Sollicitus* aktualisiert

13.

Der Platz glich einem wimmelnden Ameisenhaufen. Polizisten, Sanitäter und Schaulustige tummelten sich auf dem Schotterparkplatz vor dem Waldrand. Schnee fiel in dicken Flocken vom grauen Himmel. Kiran starrte angestrengt auf den Waldrand, als würde der Wald ihm so seine Geheimnisse verraten. „Sie wird schon wieder auftauchen.", Alec lehnte sich neben Kiran an den schwarzen Range Rover. Sein Blick war vorsichtig. Er setzte sich weiter von ihm weg, als normalerweise. Alec hielt ihm eine dampfende Tasse Tee unter die Nase. Dampf waberte in Schwaden aus der heißen Flüssigkeit empor. Wasserdampf traf sein Gesicht, rötete es und hinterließ ein Schauer winziger Wassertropfen auf seiner Wange.

„Ich hätte sie nicht alleine lassen dürfen!", murmelte Kiran und nahm die Tasse, starrte erneut auf die Grenze zwischen grauem Schotter und knorrigen Wurzeln, die sich zu dicken Stämmen verdickten und in verzweigte Äste übergingen. „Alainn ist ein zähes Ding. Wahrscheinlich ist sie einfach nach Hause gegangen." , Alec stieß Kiran spielerisch den Ellenbogen in die Seite.

„So wie Allison wahrscheinlich über Wiesen hüpft? Oder einfach die Zeit vergessen hat? Oder wahrscheinlich einfach durchgedreht ist?", Kirans Blick war scharf und Alecs Lächeln verschwand. Er setzte an, um etwas zu erwidern, doch Kiran hob die Hand und brachte ihn zum Schweigen. In diesem Moment wirkte er wie ein Herrscher. Ein Herrscher, der mit einem einzigen Handzeichen einen ganzen Saal zum Verstummen bringen konnte. Oder einfach nur Alec. Kirans Augen blickten weiter in den dunklen Wald. Nebelschwaden waberten aus der Dunkelheit hervor, erloschen nach einigen Meter auf dem Schotterplatz- lösten sich in der Kälte auf.

„Ich brauche deine Hilfe, Alec!", sagte Kiran. Noch immer hatte er seinen Blick nicht vom Wald genommen. Bewegungslos wie eine Steinstatur wirkte er.

„Alles was du willst!", Kiran wand sich ihm zu. Er sah älter aus, schoss es Alec durch den Kopf, ernster. Sein Gesicht härter. Kiran nickte. Er lächelte nicht, aber seine Augen verloren die Schärfe, die er nicht abgelegt hatte, seit er Allison gesehen hatte.

„ Ich weiß!", murmelte er.

***

Kiran schloss die Augen. Öffnete sich und beschwor die Vision herauf. Kalt stach die Motorhaube in sein Gesäß. Er fühlte, wie Wind über ihn hinweg fegte. Schnee fiel auf seine Hände, die auf der Motorhaube lagen. Er konnte Alecs Anwesenheit fühlen, wie seine Augen über den Platz huschten und ihn vor neugieren Blicken abschirmten. Kiran streckte die Fühler aus. Er konnte das Singen des Waldes hören. Das leichte Rascheln der Blätter. Das Vibrieren der Bäume. Die Energie, die durch den Waldboden strömte. Sein Geist tastete sich durch die Bäume, suchte nach den Schwankungen im Zeit- Raum kontinium, die Kiran seine Visionen verdankte. Es kostete ihn viel Kraft Visionen der Gegenwart heraufzubeschwören. Anders als die Bilder der Zukunft, die in seinen Träumen auf ihn lauerten.

