82 | Kleine Ratte

"Nives!", hörte ich meinen Vater, doch meine gesamte Aufmerksamkeit lag auf Ayaz. Ich zog meine Shorts hoch, während er seine Hose schloss. Das Licht im Wohnzimmer ging an. Mein Herz überschlug sich, da ich genau wusste, dass er aufgrund der nicht abgeschlossenen Terassentür sicher in den Garten kommen würde.

"Ich werde ihm sagen, dass du mehr bist, als-"

"Du wirst gar nichts sagen!", unterbrach ich Ayaz und umfasste dabei seine Schultern, um ihm eindringlich in seine dunklen Augen zu sehen. "Hol so viel Luft wie du kannst." Ich sah ihm dabei zu, wie er tief einatmete. Beobachtete seine Augen, die nur mich im Blick hatten. Gemeinsam tauchten wir unter Wasser, sodass alles um uns herum ganz still wurde. Einzig der Regen war hier unten zu hören, der über uns auf die Wasseroberfläche prasselte.

"Nives!" Die Stimme meines Vaters klang so weit entfernt, dass ich sie kaum wahrnahm. Mit geschlossenen Augen spürte ich die Kälte des Wassers am ganzen Körper. Sie jagte mir eine Gänsehaut über meine Arme. Ayaz hielt mich fest an sich, während wir uns unter Wasser drehten und kein Wort sagen konnten. Wir konnten uns nur durch unsere Hände verständigen. Ich legte ihn meine genau auf sein Herz. Spürte seinen schnellen Herzschlag bis in meine Fingerspitzen. Wusste, dass er Angst hatte. Für mich hätte er sich jedoch seiner Angst gestellt. Er war bereit die Konsequenzen zu tragen. Ich auch. Doch nicht heute. Nicht nachdem schon so viele Ereignisse auf den Schultern meines Vaters lasteten.

Die Luft in meinen Lungen ging mir langsam aus. Lange würde ich es nicht mehr durchhalten. Doch ich musste, denn erneut ertönte die Stimme meines Vaters. Er kam näher. Stand vielleicht sogar schon am Rand des Pools. Ich hatte keine Ahnung. Konzentrierte mich nur auf Ayaz, der mir seine Hand sanft auf meine Wange legte. Seine Berührung ließ mich durchhalten. Ich gab mich dieser regnerischen Stille voll und ganz hin. Genoss die Nähe zu ihm, und das mein Verstand wie von selbst abschaltete. Es wer allerdings Ayaz, der uns dieser Atmosphäre im nächsten Moment entriss.

Er tauchte nach oben. Mit einem unangenehmen Ziehen im Magen folgte ich ihm. Kaum aufgetaucht, holte ich mehrere Male tief Luft und sah mich hektisch um. Von meinem Vater fehlte jedoch jede Spur hier draußen in der Dunkelheit.

"Du solltest jetzt gehen", hauchte ich mit schwerer Atmung und kletterte als erste aus dem Wasser. Ayaz tat es mir gleich und ich zögerte nicht, seine Hand in meine zu nehmen und mit ihm durch den Regen zum Ende des Gartens zu laufen. Die nasse Wiese unter meinen Füßen fühlte sich rutschig an, doch ich beeilte mich trotzdem und blieb erst stehen, als wir an dem Baum ankamen, über den Malino, Elio und ich schon so oft abends abhauten.

"Hier wird dich keiner sehen." Meine Augen schweiften auf zu Ayaz, der mit einem Lächeln zu mir herabsah. Er strich eine Strähne meiner durchnässten Haare hinter mein Ohr.

"Du wirst mich nicht mehr los und es wird der Tag kommen, an dem dein Vater das erfahren wird."

"Ich weiß", erwiderte ich ihm leise. Auf meine Zehenspitzen stellend, gab ich ihm einen sanften Kuss, um mich anschließend einige Schritte von ihm zu entfernen. "Dieser Tag ist aber nicht heute."

Ein letztes Lächeln und Ayaz wollte gerade den Baum hochklettern, da hörte ich die Terassentür am anderen Ende des Gartens aufgehen. Mit großen Augen starrte ich Ayaz an, um daraufhin schnellen Schrittes zum Pool zurückzulaufen. Es war allerdings nicht mein Vater, der dort in der düsteren Umgebung stand und sich eine Zigarette anzündete.

