Baby (6. Dezember)
Henrys Sicht:
„Und du bist...?" Emma betrachtet mich schmunzelnd, mit auf der rechten Seite erhobener Augenbraue. Alleine ihr Anblick vermittelt meinem Körper, dass ich am besten wieder gehen sollte. Aber mein Körper spürt auch ganz genau den Grund, aus dem er hier ist und sich diesem Blick aussetzt. Gabriels Hand, warm und fest um meine geschlossen. „Ich hab' dir doch am Telefon gesagt, ich komme nur, wenn ich Henry mitbringen kann.", antwortet er für mich. Ich atme tief durch und reiche der Gastgeberin die Hand. „Alles Gute zum Geburtstag, Emma, und vielen Dank für die Einladung." Ihr musternder Blick löst sich in ein freches Schmunzeln auf, das mich noch immer nicht ganz beruhigt, aber doch ein wenig erleichtert.
Gabriel reicht ihr den Restaurantgutschein, den wir auf dem Weg ebenso spontan besorgt haben, wie sie uns noch am selben Morgen eingeladen hat. Sie winkt uns lächelnd hinein, wo uns ein mir unbekannter Mann jedem ein hübsch geschwungenes Glas anreicht, in dem aus klarer Flüssigkeit Bläschen aufsteigen. Ich beuge mich darüber und nehme den säuerlichen Geruch auf, identifiziere das Getränk als Sekt, als Gabriel es mir bereits wieder abnimmt und mir zuzwinkert. Bevor ich protestieren kann oder ihn daran erinnern, dass er mich nur ein Mal betrunken erlebt hat und ich deshalb noch lange nicht durch ein einziges Glas gefährdet bin, drückt er meine Hand und spricht in mein Ohr. „Es ist alles in Ordnung, Henry. Ich gehe nicht weg, okay? Ich bleibe bei dir, bis wir wieder aufbrechen."
Er lotst mich zum Büffet, wir füllen unsere Teller mit Fingerfood und stellen uns dann zu ein paar anderen jungen Leuten, die Gabriel zu kennen scheint. „Noah, hey, schön dich zu sehen! Ich hab' gehört, ihr seid jetzt zu dritt?" Ein ähnlich durchtrainiert wirkender Mann mit schwarzem Haar blickt auf und ich kann seine weißen Zähne förmlich blinken sehen, als er Gabriel angrinst und ihn mit diesem sonderbaren Männer-Handschlag begrüßt. „Richtig gehört. Catherine flitzt hier irgendwo mit der Kleinen herum." Sofort entwickelt sich ein Gespräch über die Freuden und Tücken des Elternseins zwischen den beiden, das ich interessiert und leicht neidisch verfolge. Wieso kann Gabriel das? Wieso fällt es immer allen so leicht, mit jemandem über alles Mögliche zu reden, obwohl man die andere Person kaum kennt? Dabei ist das Schlimmste in diesen Momenten für mich gar nicht, dass ich mich unfähig fühle, mich einzubringen, denn ich höre gerne einfach nur zu. Viel schlimmer ist das Gefühl, dass ich es eigentlich können müsste. Dass sie bemerken werden, wie unfähig bin. Und obwohl er es schafft, dass ich mich ihm ganz öffnen kann, wenn wir allein sind, bleibt da auch die Angst, dass Gabriel sich schließlich fragen wird, wer mit dem schon zusammen sein will.
Ich versuche, ruhig zu atmen und mich auf das Gespräch zu konzentrieren. Niemand starrt mich an... Und plötzlich - er muss sie zum Gestikulieren losgelassen haben – ist meine Hand nicht mehr in Gabriels.
Es geht ganz schnell: Eine junge Frau wuselt an mir vorbei, bleibt lang genug stehen, um meine Reaktion sicherzustellen, als sie mir ein sich windendes Bündel hinhält und bittet: „Halt sie mal kurz, ja?" Ich greife reflexartig zu und sehe sie noch von dannen ziehen, als ich realisiere, was ich da in den Händen halte.