Alainn Namara, rief er dem Strom in seinem Innerem zu, während er sich vom Außenstrom mitreißen ließ. Schnee stob durch die Luft. Feuerrotes Haar blitze auf. Blaue Finger krallten sich in schneebedeckte Erde. Eisige Tränen zeichneten sich auf eisblauer Haut ab. Schwarzbraune Äste griffen in ihr Haar. Zogen daran. Alainn schlug ihre Fäuste in die Erde. Rappelte sich mit zusammen gebissenen Zähnen wieder auf. Er hörte sie entfernt fluchen. Sie stapfte weiter. Langsam. Schnee türmte sich auf ihren Schuhen auf. Bedeckten die Spitzen wie weiße Hüttchen. Rote Augen leuchteten zwischen den Bäumen auf. Er sah, wie sie sich umdrehte. Das Rot verblasste, tauchte an anderer Stelle wieder auf. Sie umkreisten Alainn. Er konnte hören, wie Alainns Atem sich beschleunigte, sah das kräftige Heben und Senken ihres Brustkorbs. Kiran sah in den grünen Augen Angst. Angst und Zorn. Sie bückte sich, ihre eisigen Finger wühlten den Schnee um sich herum auf, während ihre Augen die Umgebung beobachten. Als sie aufstand, hielt sie einen dicken Ast umklammert. Ein gebogenes Stück Holz, schwer, aber ungeeignet als Waffe. Dennoch bohrten sich ihre Finger um sein dickes Ende. Entschlossen starrte sie die roten Augen an. Kichern. Sie lachten Alainn aus. Zwei paar rote Augen leuchteten auf. Weitere dunkle Schatten bewegten sich in der Finsternis der Bäume. Schnell sah Kiran sich um. Suchte nach einem Hinweis, der ihm zeigte, wo sie war. Wo er sie finden würde. Ein kleines Schild hing halb unter Schnee verborgen an einer Buche. Parkplatz stand dort in einer schwarzen Schrift, die durch die Nässe aufgeweicht und verschwommen war. Aber es reichte.

Kiran öffnete die Augen.

„Hast du sie gesehen?", Alec beobachtete noch immer den Ameisenhügel vor ihnen.

„Ja!", murmelte Kiran schlicht, „Ich hole sie. Bleib hier und lenk meinen Onkel ab, falls er fragt.", er drehte sich noch einmal zu Alec um. Nickte ihm zu und lächelte. Alec erwiderte es.

„Ich beeile mich!". Kiran verschwand zwischen den Bäumen. Schnee stob auf, als die Tatzen des Wolfes auf dem Schnee landeten. Der Wolf liebte den Schnee und das Rennen. Leichtfüßig hastete er durch das Labyrinth der Bäume. Hielt nur an, um die Nase in den Wind zu halten. Mit zuckender Schnauze suchte er ihren Duft. Dann rannte er weiter.

Alainn schwor sich, dass sie niemals wieder unbewaffnet aus dem Haus gehen würde. Sie schwor es sich, während sie mit klammen Fingern den Ast betrachtete. Niemals, flüsterte sie. Die Augen waren erloschen, aber sie spürte, wie dunkle Silhouetten im Schutz der Bäume sie umkreisten. Das Kichern breitete sich durch das Labyrinth aus. Ihre Nackenhaare stellten sich auf. Sie warf sich mit dem Rücken an einem Baum und beobachtete die Schwärze. Der Stock in ihrer Hand war schwer und dick. Er krümmt sich in der Mitte und hatte die Form eines umgedrehten „L"s. Nicht gerade eine passende Waffe. Aber er würde fürs Erste standhalten. Besser als die dünnen Zweige und Wurzeln, die sie unter dem Schnee freigelegt hatte. Sie presste ihre blauen Lippen aufeinander, versuchte durch die Schwärze der Bäume hindurch zu linsen. Aber mehr als ein paar huschende Schatten, bot sich ihren Augen nichts.

„NA LOS!", schrie sie, „ Kommt schon!", ihre Stimme war angriffslustig und provozierend. Sie hob den Ast mit beiden Händen und hielt ihn wild in die Luft.

„WAS IST? Worauf wartet ihr?", wieder erklang das Kichern. Jemand stimmte mit ein. Es waren mehrere. Sie zitterte leicht, während sie mit den Ellenbogen ihre nassen Haare aus ihrem Gesicht strich. Der Schnee hatte es durchnässt. Das Kichern kam von rechts. Alainn drehte sich. Den Baumstamm in ihrem Rücken nicht verlassend. Sie ging leicht in die Knie, bereitete sich auf einen Kampf an. Jeder ihrer Muskeln war angespannt, ihre Sinne lauschten. Sie rochen nach Blut. Nach geronnen Blut, eine ekelhafte Mischung aus Metall und Verwesung. Angewidert rümpfte sie die Nase. Sie nagte an ihrer Lippe, versuchte ein Geräusch zu erhaschen, aber sie waren leise. Bewegten sich mit tonloser Schnelligkeit. Das Geheul eines Wolfes durchbrach das Kichern. Alainn richtete sich auf. Das Heulen verstummte. Dann erscholl ein tiefes Knurren. Tief und drohend. Und es wurde lauter.

