Kapitel 3💫
"Die alte Automobil-Fabrik?", fragte Harlow verwirrt, als er zeitgleich mit Freya aus ihrem Auto stieg und sein Mantel sich dabei ungeschickt in der dunkelroten Beifahrertür verfing, "die steht doch schon ewig leer. Soll sie nicht demnächst sogar abgerissen werden?"
"Wäre auf jeden Fall ein guter Ort, um eine Leiche zu verstecken", antwortete die Dunkelhaarige und musterte währenddessen die kaputte Fassade der roten Backsteinfabrik.
"Ziemlich wenig los für einen Mord", kommentierte Harlow überrascht, konnte lediglich den Leichenwagen und ein weiteres Polizeiauto neben Freya's Privatem erspähen.
Der große Torbogen, der als Eingang der Fabrik diente, war bereits mit Sperrbändern verziert und vor ihnen stand ein breit gebauter Polizist, den Harlow auf den zweiten Blick hin als Greg Anders identifizieren konnte. "Wir haben hier in Chaslow eben wenig Auswahl, es ist leider nun mal nicht London", kommentierte Freya und ging an Harlow vorbei in Richtung Eingang.
"Harlow!", begrüßte Greg die beiden Neuzugänge und schenkte Harlow einen festen Händedruck, "schön dich mal wieder zu sehen! Amanda ist immer noch hin und weg von den Tulpen, die du ihr geschenkt hast!"
"Hortensien", berichtigte Harlow den kahlköpfigen Mann in Uniform mit einem freundlichen Lächeln, "aber es freut mich auch, dich mal wieder zu sehen, Greg. Deine Schulterverletzung ist wieder verheilt, nehme ich an?"
"Oh ja, nach zwei Wochen-"
Freya räusperte sich einmal laut, "Griffon wartet drinnen auf uns. Hier ist immerhin vor kurzem ein Mord geschehen, vergessen wir das nicht."
"Natürlich", sprang Greg direkt wieder auf seinen Arbeitsmodus um, das familiär Lächeln verschwand und er hob das gelbe Absperrband hoch, sodass Harlow und Freya sich ohne Probleme darunter durch bücken konnten.
"Weißt du-", fing Harlow an, als sie sich durch die modrigen Betonflure begaben, "ein wenig Smalltalk würde dir nicht schaden. Dann würden dich deine Kollegen vielleicht auch mehr mögen."
Freya seufzte genervt, da sie genau dieses Gespräch schon oft genug geführt hatten, "sie müssen mich nicht mögen, sie müssen mich nur respektieren und mich meine Arbeit machen lassen", kam es kühl von ihr zurück. Harlow öffnete bereits seinen Mund, um darauf zu antworten, doch die Worte blieben ihm im Mund stecken, als sie nach links abbogen und den Tatort betraten.
In der Mitte des Raumes lag ein Mann im dunkelbraunen Anzug. Auf dem Rücken und die Gliedmaßen von sich gestreckt. Ein Teppich aus Blut unter ihm. Darüber gebeugt war eine Frau und schrieb sich Notizen auf. Die Gerichtsmedizinerin, vermutete Harlow. Daneben stand Griffon in seiner Arbeitsuniform.
Mit verschränkten Armen und einem ungewöhnlich ernsten Blick. Sobald er seinen Kopf hob und die beiden erblickte, winkte er sie eilig zu sich. Seine kinnlangen, schwarzen Haare waren nach hinten gekämmt, einige Strähnen lagen ihm vor seinen grünen Augen. Griffon war weder der Größte noch der Muskulöseste, aber immerhin die dunkelblaue Uniform schenkte ihm das nötige Maß an Achtung.
"Hey, danke fürs schnelle Kommen!", sprach er lächelnd, sein Blick huschte nervös zwischen Harlow und der Leiche hin und her, "das ... das ist die Leiche."
"Das konnten wir uns denken", kommentierte Freya, die um ihren Kollegen herumlief und neben den Leichnam niederkniete, "kennst du ihn, Harlow?"
Harlow's Herz schlug ihm bis zum Hals. Er wollte am liebsten gar nicht hinsehen. Schwer schluckend wandte er den Blick nach unten und ließ ihn musternd über den Körper fahren.
Älterer Mann, schätzungsweise um die fünfzig. Graue Halbglatze. Eine runde Hornbrille neben im. Schicker -wenn auch in Blut getränkter- brauner Anzug mit blauer Krawatte und einem langen, grauen Mantel. Korpulent, aber nicht gesundheitsgefährdend. Seine braunen Augen waren vor Starr weit geöffnet. In seiner Brust konnte man klar die Schusswunde in der Herzgegend erkennen.