"So früh zurück?", fragte ich meinen Onkel Cecilio ganz ruhig, der mich daraufhin von oben bis unten musterte.

"Warst du schwimmen?", wollte er mit einem fiesen Grinsen wissen. In der einen Hand die Zigarette, in der anderen einen Regenschirm. Ich gab ihm keine Antwort und lächelte nur, was ihm Antwort genug war. "Dein Vater sucht dich im ganzen Haus. Ich hoffe, Ayaz ist schon gegangen und nicht noch im Pool?"

Wir beide blickten gleichzeitig neben uns zum Pool, der so dunkel wirkte, dass man niemanden darin erkannt hätte.

"Woher willst du wissen, dass-"

"Ich bitte dich. Tue nicht so, als wäre ich auch nur im Ansatz so naiv wie die anderen hier", unterbrach mein Onkel mich, um anschließend an mir vorbei zum Poolhaus zu laufen. Ich blickte ihm kurz nach, ehe ich durch die Terassentür nach innen lief.

"Ach du liebe Zeit!" Meine Mutter stand in ihrem wunderschönen roten Kleid in der offenen Küche. "Was ist denn mit dir passiert?!" Sie kam mit einem besorgten Ausdruck direkt auf mich zu, wobei ihr Blick an mir herab fiel. Auch ich starrte nach unten und bemerkte erschrocken, dass sich immer noch Ayaz Jacke um meine Schultern befand. Kein Wunder, dass Cecilio es so schnell durchschaut hatte.

"Anatra?! Hast du Nives gesehen?!", hörte ich im nächsten Moment die Stimme meines Vaters aus dem Hausflur. Das Blut gefror mir in den Adern. Wie erstarrt stand ich da, doch meine Mutter reagierte sofort. Sie nahm die Jacke hektisch an sich. Öffnete daraufhin den Backofen hinter sich und stopfte sie hinein, während ich meinen Vater ansah, der gerade ins Wohnzimmer eintrat. "Nives! Ich hab dich überall gesucht!"

"Ich war im Poolhaus", erklärte ich ohne zu zögern, da jedes Zögern ihn zweifeln lassen wurde. "Als ich rein wollte, hörte ich ein Geräusch und bin ausversehen in den Pool gefallen, als ich nachsehen gegangen bin."

"In den Pool gefallen?", fragte er skeptisch nach und kam mir näher. "Wieso bist du überhaupt im Poolhaus gewesen?"

"Einfach so", entkam es mir. Zu meiner Erleichterung war mein Vater niemand, der noch viel nachhakte. Er nickte und wandte sich an meine Mutter, die ihn fragend musterte.

"Wieso bist du hier? Ist was im Club passiert?" Sie trat zu uns, doch mein Vater lächelte sie verliebt an und umfasste ihre Wangen, um ihr einen Kuss aufzuhauchen.

"Habe ich dir heute schon gesagt, wie wunderschön du aussiehst, Anatra?" Ich verdrehte meine Augen und dachte, sie würden sich schnell wieder lösen. Als ich jedoch dabei zusehen musste, wie er seine Hände plötzlich an ihren Schultern herab bis zu ihrem Po gleiten ließ, zog ich eine angewiderte Miene.

"Ich bin dann mal oben", entkam es mir. Ich schüttelte mich, da die beiden mich überhaupt nicht mehr beachteten. Wieso mussten Eltern so widerlich sein? Ja, sie hatten uns gezeugt. Danach war es doch gut! Sie mussten sich nicht in ihrem Alter noch so verhalten wie verliebte Teenies.

____

Es vergingen lange Tage, in denen ich nichts von Ayaz hörte. Schon morgen würde die Weihnachtsfeier sein, die meine Mutter bei uns ausrichtete. Hohe Tiere aus der Politik würden kommen, genau wie der Rest meiner Familie und Freunde meines Vaters. Das interessierte mich jedoch alles Recht wenig. Ich wollte nur endlich etwas von Ayaz hören. Er war sich doch so sicher darüber, meinem Vater alles zu gestehen. Wieso meldete er sich nach diesem Abend im Pool nicht mehr? Wieso hatte er sich Urlaub genommen? Wieso -

"Hast du Malino gesehen?" Elio tauchte in meinem Zimmer auf. Er musterte mich fragend, doch ich lag nur da und starrte an die weiße Decke.

