Kapitel 2💫
Viele Jahre später
Harlow war in seinem Leben nie aufgefallen, wie sehr sich die Chaslow University doch an den ikonischen Barock des 17ten Jahrhunderts hielt. Ziemlich detailgetreu sogar, dafür, dass sie im 19ten Jahrhundert gebaut wurde, wo doch gerade hier in Großbritannien der schottische Baroniestil in Mode kam. Besonders von der ausdrucksstarken Form der Fenster konnte er seine Augen gar nicht mehr lösen.
Das war für Harlow so ziemlich die interessanteste Beobachtung seit gut zwei Wochen.
"Lass uns zur Bibliothek fahren", sprach Harlow, der urplötzlich den Drang verspürte, sich über die historische Entwicklung des schottischen Baroniestils zu informieren. Seine gute Freundin Freya, die ungeduldig mit dem Fuß wippte, sah das jedoch etwas anders.
"Garantiert nicht", stellte sie sofort klar, stand sichtlich genervt mit verschränkten Armen neben dem Größeren. Ihre schokobraunen Locken hatte sie zu einem strengen Zopf nach hinten gebunden, wobei sich einzelne Strähnen bereits wieder befreien konnten, "Wir stehen hier seid einer Dreiviertelstunde und du hast bisher nur verträumt in der Gegend herumgeschaut. Du bist so ein Drückeberger, jetzt geh endlich rein!"
"Lieber nicht", kam es schnell von Harlow, der versuchte beim aufkommenden Herbstwind seine gelockten, blonden Haare in Schach zu halten, "ich versuche es morgen nochmal, lass uns lieber gehen."
Diesen Satz hatte er in den vergangenen acht Jahren schon oft von sich gebracht.
Leere Versprechen waren so ziemlich das einzige, was er mittlerweile zustande brachte. Zumindest seitdem das Institut der Organisation Akathen vor acht Jahren mittels einer Explosion dem Erdboden gleichgemacht wurde und die Polizei von Chaslow bei ihrem umfangreichen Einsatz niemanden außer Harlow borgen konnte.
Na ja, lebend borgen konnte.
Als Harlow sich jedoch abwenden wollte, – und dabei fast in einen der Passanten hereinlief –, machte ihm Freya einen Strich durch die Rechnung und zog ihn prompt am Ärmel seines abgenutzten, dunkelbraunen Mantels zurück.
"Nichts da", kam es ausdrücklich zurück, "du redest seit Jahren davon und langsam hab ich es satt. Stell dich doch einfach mal bei ihnen vor und sage, dass du Interesse an einer Professorenstelle hättest. Ein einfaches Kennenlernen, mehr nicht. Du bist doch sonst so charismatisch und aufgeschlossen."
Harlow rieb sich die Hände und stellte seinen Kragen etwas auf, als ihm ein paar verirrte Regentropfen ins Gesicht fielen. Den ganzen Morgen über hatte es schon genieselt und dabei seine Laune nicht unbedingt fröhlicher gestimmt, wobei das in England kein ungewöhnlicher Zustand war. Besonders nicht zur spät-herbstlichen Zeit.
Freya bemerkte Harlow's plötzliche geistige Abwesenheit und pfiff einmal laut. Harlow's Augen huschten wieder zu ihrem Gesicht. Reine, dunkelbraune Haut. Ein rundliches Gesicht und leichtes, präzises Make-up. Ein genervter Blick und nach unten gerichtete Mundwinkel. So wie Harlow sie nun einmal kannte.
"Es ist dein erster freier Tag seit langem. Du bist endlich zum Detective ernannt worden. Wir sollten was Spaßigeres machen", wand Harlow ein, sein Blick huschte wieder zu der monströsen Baukunst vor ihnen. Auf den zweiten Blick war der schottische Baroniestil doch viel besser zu erkennen, als Harlow gedacht hatte. Besonders die Farbe und Form des Daches waren ziemlich-
Freya schlug ihm gegen den Oberarm, "ich verstehe dein Problem einfach nicht, Harlow!", murrte sie verärgert und zog bei der nassen Kälte ihren schwarzen Mantel mehr zusammen. Sie atmete einmal tief ein, "ich will doch einfach nur verstehen, weshalb du dich so anstellst. Ich verstehe nicht, was dich davon abhält. Hast du Angst, dass sie dich nicht mögen?", kam es nochmal ruhiger und bittender von ihr.
Harlow presste die Lippen aufeinander, sein Herz zog sich etwas zusammen, als er ein paar Studenten aus dem großen Gebäudeeingang die Treppen runter stapfen sah. "Ich weiß nicht", gab er schulterzuckend zu, "ich weiß einfach nicht, ob das wirklich das Richtige für mich wäre."