Harlow atmete erleichtert aus, "nein, ich kenne ihn nicht.", seine Schultern senkten sich, als die Last von ihnen fiel. "Bist du dir ganz sicher?", fragte Griffon unsicher nach, "Laurie, zeigst du uns nochmal sein Tattoo?"
Die blonde Gerichtsmedizinerin sah von ihrer Akte auf und nickte, bevor sie vorsichtig mit ihren Fingern den Mantel und das weiße Hemd beiseite zog, um auf seiner linken Brust das Tattoo sichtbar zu machen. Direkt über der Eintrittswunde befand sich das Motiv eines verblassten Flügels innerhalb eines Zirkels. Das Zeichen von Akathen.
Harlow presste die Lippen aufeinander. Er unterdrückte den Drang, sich an sein eigenes Tattoo zu greifen. Griffon und Freya blickten gleichzeitig hoch zu ihm, beide denselben Ausdruck im Gesicht. In den beinahe acht Jahren, in denen sie schon befreundet waren, haben sie das Tattoo bereits mehr als nur einmal zu Gesicht bekommen.
"Es ist exakt dasselbe", stimmte Freya ihrem Kollegen zu, "selbe Farbe, selbes Motiv und Größe. Sogar die Stelle ist dieselbe."
"Ich würde schätzen, dass das Tattoo so vor fünfzehn- vielleicht zwanzig Jahren gestochen wurde", ergänzte Laurie, ohne den Blick von ihrem Schreiben abzuwenden. "Es ...", Harlow fiel nicht einmal eine Ausrede ein, wie sowas zustande kommen konnte. Es konnte einfach nicht sein. Es war unmöglich.
"Aber sie sind alle tot", brachte der Blonde bloß von sich, sein Kopf stetig schüttelnd, "du- ihr wisst, was damals passiert ist. Ihr wart auch da. Es ist alles explodiert, es konnte keiner gerettet werden."
"Keiner außer dir", korrigierte Freya ihn, "vielleicht war er ein ehemaliger Arbeiter? Vielleicht war er am Tag der Explosion nicht anwesend gewesen?"
"Ja", stimmte Griffon ihr zu, "möglicherweise war er krank oder im
Urlaub. Wir konnten nie ausschließen, dass alle aus der Organisation gestorben sind, weil alle Daten über Akathen mit zerstört wurden"
"Was- was kannst du uns noch sagen, Laurie?", fragte Harlow und fuhr sich einmal übers Gesicht, um seine Konzentration nicht zu verlieren.
"Der Schütze hat aus ungefähr sieben Meter Entfernung getroffen. Ein Schuss, präzise ins Herz. Gestorben ist er heute Nacht so ungefähr um zwei Uhr. Aufgrund der Blutlache wird er vermutlich hier erschossen worden sein", ratterte Laurie die Fakten runter, als würde sie aus einem Buch lesen. "Habseligkeiten hatte er noch, ein Überfall war es also nicht", fügte Griffon hinzu und griff nach der blutigen Brieftasche neben dem Opfer, "sein Name war Jeremy Welsh, sagt dir das was?"
Harlow schüttelte verneinend den Kopf. "Ich hab von einem Kollegen auf dem Revier bereits einen Datencheck durchführen lassen. Er war Professor an der Uni hier", erzählte Griffon weiter, "Physik und Geschichte, seit ungefähr sieben Jahren. Er war ledig, keine Kinder. Hat eine kleine Zweizimmerwohnung in der Innenstadt von Chaslow. Vielleicht ist ja jetzt eine Stelle an der Uni für dich frei, Harv", fügte er noch hinzu und hob beschwichtigend die Hände, als er von allen drei um sich böse Blicke einfing. "Professor an der Uni", murmelte Harlow nach, "vielleicht hätte ich ihn früher kennengelernt, wenn ich es wirklich durchgezogen hätte. Dann wäre das hier vielleicht nicht passiert."
"Wer weiß, was passiert ist", entgegnete Freya jedoch, "vielleicht starb er aus ganz anderen Gründen, die nichts mit Akathen zu tun haben."
Akathen. Harlow fuhr es kalt den Rücken runter. Den Namen seiner alten Organisation hatte er bereits ewig nicht mehr laut gehört. Und doch löste es direkt etwas Unangenehmes in ihm aus. Wie ein altes Schauermärchen. Welches jedoch zu Ende war. Und es würde nie wieder kommen.
