Kapitel 99


Ein Gefühl von Übelkeit senkt sich wie ein schwerer Stein in meinen Magen. Mein Körper fühlt sich schwer an und ich muss mich dazu zwingen mit meiner freien Hand auf die Türklingel zu drücken. Mit der anderen Hand halte ich seinen Hoodie fest umklammert, während mein Blick kurz über meinen gepackten Koffer schweift. Ich will es so schnell über mich bringen, wie ich nur kann.

Die Tür wird plötzlich aufgerissen. Erleichterung durchflutet mich, als ich Cailean vor mir erblicke. Auf seinem Gesicht liegt ein Grinsen.

„Ella!", ruft er freudig aus. „Weißt du, woher ich wusste, dass du vor der Tür stehst? Fin hat gesagt ich muss immer durch den Türschlitz gucken, wenn ich die Tür öffne, damit kein böser Mann oder keine böse Frau in unser Haus kommt und dann hab ich dich gesehen!", kichert er.

„Das ist sehr vernünftig", sage ich mit einem Lächeln, was ein wenig gezwungen wirkt, während sich ein schmerzendes Gefühl durch mich hindurch frisst.

Ich war immer noch mitgenommen von der Trennung von Aiden, aber das hier würde mir endgültig mein Herz herausreißen. Aber es war wichtig.

Ich hatte Finlay damals genug geliebt, um ihn gehen zu lassen und jetzt musste ich lernen mir selbst diese Liebe entgegenzubringen, für mich selbst einzustehen, um zu gehen. Das erste Mal in meinem Leben würde ich mich alleine an erster Stelle stellen. Und niemand anderen. Ich brauchte Zeit für mich. Die letzten 15 Jahre hatte ich fast konstant in einer Beziehung verbracht, ich wusste nicht mal mehr, wie es war alleine zu leben. Verdammt in den letzten drei Jahren hatte ich fast jeden Tag mit einem solchen Schmerz in meinem Herzen verbracht, ich war mir nicht mal mehr sicher, wie es war ohne ihn zu leben.

Obwohl Schottland in den letzten fünf Jahren zu meiner Heimat geworden war, tat es mir einfach nicht mehr gut. Es war getränkt mit schmerzvollen Erinnerungen von Verlust und gebrochenem Herzen. Von Wut und Verzweiflung. Ich musste raus. Ich musste nach Hause. Zu meinem wirklichen Zuhause. Und das war, wo ich noch heute hinfliegen würde.

„Tust du mir einen Gefallen Cai?", meine Stimme zittert ein wenig, doch Cailean ist zu jung um es zu erkennen. „Kannst du Finlay den hier geben?", ich strecke meine Hand mit dem Pullover aus und halte ihm ihn entgegen.

„Warum gibst du ihm ihn nicht selber?", fragt mich Cailean laut und neugierig, während er seine Nase rümpft.

„Aye, warum gibst du ihn mir nicht selber?"

Mein Herz stockt für einen kurzen Moment, als ich seine dunkle Stimme höre. Sie vibriert durch meinen Körper und verursacht ein Kribbeln auf meiner Haut.

Meine Augen sind leicht aufgerissen, als ich sehe, wie er neben Cailean in der Tür erscheint. Er trägt einen schwarz- weißen Hoodie mit Flanellmuster, darunter ein weißes Shirt. Für einen kurzen Moment schmeißt mich die Tatsache, dass er ein weißes Shirt trägt vollkommen aus der Bahn. Es ist ein solcher Kontrast zu seinen braunen Augen, dass mein Atem für einen kurzen Moment in meiner Brust stockt.