Riesige blaue Augen staunen mich aus einem winzigen, kahlen Kopf heraus an, blicken dann suchend nach links und rechts. Noch immer halte ich das Kind mit ausgestreckten Armen vor mir, erinnere mich dann daran, wie Babys von ihren Eltern getragen werden, und lehne es gegen meine Brust. Eine Hand unter den gewindelten Po, die andere an den oberen Rücken. Ganz automatisch verfällt mein Körper in eine wippende Bewegung. Ob ich das mal irgendwo gesehen habe? Das kleine Lebewesen ist warm, ich kann seinen zu schnellen Herzschlag gegen meine Schulter spüren. Eine winzige Hand liegt an meiner Kehle, die Fingernägel kratzen hilflos über meine Haut. Und irgendwie werde ich für einen Moment ganz ruhig.
Obwohl ich mich wundern müsste, was das soll, merken müsste, wie mich nun tatsächlich alle beäugen, sich vielleicht fragen, wieso ich das Menschlein halten darf, ist das Kind wie ein Schutzschild, das alle Ängste von mir abhält. Ich atme ruhig, nehme nur den zarten Körper an meinem wahr und hoffe, dass ich alles richtig mache.
Kurz werde ich mutiger, lehne meinen Kopf zurück, um dem Kleinen ins Gesicht zu sehen. Die Augen sind immer noch riesig, aus dem Mund rinnt zähe Spucke, die sich am Kinn als Tropfen sammelt. Ganz unwillkürlich lächle ich – und lächle noch breiter, als sich auf dem kleinen Gesicht ein Strahlen ausbreitet und ein Glucksen erklingt. Wow.
Und schon wieder geht es schnell, es war nur ein kurzer ruhiger Moment. Das Baby reißt seinen Kopf unkontrolliert zurück, lässt ihn nach vorne schnellen und prallt mit der Stirn gegen meinen Wangenknochen. „Au", entfährt es mir leise, besorgt hebe ich das Wesen ein Stück von mir weg. In seinem Gesicht zeichnet sich die Reaktion schrittweise ab.
Die riesigen Augen weiten sich noch ein Stückchen mehr.
Die Mundwinkel verziehen sich unrealistisch weit nach unten.
Der Kopf läuft rot an.
Und dann plärrt mir ein Geschrei entgegen, dessen Lautstärke ich dem Winzling niemals zugetraut hätte.
Hilflos blicke ich mich nach der Frau von eben um. Wieso ist sie einfach weggegangen? Sie kann ihr Kind doch nicht einem Fremden geben! Oder ist das normal? Muss man als Erwachsener wissen, wie man mit einem Neugeborenen umgeht? Wissen andere Menschen das vielleicht intuitiv?
Neben den Sorgen, die sich unaufhaltsam an mich klammern, senkt sich ein anderes, fremderes Gefühl schwer auf mich und lässt mich schlucken. Eben noch war da dieser einvernehmlich glückliche Moment zwischen mir und dem Kind, wieso macht es mir nun weis, ich sei Schuld an dem Zusammenstoß? Das bin ich doch nicht, oder? Vielleicht hat es Recht, vielleicht bin ich wirklich nicht in der Lage, ein Kind zu halten. Und irgendwie hängt an diesem Gedanken noch so viel mehr, zu dem ich möglicherweise nicht in der Lage bin, dass es mir die Tränen in die Augen treibt. Ich darf hier nicht weinen. Nicht einmal starkbleiben kann ich.
„Baby, hast du dir wehgetan?" Gabriel stürzt auf mich zu. Wo ist er gewesen? Oder ist er die ganze Zeit hier gewesen und es ging alles viel schneller, als ich meine? Er greift dem Baby sanft unter die Arme und bedenkt mich mit einem ernsten Blick.
Ich blinzele. Blinzele gegen die Tränen an. Wieder ist mein Körper schneller als mein Kopf, ich schnappe nach Luft, überrascht davon, wie eng meine Kehle mit einem Mal ist. Das denkt er also auch, geht es mir durch den Kopf, denn sein Blick verrät es mir. Dass ich ein kleines, unschuldiges Kind noch nicht einmal auf dem Arm halten kann, ohne es zu verletzen und zum Weinen zu bringen.
Er dreht sich weg und reicht das Kind an Noah weiter, der sofort ein beruhigendes Murmeln von sich gibt. Dann sieht er mich wieder an. Seine Hände schweben auf mein Gesicht zu, legen sich überraschend an meine Wangen. „Baby, hast du dir wehgetan?", fragt er wieder.