"No", erwiderte ich ihm kurz und knapp. Ich dachte, er würde sicher wieder gehen, doch er kam an mein Bett heran.

"Geht's dir gut?"

"Natürlich geht es mir gut."

"Siehst nicht so aus."

"Willst du mir damit sagen, dass ich scheiße aussehe?"

Mit hochgezogener Augenbraue starrte ich ihn an, doch er schüttelte nur den Kopf, um sich anschließend auf die Bettkante zu setzen. Sein mitfühlender Blick durchbohrte mich. Es störte mich, dass er mich so ansah. Schnell erhob ich mich, um mich neben ihm auf die Kante zu setzen.

"Es geht mir wirklich gut."

"Hast du was von Riziero gehört?" Ich schüttelte auf seine Frage hin den Kopf. Leider hatte ich von niemandem etwas gehört. Weder Riziero, noch Stella, noch Ayaz, noch Orlando. Sie schienen wie vom Erdboden verschluckt. "Meinst du, ihm ist etwas passiert?"

"Glaube ich nicht. Vielleicht hat er Angst vor der Reaktion seiner Eltern. Immerhin hat er einen Unfall gehabt. Wer weiß, ob er betrunken war", erwiderte ich Elio, der daraufhin nachdenklich nickte.

"Ey!", ertönte plötzlich Malinos Stimme, der aufgebracht in mein Zimmer kam. Elio und ich sahen ihn verwirrt an, da er ein dämliches Grinsen auf den Lippen liegen hatte. "Du kriegst richtig Ärger, Nives."

"Was?", fragte ich nach, da wurde sein Grinsen nur noch breiter. Wieso freuten sich kleine Brüder immer, wenn man in die Scheiße geriet.

"Padre wartet unten", meinte Malino, da stand Elio neben mir auf, um auf unseren Bruder zuzulaufen.

"Ich hab dich gesucht. Komm mit." Die beiden verließen mein Zimmer. Ich folgte ihnen und sah ihnen im Flur hinterher. Sie gingen in Elios Zimmer, was mich meine Stirn runzeln ließ. Hatten ausgerechnet die beiden jetzt Geheimnisse vor mir?

Um das herauszufinden, wollte ich ihnen hinterher schleichen, da erschrak ich jedoch, als mich unerwartet jemand im Nacken packte.

"Hör auf!", schrie ich und sah auf, um meinem Vater in seine Augen zu sehen. Er sah scheiße sauer aus und riss mich unsanft mit sich zum Hausflur. "Padre!"

"Kein Wort!", wurde er lauter und ließ meinen Nacken los, um mich am Arm mit sich weiter bis ins Wohnzimmer zu ziehen. Mein Herz klopfte schmerzhaft, doch ich ließ es mir nicht anmerken. Ohne Ausdruck blieb ich vor dem Esstisch stehen, an dem meine Mutter, Antonio und Cecilio saßen. "Ich gebe dir eine verfickte Chance, die Wahrheit zu sagen, bevor ich vollkommen ausflippte!"

"Gino!", mischte meine Mutter sich ein, doch ein Blick von ihm genügte und sie verstummte. Cecilio saß mit einem unbeeindruckten Ausdruck neben mir und sah herab zu der Zeitung vor sich.

"So. Antonio! Wiederhole noch mal, was du eben erzählt hast!"

Sofort schnellte mein Blick zu Toni, der nervös mit seinen Fingern spielte.

"Also. Letzte Woche, da war ein Mann in unserem Garten", erklärte er und ich konnte kaum fassen, was für eine Ratte dieses kleine Mistvieh war.

"Willst du mich verarschen?!", schrie ich und ging einen Schritt auf den Tisch zu. "Du hast sie nicht mehr alle!" Mein Blick schweifte zu meinem Vater. "Padre! Ich bitte dich! Er hat einen Horrorfilm geguckt! Er hat sich das eingebildet!"

"Ich habe mir das nicht eingebildet!", entkam es Toni, den ich fassungslos ins Visier nehmen wollte. Mein Vater riss jedoch meinen Arm herum, woraufhin meine Mutter aufstand.

"War dieser Orlando hier?!", fragte mein Vater wütend nach. Meine Mutter legte ihm ihre Hand auf den Rücken. Trotzdem verschwand der Zorn in seinen Augen nicht.

"Nein! Niemand war hier!"