Er ist so schön, ich kann meine Augen kaum von ihm lösen. Ich schlucke, als eine Welle Emotionen mich überrollt und mit sich reißt. Ein Prickeln liegt in der Luft und plötzlich ist es wieder da. Dieses Gefühl, das immer da ist, wenn er einen Raum betritt oder in der Nähe von mir ist. Ich weiß, dass ich ihn liebe. Seine dunkle Seite, seine Gefühlsschwankungen, seine warmen Augen, die Art und Weise, wie er mich anblickt. Wenn er da ist, ist er alles was ich sehe und ich weiß, dass ich wahrscheinlich nie wieder einen Mann mit derselben Intensität lieben werde, wie ihn. Aber trotzdem musste ich ihn gehen lassen. Manchmal musste man sich dazu entscheiden etwas loszulassen was einem weh tat. Nicht weil man über es hinweg war, sondern weil wenn man daran festhielt es einen davon abhielt zu heilen. Und das war Etwas, was man für sich selbst tun musste.

Ich löse meinen Blick von ihm, versuche diese verdammte Anziehung zwischen uns zu durchbrechen.

„Ella was machst du hier?", fragt er mich plötzlich eindringlich.

Ich sehe, wie seine Augen plötzlich auf meinen Koffer fallen. Ich bin mir nicht sicher, ob er erkennt, dass es ein Koffer ist, der neben mir ist.

„Ich...", meine Stimme bleibt in meiner Kehle stecken.

„Ist das ein Koffer neben dir ?", höre ich seine Stimme fragen.

Ich nicke und schlucke.

„Cai...", höre ich ihn plötzlich sagen.

Ich beobachte, wie er sich zu Cailean runterbeugt. „Wenn du Lust hast kannst du ein bisschen WII in deinem Zimmer spielen."

„AUJA!", ruft Cailean aus, dreht sich blitzschnell um und rennt in das Haus. Aber nicht ohne mir noch einmal über seine Schulter hinweg zu zuschreien. „Tschüss Ella! Bis morgen oder übermorgen!" er winkt mir zum Abschied zu.

Ein Stich fährt durch meine Brust und mein Herz sackt schwer in sich zusammen.

„Ella, wohin willst du ?", Finlay's Stimme dringt nun eine Spur tiefer zu mir, seine braunen Augen komplett auf mich gerichtet.

Sein Gesicht ist wie ein offenes Buch, als er mich nun anblickt. Mein Herz stockt für einen Moment, als ich Sehnsucht in seinen Augen erkenne.

„Ich fliege nach Hause", meine Stimme ist ein kaum vernehmbares Flüstern.

„Schottland ist dein Zuhause", antwortet er, seine Augen bohren sich immer noch in meine.

Mein Herz dröhnt laut in meiner Brust, vermischt mit Übelkeit, die sich in meiner Magengrube ausbreitet.

Ich schüttele meinen Kopf. „Nein...", ich beiße mir auf die Lippe, die nun zittert.

„Schottland...Schottland war nie wirklich mein Zuhause", flüstere ich.

„Bullshit!", höre ich Finlay ausrufen, sein Blick löst sich von mir und plötzlich stalkst er auf mich zu.

In zwei Schritten ist er bei mir angekommen. Erschrocken ziehe ich die Luft ein, als er vor mir zum Stehen kommt. Es war etwas Anderes unsere Anziehungskraft zu durchbrechen, wenn ich ein paar Meter von ihm entfernt stand, aber nicht, wenn er mir so nah war.

„Sweetheart, Schottland war dein Zuhause vom ersten Moment, in dem ich dich damals auf der Straße aufgegabelt habe."

Ich habe das Gefühl, wir reden über etwas komplett anderes, als über Schottland. Ich senke meinen Kopf und schüttele meinen Kopf.

„Nein Finlay. Es war nie wirklich mein Zuhause und das wissen wir beide. Ich ...ich muss weg von hier. Weg von diesem Ort. Weg von all dem hier. Mein, mein Herz es ... es kann das einfach nicht mehr. Ich ...ich will einfach nicht mehr. Ich hab einfach keine Kraft mehr. Ich will keine Beziehung mehr.", presse ich mit halb erstickter Stimme hervor. „Und ich will auch nie wieder jemanden so sehr... so sehr", meine Stimme bricht ab, gefolgt von einem Schluchzer, der aus meinem Mund bricht „So sehr lieben, dass ich nicht mehr atmen kann..." meine Stimme bricht ab.