 Sie hörte wischende Geräusche. Sohlen, die leise über Schnee hasteten. Jedes Haar auf ihren Armen richtete sich auf, als der Wolf erneut zu Knurren begann. Bedrohlich und markerschütternd. Der Laut des Wolfes traf sie bis in die Knochen. Ohrenzerreißend schnitt das Knurren durch die Luft. Dann roch sie ihn. Er roch nach Tannennadeln. Dunkler herber Geruch. Sie roch Harz und eine Prise Süße. Sie runzelte die Stirn. Glaubte sich zu irren. Zimt? Äste knackten. Ihr Herz setzte aus. Er kam auf sie zu. Mit großen Augen sah sie sich um. Die Bäume um sie herum waren majestätische Stämme von Eschen, Tanne und Buchen. Ihre Äste begannen weit oben und Alainn hatte noch nie zu einer guten Kletterin gehört. Das Knurren verstärkte sich.

 Alainn zwang, das Bedürfnis sich die Ohren zu zuhalten, hinunter. War da ein Schatten. Hastig drehte sie sich um. Das Herz schlug schmerzhaft gegen ihre Rippen. Sie umklammerte den Ast fester. Für einen kurzen Moment dachte sie an Flucht. Aber selbst als Korrigan wäre sie nie schneller als ein Wolf. Und wenn sie schon sterben musste, dann kämpfend und nicht wie ein gehetztes Tier den Blick nach hinten gerichtet. Sie richtete sich auf. Biss auf ihre Lippe. Schmeckte Blut und starrte grimmig in die Finsternis. Dort wo sie den Schatten zuletzt gesehen hatte. Sie lauschte. Tatzen auf Schnee. Wie weich das Geräusch war. Ihr Herz raste. Schweiß brach aus jeder Zelle ihres Körpers. Ihre Körpertemperatur fiel augenblicklich. Sie konnte fühlen wie ihre tauben Zehen entfernt schmerzten. Weiche Tazten wischten wie Stoff über polierten Boden. Unwillkürlich dachte sie an spitzenbesetzte Kleider, die sich in geschwungenen Drehungen wiegten und über mamorierten Stein streichelten, während ihre Besitzerinen zu Orchestermusik tanzten. Sie horchte auf. War da gerade ein hecheln? Ein Wolf mit heraushängender Zunge und blutverschmierten rasiermesserscharfen Zähnen verdrängte die tanzenden Mädchen. Blut quoll aus ihrer zerbissenen Lippe hervor. Merkwürdig warm war das Blut, als es ihr über die Lippe und das Kinn hinab lief. Der Duft von Tannennadeln stieg ihr in die Nase. Er kam von links. Die Furcht umklammerte ihr Herz. Dampf stieg in der Dunkelheit auf. Sein Atem, dachte Alainn und verstärkte den Griff. Ihre Finger waren schwitzig. Die Knöchel stachen weiß hervor. Wieder das Wischen von Tatzen. 

Er näherte sich. War er schon auf ihrer Höhe? Schnee knarzte. Wie Schuhe? Alainn holte aus. Warte, ermahnte sie sich, du hast nur eine Chance. Schritte, die näher kamen. Knarrend verdichtete sich der Schnee durch den Druck von oben. Sie sah die Bewegung von rechts zwischen den Bäumen. Er kam direkt auf ihren Baum zu. Eins. Schatten tanzten auf den Schnee unter ihr. Zwei. Der schwarze Abdruck auf dem Schnee wurde größer. Seine Form war unförmig. Drei. Der Schatten trat aus dem Schutz der Bäume. Sie schlug zu. So fest sie konnte. Legte ihre gesagte Kraft in den Schlag. Neben ihr fiel jemand in den Schnee. Sie holte erneut aus.

„Kiran?", sie ließ den Zweig sinken. Er hielt sich den Magen und sah sie mit schmerzverzerrten Gesicht an.

„An deiner Begrüßung sollten wir nich arbeiten!", presste er hervor. Kiran packte die Hand, die Alainn ihm hinhielt.

„Da war ein Wolf und...", sie stockte und ihre Augen wanderten unruhig durch die düsteren Zwischenräume der Bäume. Kiran folgte ihrem Blick und nickte: „Da war noch etwas anderes!", ihre Stimme wurde leise. Mit der abfallenden Spannung versiegte auch die letzten Kraftreserven. Alainn fühlte die Müdigkeit, die Erschöpfung. Ihre Beine zitterten und waren schwer wie Blei.