"Bist du dir sicher?" Seine Stimme bebte, doch ich blieb standhaft und nickte.

"Ich bin mir sicher! Ich war die ganze Zeit alleine!"

"Gut", meinte er plötzlich und ließ mich los. Sein dieses Grinsen verriet aber, dass er noch nicht fertig mit mir war. Er drehte sich zum Flur, um mich ein letztes Mal anzublicken. "Dann sehe ich mir trotzdem die Videos der Überwachungskamera an."

Er lief Richtung Büro, während meine Hände anfingen zu zittern. Meine Panik entstand nicht meinetwegen, sondern wegen Ayaz, den ich nicht mal erreichen konnte.

"Mama", hauchte ich überfordert. Sie starrte genauso panisch meinem Vater hinterher wie ich. Einzig Cecilio blieb gelassen. Er faltete die Zeitung zu und nahm Toni ins Visier.

"Nicht nett deine Schwester du verraten", sprach er ihm zu, doch Antonio zuckte mit den Schultern und sah mich dabei wütend an.

"Es ist nicht nett, dass sie mich nervig nennt", verteidigte er sich und stand anschließend auf, um auch das Wohnzimmer zu verlassen.

"Mama! Du musst Papa-"

"Ganz ruhig", unterbrach Cecilio mich und machte eine Handbewegung, die mir zeigte, ich solle mich neben ihn an dem Tisch setzen. Aufgelöst lief ich auf ihn zu, woraufhin meine Mutter meinem Vater aufgeregt folgte. Ich ließ mich auf dem Stuhl nieder und dachte bereits, eine Katastrophe ausgelöst zu haben. Doch Onkel Cecilio legte mir seine Hand auf meinen Rücken. "Was so alles mit diesen empfindlichen Kameras passieren kann, wenn es regnet und der Wind wild umherweht. Es ist faszinierend."

Irrtiert wandte ich meinen Blick zu ihm. Er grinste und nickte kaum merklich zum Flur. "Dein Vater wird gleich nur schwarz sehen, deswegen ist es umso wichtiger, dass du jetzt ganz ruhig bleibst. Immerhin ist ja nichts passiert. Du warst ja alleine im Garten, oder?"

Ich konnte nicht anders, als ein dankbares Lächeln aufzulegen, auch wenn mir mein Herz bis zum Hals schlug. Tatsächlich kam mein Vater immer noch wütend zurück ins Wohnzimmer.

"Nives! Ich warne dich. Wenn dieser Orlando hier-"

"Wie gesagt, Padre", sprach ich mit fester Stimme. "Ich war die ganze Zeit alleine. Aber ich finde, Antonio schaut zu viele Horrorvideos auf YouTube. Sein Verstand spielt schon verrückt. Vielleicht solltest du ihm ein Medienverbot geben."

Meine Mutter sah mich mahnend an, da sie genau wusste, dass Antonio im Grunde Recht hatte und jetzt ohne Grund bestraft werden würde. Doch sie sagte nichts dazu. Auch mein Vater sagte nichts mehr und wandte sich zum Flur, wo er sofort die Treppen nach oben nahm.

"Ihr beide fühlt euch sicher wie die Könige der Welt", kam es mit einem lächelnden Kopf schütteln meiner Mutter. Cecilio legte mir daraufhin seinen Arm um die Schulter, um ihr triumphierend entgegenzublicken.

"Wir fühlen uns nicht nur so."

Meine Mutter suchte nach seinen Worten auch den Weg nach oben. Vermutlich um zu vermeiden, dass Antonio zu viel Ärger bekommen würde. Ich hingegen blieb neben Cecilio sitzen und dachte kurz an Ayaz, bis das Haustelefon klingelte. Die Haushälterin ging dran und brachte es mir anschließend. Irritiert sah ich zu Cecilio, um dann den Hörer an mein Ohr zu heben.

"Hallo?"

"Nives...", hörte ich Stellas weinerliche Stimme, die sich immer wieder überschlug. Meine Atmung stockte und ich stand auf, um mit dem Telefon am Ohr bis zur Terassentür zu laufen.

"Stella? Was ist los? Was ist passiert?" Erneut hörte ich sie nur schluchzen, doch dann offenbarte sie mir etwas, dass mir beinahe den Boden unter den Füßen weg riss.

"Ich bin schwanger..."

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Noch ein Kapitel 🤭😳😄😄

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