Erst da kann ich die Tränen nicht mehr zurückhalten. Heiß kullern sie mir über die Wangen und ich sehe verschwommen, wie sich der Raum vor mir verschiebt, während Gabriel mich in eine ruhigere Ecke dirigiert. „Schsch", macht er, streicht mir mit den Daumen die Wangen trocken. Er hat mich gemeint. Als ich den Mund öffne, um etwas zu sagen, höre ich mich nur krampfhaft einatmen und fasse mir verwundert an die Brust, in der ich die Beklemmung spüre. Wie bei einem Asthmaanfall konzentriere ich mich darauf, lang und tief auszuatmen. Blinzele die Tränen weg, die meine Sicht verschleiern. Dann kann ich Gabriel sehen, den weichen Ausdruck in seinem Gesicht, der mir keinen Vorwurf macht. Der sich um mich sorgt. Um mich, mehr als um das hilflose Baby. Erneut setze ich an, diesmal kriege ich einen Satz zustande. „Ich liebe dich so."
Gabriel lächelt. Seine Finger streicheln noch immer mit hauchzarten Berührungen meine Wangen. Er lässt seinen Zeigefinger über meinen Wangenknochen tanzen, wo der kleine, harte Schädel mich getroffen hat. Dann seine Lippen. Ich weiß schon längst nicht mehr, dass es wehtat. Oder dass ich dachte, was er denken könnte... Nur noch, wie er hier bei mir ist.
Dennoch lässt er seine Lippen zu meinem Ohr fahren und haucht mit rauer Stimme: „Heile, heile Gänschen..."
Ein Kribbeln geht durch meinen Körper. Bei jedem anderen Menschen würde mich der angedeutete Kinderreim zum Lachen bringen, aber nicht bei Gabriel. Stattdessen schafft er es, die Worte wie eine Verheißung klingen zu lassen. Es ist ganz egal, was er sagt. Eigentlich sprechen tun in dem Moment seine heisere Stimme, die Lippen, die warm meine Ohrmuschel streifen, der Körper, der quälende Zentimeter von meinem getrennt und doch so nah ist.
Mit einem einzigen Schritt hat er mich rückwärts gegen eine Wand gedrängt, seine Hand in meinen Nacken geschoben und unsere Münder aufeinandergepresst. Seine Körperwärme hüllt mich von oben bis unten ein. Die Zunge, die dringlich über meine Unterlippe tastet, lässt mich vollkommen vergessen, in welchem räumlich-zeitlichen Kontext wir uns befinden. Meine Arme schlingen sich ganz von selbst um seinen Hals und ziehen ihn zu mir, meine Lippen öffnen sich und heißen seine Zunge willkommen, die meine sucht.
Viel zu plötzlich löst er sich von mir und lehnt seine Stirn gegen meine, atmet schwer gegen meine Lippen. Ein bisschen stolz bin ich schon, dass er durch mich außer Atem ist. „Lass uns nach Hause gehen.", entscheidet er. „Aber...", wage ich, einzuwenden. „Wir sind gerade erst gekommen. Du hast noch gar nicht mit Emma geredet."
Er seufzt niedlich. „Ich weiß... Ich will dich so gerne verwöhnen, Liebling." Er drückt mir einen Kuss auf die Nasenspitze. „Ich mag nicht warten." Wie um mir etwas zu beweisen rollt er seine Hüften gegen meine, lässt mich für den kurzen Moment, in dem sich unsere Körpermitten berühren, spüren, wovon er spricht. Das Aufseufzen kann ich nicht zurückhalten.
„Mhh... Später Daddy.", flüstere ich dann. Atme erneut tief durch. „Du wolltest so gerne herkommen. Jetzt sind wir hier. Unterhalte dich wenigstens noch mit Emma und lass uns was von ihrer Torte probieren. Das andere läuft uns nicht weg.", versichere ich und fühle mich für den Augenblick stark, weil ich ihm das anbieten kann. Weil ich für ihn darüber hinwegsehen möchte, wie unwohl ich mich mit den ganzen fremden Menschen fühle. Mehr noch als auf der Firmenfeier, auf der ich wenigstens ein paar Leute kannte.
Gabriel lacht ein leises, glucksendes Lachen. Dann lehnt er sich von mir weg und lässt seinen Blick mit genüsslicher Langsamkeit über mein Gesicht streifen, sodass mir ganz warm wird. „Ich wusste, du bist nur wegen des Naschkrams mitgekommen.", sagt er.
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