"Ich halte es für am besten, wenn Laurie und Greg die Leiche in die Pathologie bringen. Währenddessen können wir uns nach Hinweisen umschauen. Die Fabrik ist groß, da werden wir genug zu tun haben",schmiedete Freya einen Plan, Griffon nickte bereits zustimmend. "Den Raum hab ich bereits durchsucht und fotografiert", schilderte Griffon und zeigte um sich, "aber ich konnte absolut nichts finden. Keine Fußabtritte, Blutspuren oder Fasern. Keine Patronenhülsen oder sonst irgendwas."
"Ich bezweifle, dass wir hier was finden werden", sprach Harlow ehrlich aus, "kommt für mich rüber, als hätte der Täter den Ort hier bloß genutzt, um das Opfer schnell und heimlich zu töten. Das Gebäude soll bald abgerissen werden. Der Täter hatte bestimmt gehofft, dass seine Leiche im Schutt verschwindet."
"Wir sollten uns trotzdem umschauen", beharrte Freya jedoch, "man kann nie zu gründlich sein. Die Fabrik hat zwei Stockwerke und einen Keller, jeder nimmt sich einen vor, alles klar? Griffon, geh du in den Keller, ich nehme mir den zweiten Stock vor und Harlow den hier. Falls jemand, was findet, meldet er sich übers Funkgerät", fuhr sie fort und drückte Harlow bereits beim Sprechen ihr zweites Funkgerät in die Hände.
Freya wollte schon an den beiden vorbei, als Griffon jedoch dazwischen ging. "Warte-, wenn er bei derselben Organisation war wie Harlow dann ... war er dann auch so wie er? Ein Bändiger?", fragte er leise seine beiden Freunde, bis Laurie sich aus dem Raum begab, um Greg für den Transport der Leiche zu holen. Ein Bändiger. Diese Bezeichnung nach Jahren wieder zu hören, war mehr als nur befremdlich. Wie ein Bändiger fühlte er sich schon lange nicht mehr. Harlow starrte ein letztes Mal zur Leiche, "wahrscheinlich nicht. Nur die wenigsten Mitglieder waren Bändiger."
"Aber was ist, wenn er wie du ist- war", entgegnete Freya jedoch, "und einfach seinen Fähigkeiten den Rücken gekehrt hat? Gibt es eine Möglichkeit, Bändiger und Mensch zu unterscheiden?"
"Bändiger und Menschen sind in den meisten Fällen so ziemlich identisch", antwortete Harlow, der gar kein Freund von der Differenzierung der beiden Begriffe war, "das einzige, was beide voneinander unterscheidet, ist die übernatürliche Fähigkeit. Sofern Jeremy Welsh keine Fähigkeit besaß, die direkt seine Anatomie beeinflusste, können wir selbst bei der Obduktion keinen Unterschied feststellen."
"Du meinst ihre Fähigkeiten, plural", korrigierte Griffon verwirrt, "du besitzt schließlich zwei von ihnen. Oder ist das nicht normal bei euch?"
Bei euch. Als wären er und Harlow zwei unterschiedliche Spezies. "Nein, uh-", Harlow suchte die richtigen Worte, sein Gewicht verlagerte sich vom einen zum anderen Bein, "für gewöhnlich besitzt ein Bändiger eine Fähigkeit. Mehr als eine ist da eher eine Seltenheit."
"Wow!", entkam es Griffon fasziniert, "du bist wirklich durch und durch ein Glückspilz!" Freya stieß ihrem Kollegen unsanft in die Seite. Griffon räusperte sich verlegen,
"ich meine ... abgesehen davon, dass- na ja ... alle von deinen tot sind."
Freya hielt sich beschämt die Hand vors Gesicht. Harlow presste die Lippen zusammen, "ja, ich bin ein Glückspilz", entkam es ihm wenig überzeugt. Um schnell das Thema zu wechseln, hielt er das Funkgerät hoch, "wollen wir dann?" Freya und Griffon sahen sich beide kurz an und nickten dann zustimmend.
Harlow schüttelte immer noch fassungslos den
Kopf, als er nach und nach die Räume absuchte, Regalschränke durchforstete und unter sämtliche Tische krabbelte. Ein Professor der hiesigen Universität entpuppte sich zugleich auch als ein Engel von Akathen. Unfassbar. Jahrelang war ihm das entgangen, stand dabei stundenlang vor derselben Uni und traute sich nicht den ersten Schritt hinein. Zu sehr geplagt von den Erinnerungen seiner eigenen Akademiezeit.