„Und ...und ich will keine Kinder mehr.", den letzten Satz presse ich weinend hervor, mein Herz fühlt sich an, als ob es bluten würde. „Weder mit Aiden, noch mit dir!", rufe ich halb hysterisch aus.

Meine Brust hebt und senkt sich unregelmäßig und mir wird vom Schmerz in meiner Brust ein bisschen schwindelig. Plötzlich spüre ich eine Hand unter meinem Kinn. Sie hebt meinen Kopf, sodass ich in nun in Finlay's Augen blicke. Er hebt seine andere Hand und streicht mir mit seinem Daumen die Tränen unter den Augen weg. Jetzt da meine Tränen weg sind, kann ich den Ausdruck auf seinem Gesicht sehen. Meine Augen werden groß, als ich sehe, wie er mich mit warmen Augen anblickt, ein Ausdruck auf seinem Gesicht, mit dem ich noch nie von einem Menschen angeschaut wurde. Ich hatte einen ähnlichen Gesichtsausdruck nur bei einem Menschen gesehen.

Bei meinem Vater, wenn er meine Mutter anschaute.

Auf einmal greift Finlay nach meinem Nacken. Meine Augen werden so groß, wie Suppenteller.

NEIN!

Ein erschrockener Laut dringt aus meinem Mund, als seine Lippen plötzlich auf meinen landen. Es ist ein kurzer Kuss unsere Lippen berühren sich nur flüchtig, fast wie ein Versprechen. Seine Worte unterstreichen dies noch mal, während er mit seinen Händen mein Gesicht umfasst hält und in meine Augen starrt. „Weißt du warum ich meine Augen nicht von dir lassen kann?", fragt er mich merkwürdig sanft, seine Finger streichen eine Haarsträhne aus meinem Gesicht. „Damit ich mir dein Gesicht einprägen kann, damit es nur noch das Einzige ist, was ich sehe, wenn ich morgens aufwache und wenn ich nachts meine Augen schließe. Damit ich dich in meinem Gedanken küssen kann und dich für immer lieben kann."

Plötzlich löst er sich von mir und macht einen Schritt zurück. Seine Augen blicken nun voller Emotionen in meine, seine Hände wandern zu seinen Haaren. Er greift nach ein paar Strähnen und zieht fast schon ungeduldig an ihnen.

„Geh nicht Ella. Bitte...", seine Stimme bricht ab.

Für einen kurzen Moment hält er inne, so als ob er überlegen müsste. „Ich weiß... ich weiß verdammt nochmal, dass ich der Falsche bin dir das zu sagen Ella sweetheart, aber...bitte hör einfach auf dein Herz. Bitte hör ein allerletztes Mal auf dein Herz und gib uns eine Chance. Eine allerletzte richtige Chance. Ich versprich dir diesmal werde ich dich nicht enttäuschen Ella, ich ...", er stockt und dann schaut er mich plötzlich mit einem so herzzerreißenden Ausdruck an, dass es sich anfühlt als ob man mir mein Herz rausreißt. Seine braunen Augen scheinen fast bis in meine Seele zu blicken. „Ich verspreche, dass ich für dich da sein werde Ella. Immer. Das heißt nicht, dass ich für dich da sein werde, wenn mein Kopf klar ist und ich in der Lage bin dich zu beschützen, dich zum Lachen zu bringen und an deiner Seite zu stehen. Es bedeutet auch nicht, dass ich für dich da bin, wenn es mir gut geht und ich mich wohl fühle dabei dir in deiner Situation zu helfen. Für dich da zu sein bedeutet, dass egal welche Situation auf dich zukommt, egal was hier drin passiert...", er hebt seine Hand und klopft mit seiner geschlossenen Faust auf seinen Kopf. „ Ich verspreche dir ich werde da sein um dir zuzuhören, dich zu unterstützen, dich aufzubauen und werde dir helfen dich besser zu fühlen, wenn du traurig bist. Ich werde dafür sorgen, dass du dich niemals einsam fühlst, egal wie ich mich fühle und was sich in meinem verfickten Kopf abspielt."

