vollkommene Ahnungslosigkeit, als ich auf der Straße angehalten habe und nur darauf gewartet, er würde mir sagen, ich solle bleiben, weil er mich liebe.

Da war mir klar, was ich unterschwellig die ganze Zeit gefürchtet habe. Dass ich nicht gut genug bin. Nicht, um mich zu lieben. Nicht, um mit mir zu schlafen.

Donald wollte mich wenigstens. Zumindest war es gar nicht schwer, ihn zu verführen. Es hat sich nicht gut angefühlt, war mechanisch, mit dem einzigen Zweck, mir zu beweisen, dass irgendjemand mich schon wollen würde.

Als Gabriel dann hereingeplatzt ist, war ich seltsam froh über die Unterbrechung. Dass es nicht dazu kommen konnte. Denn selbst wenn ich Gewissheit wollte, dass jemand mich attraktiv genug finden würde, wollte ich das mit niemand anderem erleben.

Ich solle wieder mit ihm heimkommen, es tue ihm leid. Seine Wut auf Donald. Wie lieb er mit mir gesprochen hat, als hätte er nicht eben gesehen, was ich getan habe. Wie er Donald angeschrien hat, obwohl er auf mich wütend sein müsste. Immer noch auf mich wütend sein muss.

Er stellt den Tee vor mir ab und lässt sich in das andere Sofapolster fallen, neben mir. „Ich habe kaltes Wasser darauf gegossen, damit du ihn schon trinken kannst.", kommentiert er und es tut gut, dass er mit einer Nichtigkeit anfängt. So bin allerdings ich es, der den Elefanten im Raum erwähnen muss. „W-Wieso bist du nicht böse?", frage ich und merke, während ich meine Worte höre, woran es liegen muss. „I-ist es d-dir egal?" Ist es, ich weiß es, bevor er antworten kann. Das einzige, das ihn verletzt hat, war, wie Donald sein Wort gebrochen hat.

Aus großen Augen sieht er mich an und lehnt sich ein Stück zu mir herüber, hält dann aber inne, als wolle er mir keine Angst machen. „Böse? Ich bin unheimlich böse, aber nicht auf dich. Ich hätte dir längst alles erklären sollen. Es ist doch meine Schuld, dass du wegwolltest, ich habe dir wehgetan."

Alles erklären? Meint er sowas wie... mit mir Schluss machen? Ich höre mich Schluchzen und versuche, es zu unterdrücken. „Nein, du... Du musst böse sein.", entfährt es mir kläglich. „I-ich hab' das getan, ich hab dich betrogen. Du musst doch... Bitte, sei böse auf mich. Mach irgendwas, damit du mir verzeihen kannst." Gabriel schüttelt erschrocken den Kopf. „Liebling, ich verzeihe dir doch!", haucht er und weiß gar nicht, was es mit mir macht, dass er mich wieder so nennt. „Wenn ich von Anfang an ehrlich zu dir gewesen wäre, hättest du bestimmt verstanden, wieso ich nicht... wieso ich nicht mit dir schlafen konnte. Ich bin dir nicht böse, nur weil du das gerne erleben wolltest." Wieder ertönt dieses weinerliche Schluchzen und gibt meinem Cousin Recht, der mich ein Weichei genannt hat. „Bitte, Gabriel.", flüstere ich und zittere leicht, bis er meine Hände mit seinen warm umfasst. „Wieso?", fragt er und zieht meinen Blick mit seinem an. Seine Besorgnis ist ehrlich, als wäre ich ihm tatsächlich wichtig. Ich schlucke, kann aber mit seinem warmen Blick auf mir nicht lügen. „Damit ich weiß, dass es dir etwas bedeutet."

Zu meiner Überraschung drängt sich eine einzelne Träne aus seinem Augenwinkel, deren Weg über seine Wange ich erstaunt verfolge. Dann räuspert er sich. „Darf ich es dir erklären?" Zögerlich spüre ich mich nicken. Auch wenn er mir nun sagt, was ich nicht hören will, würde ich seine Gefühle nicht ungeschehen machen, indem ich sie ignoriere. Er drückt meine Hände, lässt seinen Blick von meinem Gesicht gleiten und in relative Ferne.