Lediglich ein geringer Prozentsatz der gesamten Menschheit befand sich unter der Kategorie der Bändiger. Menschen mit der Kraft, übernatürliche Fähigkeiten zu beherrschen. Diese Fähigkeiten reichten von unscheinbaren Merkmalen, wie eine verbesserte Sehleistung, bis hin zu übernatürlichen Naturgewalten. Berichte und Aufzeichnungen von Bändigern reichten bereits Jahrhunderte zurück. Ebenso wie der uralte Konflikt zwischen Bändigern und Menschen.
Daraus entsprang schließlich Akathen. Einst eine private Gesellschaft, in der Bändiger unbekümmert ihre Fähigkeiten ausleben konnten.
Jahrhunderte später wurde daraus die Organisation Akathen, die sich nicht nur auf das Erforschen dieser Kräfte spezialisierte, sondern versuchte, möglichst viele junge Bändiger zu finden, zu unterrichten und bestmöglich in ein Zusammenleben mit dem Rest der Menschheit zu integrieren. Die Engel von Akathen, hatte man die Mitglieder für ihren ehrwürdigen Einsatz genannt. Daher auch das Flügelsymbol, welches Harlow wortwörtlich immer über dem Herzen trug.
Die Integration der Bändiger funktionierte über die Jahrzehnte hinweg so gut, dass ein Großteil der heutigen Menschheit die Bändiger für ein Märchen hielt oder gar nie von ihnen gehört hatte. Akathen wurde nach außen hin zu einem gewöhnlichen Institut für Genforschung.
Zumindest, bis vor acht Jahren alles in die Brüche ging. Bis eine riesige Explosion das gesamte Institut und alles in einem zwei Kilometer Umkreis zertrümmerte. Auch ihr Anführer Caden verlor dabei sein Leben, sowie alle anderen in dem Gebäude auch. Alle, bis auf Harlow zumindest.
Zu verdanken hatte er das einer seiner beiden Fähigkeiten. Der Heilung. Gott, wie lange hatte er sie nun schon nicht mehr verwendet? Seine Telekinese ebenso. Diese einst so nützlichen Lebensgefährten wirkten in seinem jetzigen Leben unter gewöhnlichen Menschen wie verbotene Früchte.
Nach dem plötzlichen Ende von Akathen, hatte Harlow mit weltweitem Chaos gerechnet. Übermächtige Bändiger außer Kontrolle, ohne jemandem, der ihnen Einhalt gebieten konnte.
Doch Totenstille. Als wären mit dem Ende von Akathen auch die restlichen Bändiger verschwunden. Harlow hatte monatelang versucht, jemanden ausfindig zu machen. Alte Kollegen oder ehemalige Mitschüler aus der Akademie. Niemanden konnte er finden und niemand suchte nach ihm.
Die britische Regierung nutzte dies natürlich sofort und machte nicht nur Akathen, sondern gleich die gesamte Existenz der Bändiger zu einem ihrer vielen, wohl-behüteten Geheimnisse. Alles wurde unter den Teppich gekehrt und jeder, der sich für die Existenz des Übernatürlichen aussprach, wurde für verrückt erklärt.
Jahrelang hielt er sich für einen der letzten Bändiger und vor allem für den letzten Engel von Akathen. Aber vielleicht hatte er sich auch geirrt? Wenn einer erfolgreich überleben und jahrelang untertauchen konnte, wieso dann nicht noch andere?
Sofern Jeremy Welsh tatsächlich ein Bändiger gewesen ist. Viel wahrscheinlicher wären wohl eher Freya's Theorien. Ein gewöhnlicher Wissenschaftlicher, der vor Akathen's Zerstörung einen Job als Professor annahm.
Aber was, wenn nicht?
Harlow schüttelte wild mit dem Kopf, um die Gedanken aus seinem Kopf zu bekommen. Selbst wenn, das wäre nicht mehr sein Problem. Er hatte mit diesem Leben abgeschworen. Er war nicht mehr Harlow, der Bändiger. Er war jetzt einfach nur noch Harlow.
Sein Leben bestand nun aus staubigen Architekturbüchern, dem Umsorgen seiner geliebten Pflanzen und dem gelegentlichen Mithelfen bei polizeilichen Ermittlungen. Und dabei würde es auch bleiben.
Ein Satz, der nicht lange anhalten würde.
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