„Wir sollten hier schnellstens verschwinden!", Alainn nickte. Ihre Lippen waren zerbissen und blutig. Aber er sah die bläuliche Farbe, die sich über ihre gesamte Haut legte. Ihre schneeweiße Hautfarbe erinnerte ihn nun eher an das bläuliche Eis in der Antarktis, dass er in einer Dokumentation gesehen hatte. Sie sah nicht gesund aus. „Komm!", wiederholte er. Er griff nach ihrem Arm. Nicht grob, aber bestimmt und zog sie mit sich. Er rannte. Kiran hatte die schwarzen Schatten gesehen, ihren Geruch gerochen- ihre Anwesenheit gespürt. Und er konnte sie noch immer fühlen. Er spürte, wie erschöpft Alainn war. Wie viel Mühe es sie kostete, ihre Beine anzutreiben. Seine Hand grub sich in ihren Arm. Zog sie halb, halb stütze er sie. Die Haut ihres Arms war kalt wie die Luft. Alainn stürzte über eine Wurzel.

 Nur Kirans Hand hinderte sie am Fallen. Sein Griff wurde stärker. Immer weiter zog er sie. Trieb sie an. Er verlangsamte sein Tempo nicht. Er hatte die Augen gesehen. Das glühende Rot. Die schwarzen Umhänge, die Alainn umkreisten. Nicht mehr weit, dachte er und zog sie weiter. Auf Alainns Schuhe türmten sich die Schneemassen auf. Sie konnte kaum noch ihre Füße heben. Dennoch lief sie weiter. Kiran bemerkte die blutigen Lippen, die sie fest aufeinandergepresst hatte, die schwarzen Schatten unter ihren Augen. Fühlte die Kälte, die sich durch ihre Haut und ihre Knochen fraß. Dann donnerten sie durchs Gebüsch. Alainn fiel. Steine bohrten sich durch ihre Hände und Knie. Stöhnend nahm sie den tiefen Brandschmerz in ihrer Hand wahr. Kirans Hände griffen um ihre Schulter. Hoben sie in die Höhe.

„Alles gut?", fragte er. Seine schwarzen Augen sahen sie warm an. Obsidian, dachte Alainn. Wie Obsidian oder Onyx glänzten seine Augen. Sie nickte schwach. Dann stürzten die ersten Sanitäter auf sie zu. Eine dicke Decke wurde um sie gewickelt. Ein Polizist trat auf sie zu. Neben ihn stand ein Mann. Groß, mit schwarzen Haaren und Kieselsteinaugen. In seinem dunklen Haar flochten sich einige graue Strähnen ein und die strengen Kanten in seinem Gesicht wurde durch die ein oder ander Falte verstärkt. Es gab nicht einen Zweifel daran, dass dieser Mann mit Kiran Graham verwandt war, dachte Alainn.

„Nicholas Wilson!", stellte er sich vor. Er streckte ihr eine große Hand entgegen, die Augen funkelten warm und freundlich. Vorsichtig schüttelte Alainn sie.

„Ich bin Kirans Onkel und Chris und Lincolns Vater.", die Zwillinge standen einen Meter neben ihn. Kiran redete leise mit ihnen. Alainn fragte sich, ob es Nicholas Wilson störte, dass sein Neffe ihm ähnlicher sah, als es seine Kinder je tun würden. Der Polizist reichte ihr eine Tasse dampfenden Tee.

„James Meison, Polizeichef!", stellte er sich vor. Er war ein kleiner gedrungener Mann, mit kurz geschnitten Haaren. Seine Haltung erinnerte an einen Soldaten. Seine Worte waren laut und Alainn hatte das Gefühl, als würde er hinter jedem Wort ein Punkt machen. Er war auf jeden Fall einmal beim Militär gewesen. Sie presste ihre kalten Finger an die Tasse.

„Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen bis ihre Mutter kommt!", sagte James Meison in seiner merkwürdigen Wort-Punkt-Wort- Sprache. Alainns Blick wanderte zu den Jungen, die noch immer flüsternd an einem Auto gelehnt standen. Kiran sah auf. Seine obsidianschwarzen Augen sahen sie an. Alainn war nie besonders gut im Entziffern von Mimik und Gefühlen gewesen. Es hatte sie einfach niemand genug interessiert, als das sie sich ernsthaft mit jemanden auseinandergesetzt hatte. Aber in diesem Augenblick, als Kiran Graham sie ansah und sie den Ausdruck in keinster Weise einordnen oder zu deuten wusste, bedauerte sie ihr Desinteresse.

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