„Ich habe solche Angst, dir wehzutun, wenn ich dir nachgebe.", fängt er an, doch noch fehlen mir die Hintergründe, um damit etwas anfangen zu können. „Die Meisten werden irgendwann grob beim Sex, spätestens dann, wenn die Erregung größer wird als die Vorsicht. Ich weiß, dass ich mich nicht zurückhalten könnte. Und ich weiß eben auch, dass es wehtut." Ich nippe vorsichtig an meinem Tee, werde einfach nicht schlau aus dem, was er sagt. Es scheint, als fehle ein Teil der Geschichte, die Licht ins Dunkel bringt, die jedoch zu schambesetzt ist, um sie direkt zu erzählen. „Ich hab' gedacht, du..." Mit einer Frage versuche ich, ihm auf die Sprünge zu helfen, die wichtigen Aspekte herauszukitzeln. „Naja, dass du die Erfahrung umgekehrt nicht gemacht hast." Ich schlucke. Gibt es Worte dafür, die unverschnörkelt und direkt bedeuten, was ich meine, ohne dabei grob zu klingen?

Gabriel atmet hörbar aus, schüttelt leicht den Kopf. „Danach nicht mehr.", haucht er. Meine Augen weiten sich erschrocken, denn es klingt tatsächlich, als spreche er nicht bloß von einem schiefgelaufenen ersten Mal. Seine Hand entlässt die meine, die vor Aufregung leicht schwitzig geworden ist.

„Als ich siebzehn war, haben die Leute an meiner Schule erfahren, dass ich schwul bin. Irgendeiner hat mich auf dem Schulflur angerempelt und mich Schwuchtel genannt. Ich habe nicht mal wirklich was dazu gesagt, nur „Na und?" oder so ähnlich, aber das hat wohl als Outing ausgereicht. Es hat sich rumgesprochen, sodass auch die Jungs aus meinem Sportverein irgendwann Andeutungen gemacht haben, die schon längst ihren Abschluss hatten. Ich habe mir nichts daraus gemacht, weil sie nie fies geworden sind mit ihren Sprüchen. Aber nach einem Training haben zwei von ihnen, die außer mir länger gebraucht haben, mich unter die Duschen gezerrt. Ich... Bis dahin hatte ich überhaupt keine Erfahrung und noch nicht einmal wirkliche Ambitionen, meine schüchternen Fantasien umzusetzen, aber..."

Erst als er in seiner Erzählung länger pausiert und mich ansieht, bemerke ich, wie ich den Atem anhalte. Ich möchte irgendetwas tun, seine Hand berühren, seine Wange, ihn an meine Brust ziehen, ihm sagen, wie leid mir das tut. Doch ich kann mich nicht bewegen. Noch nicht einmal der Gedanke, wie er auf meine Versuche des Trostes reagieren könnte, drängt sich auf. Nicht einmal für ihn da sein kann ich. Ich hätte das doch wissen müssen, oder? Hätte nachfragen müssen, aber ich habe mich blenden lassen, als wäre ich auch bloß ein Fremder, der gebannt an Gabriels Lippen hängt, statt der Partner, der ich so gern für ihn sein würde. Und statt mir Gedanken über andere mögliche Beweggründe für seine Zurückweisung zu machen, renne ich zu Donald und verletze Gabriel nur noch mehr. Was habe ich getan?

„Schhh, hey, Henry!" Gedämpft dringt seine Stimme zu mir durch, holt mich zurück in den Moment. „Gabriel..." Er nickt, umfasst mein Gesicht mit beiden Händen, als könne er mich so davon abhalten, wieder abzudriften. „Gabriel." Wieder nur ein Nicken, eine zweite Träne, auf der anderen Wange dieses Mal. „Wenn ich ehrlich zu dir gewesen wäre, dir gesagt hätte, dass das der Grund ist, aus dem ich dir das nicht antun will...", grübelt er. „Wenn ich dir alles von Anfang an erzählt hätte... Ich habe doch gewusst, wie unsicher du bist, und hätte wissen müssen, dass du glaubst, es liege an dir. Dabei wollte ich dich nur beschützen."

Ich schüttele langsam den Kopf. „Gabriel. Bitte Gabriel." Ich weiß noch nicht einmal was ich sagen will. Ich will bloß, dass er aufhört, sich Vorwürfe zu machen. Dass er realistisch wird und mir die Vorwürfe macht, die ich verdiene. Ich will, dass er weiß, dass ich seine Angst verstehe, dass sie unbegründet ist. Aber stattdessen fließen nun auch meine Tränen und ich finde mich in seinen starken Armen wieder.

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