Ich kann nicht anders, als bei seinen Worten erneut ins Weinen auszubrechen. In den ganzen letzten Jahren hatte er noch nie so offen mit mir gesprochen. Ich weiß nicht was mir mehr das Herz zerreißt. Sein Anblick, wie er vor mir steht, mit einem solchen Ausdruck in den Augen dass es mir weh tut ihn anzusehen, seine Worte oder die Tatsache, dass ich ihn verlassen würde.

„Fin...", ein herzzerreißender Schluchzer dringt aus meinem Mund. Ich schüttele meinen Kopf und mache einen Schritt zurück. Ich stolpere fast über meine Füße, während ich versuche nach meinem Koffer zu greifen. Ich musste weg. Ich musste verdammt noch mal weg hier, sonst würde er mich wieder mit seinen Worten einlullen. Er würde mein Herz wieder mit seinen dunklen Fäden zu sich ziehen, wie eine Spinne, die mein Herz in ihr Netz spannte. Und dann irgendwann würde er das Netz wieder zerstören, in dem er mein Herz hielt.

„Ich werde auf dich warten Ella.", sagt er plötzlich mit heiser Stimme aber dennoch bestimmend. „Du weißt es zwar noch nicht, aber du wirst meine Frau sein."

Ein wimmernder, schluchzender Laut dringt bei seinen Worten aus meinem Mund und ich schüttele panisch mit dem Kopf. Um es zu verneinen oder mich zu beruhigen ich weiß es nicht wirklich.

Ich würde niemals seine Frau sein. In meinen Träumen vielleicht... aber das Leben war nun mal kein Traum. Das hatten mich die letzten Jahre gelehrt. Die letzten Monate hatten mir gezeigt, dass es eher ein Alptraum war.

Ich hab nicht mal bemerkt, dass ich den Hoodie aus meiner Hand fallen gelassen habe, bis Finlay ihn plötzlich aufhebt und über meinen Kopf hält. Als ob ich eine Puppe wäre, stülpt er mir den Hoodie über den Kopf und sagt „Doch Ella, glaub mir."

Ich hatte den Hoodie schon so lange, aber trotzdem roch er irgendwie immer noch nach ihm. Mittlerweile glaubte ich, dass ich es mir schlicht und einfach einbildete.

„Fin...", weine ich verzweifelt und greife nach dem Saum des Hoodies und will ihn mir wieder über den Kopf ziehen. Doch er hält meine Hände fest.

„Ella.", sagt er schließlich. „Lass ihn einfach an, okay?", seine Stimme klingt fast so verzweifelt wie meine, als er im gleichen Zug meine Hände loslässt und dann einen Schritt zurück macht. Seine Hände wandern in seine Hosentaschen.

„Nimm wenigstens den Camaro", seine Stimme klingt traurig, als er plötzlich seine Hand aus seiner Hosentasche zieht und mir die Schlüssel seines Autos entgegenhält.

Meine Unterlippe zittert, als ich einen Schritt nach vorne mache und versuche ihm nicht in die Augen zu blicken. Plötzlich greift er nach meiner Hand, öffnet meine Handfläche und legt die Schlüssel in sie. Dann schließt er meine Hand und hält für ein paar Sekunden meine geschlossene Hand fest.

„Pass auf dich auf.", seine Worte, ein letztes Flüstern, das an meine Ohren dringt. bevor er meine Hand loslässt, sich umdreht und in sein Haus zurückläuft.

Es erfordert all meine Stärke, hier vor seinem Haus nicht zusammenzubrechen.

Er hatte mich in der schönsten Art und Weise zerstört. Und nun, als er endgültig aus meinem Leben fort war, wusste ich nicht mehr, ob ich alleine in der Lage war mich wieder zusammenzusetzen. 

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