"Natürlich wäre es das", ermutigte Freya ihn und wollte ihm schon auf die Schulter klopfen, als ein Klingeln in ihrer Jackentasche die Atmosphäre unterbrach. Freya seufzte laut, ihr Kopf fiel in den Nacken, wobei ihre dunklen, gelockten Haare von der Schulter fielen. "Das ist bestimmt Griffon, ich gehe kurz ran", sprach sie und fischte bereits nach ihrem Telefon, "aber wir gehen hier nicht eher weg, bist du endlich da rein gegangen bist", waren ihre letzten Worte, bevor sie den Anruf entgegennahm und ein paar Schritte außer Hörweite lief.
Harlow vergrub seine Hände in den Manteltaschen und legte seinen Kopf in den Nacken, um das Universitätsgebäude in voller Gänze betrachten zu können. Seine eigene Zeit auf der Akademie war ewig her, zehn Jahre mittlerweile und wie üblich, war er damals mehr als nur froh gewesen, dass sie ein Ende gefunden hatte. Wobei die Art, wie sie geendet ist, alles andere als üblich war. Wobei man das eigentlich über seine gesamte Schulzeit sagen konnte.
Und obwohl er schon Jahre nicht mehr über diese Zeit nachgedacht hatte - was definitiv gelogen war -, konnte er nicht anders, als sie auch ein klein wenig zu vermissen.
Ja selbst, obwohl er schon längst diese Zeit hinter sich gelassen hatte - was mindestens genauso gelogen war -, schaffte er es einfach nicht, durch diesen äußerst barockischen Türbogen zu laufen.
Dabei war es nicht einmal dieselbe Universität. Nicht einmal dieselbe Stadt. Es war alles anders als damals. Harlow nickte einstimmend zu seinen aufbauenden Gedanken. Es war nichts wie früher. Ein ganz neues Leben.
Jetzt war er kein aufstrebendes Wunderkind mehr.
Jetzt war er kein Bändiger des Übernatürlichen mehr.
Jetzt war er kein Junge mehr, der von der untergehenden Sonne geküsst war.
Jetzt war er einfach nur Harlow, der Überlebende. Der letzte Überlebende.
Harlow atmete tief durch, Freya ein paar Meter weiter, nahm das Telefon vom Ohr und steckte es wieder in die Tasche. "Ich tue es", sprach Harlow feierlich und kam der Kleineren entgegen. Erneut sah seine gute Freundin Freya das etwas anders.
"Tut mir echt leid", waren ihre ersten Worte nach dem Telefonat, ihr Gesicht zu einer Mischung aus Unbehagen und Mitleid verzogen, "aber wir müssen leider gehen. Es war wirklich Griffon. Er ist beim Streifendienst zwei Jugendlichen begegnet, die eine Leiche gefunden haben."
"Na und?", fragte Harlow verwirrt, "du hast immer noch frei. Du bist nicht Chaslow's einziger Detective Inspector."
"Nun ja, im Moment leider schon. Johnson können sie nicht erreichen und Lechster hat gut 1,0 Promille intus", korrigierte Freya ihn, "und es geht nicht nur um mich, sondern auch um dich. Griffon hat dich auch angefordert."
Harlow riss überrascht seine Augen auf, "was, wieso? Ich helfe nur aus, wenn ihr nicht weiter wisst."
"Ich weiß", Freya war erstaunlich ruhig und gefasst. Wie immer, wenn sie mit Zeugen sprach. Oder Angehörigen. Harlow's Herz setzte kurz aus. Immerhin konnte es keinen mehr geben, für den Harlow als Angehöriger zähen könnte.
"Griffon hat ein Tattoo auf der Leiche erkannt", fuhr Freya vorsichtig fort, "es ist dasselbe wie deins. Das Zeichen von Akathen."
"Das kann nicht sein, Freya und das weißt du", erwiderte Harlow ungläubig. Aus Instinkt fuhr er sich mit der Hand über die linke Brust, wo sich das verblichene Tattoo befand, "du weißt, dass sie tot sind. Es hat niemand vor acht Jahren überlebt, das weißt du. Du warst an der Unfallstelle, genau wie Griffon. Er muss es verwechselt haben." Es gab gar keine andere Möglichkeit.
Diesmal zuckte Freya mit den Schultern, "er klang sehr sicher. Und auch sehr nervös. Wir sollten nachschauen, zur Sicherheit." Harlow nickte schwer schluckend, seine Gedanken rasten ihm den ganzen Weg über durch den Kopf. Es konnte nicht sein. Griffon musste sich irren. Aber was, wenn nicht?
Acht lange Jahre war das Ganze nun schon her. Acht Jahre, in der er seine Vergangenheit hinter sich lassen konnte. Acht Jahre, in denen er nicht nur Akathen, sondern seine gesamte Existenz als Bändiger hinter sich gelassen hatte.
Harlow wurde übel. Selbst der schottische Baroniestil konnte ihn diesmal nicht von seinen Gedanken ablenken.
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