73 | Gesicht

Wir fuhren in Ayaz Wagen durch die Nacht. Mein Fenster war geöffnet, sodass mir der Wind ins Gesicht wehte. Ich genoss die Ruhe, jedoch hatte ich auch das starke Bedürfnis, mit ihm über alles zu sprechen. Allein das schlechte Gewissen, ihm die Waffe entwendet zu haben, brachte mich dazu, mein Gesicht zu ihm zu drehen. Ich musterte ihn schweigend, während er gedankenverloren aus der Windschutzscheibe sah. Er wirkte in sich gekehrt.

"Können wir reden?", hauchte ich leise in die Stille, in der ich nur den Reifen auf dem Asphalt lauschte. Er blickte nicht zu mir, sondern nickte kaum merklich. "Ich hätte deine Waffe nicht nehmen sollen. Zumindest nicht, ohne es dir zu sagen."

"Das mit der Waffe ist mir egal, Nives", meinte er daraufhin. "Ich will nur wissen, warum? Warum hast du sie genommen? Für was hast du sie gebraucht?"

Flüchtig trafen sich unsere Augen, doch ich wich ihm sofort aus. Malino tauchte in meinem Verstand auf. Sein Blick, der leer und kaputt wirkte. Mir wurde so übel bei dieser Erinnerung, dass ich mehrere tiefe Atemzüge machen musste.

"Madrisa", erklärte ich Ayaz die Wahrheit, der daraufhin sofort den Wagen zum Straßenrand lenkte. Er parkte, um sich mit seinem fragenden Ausdruck zu mir zu lehnen. Sanft nahm er mein Kinn, um mich genauer zu betrachten.

"Bitte sag mir nicht, du hast-"

"Ai, no!", wurde ich lauter. Ich wünschte mir jedoch nichts sehnlicher, als dass ich es wirklich selbst gewesen wäre. Meine Mutter hatte Recht. Eine große Schwester sollte ihre kleinen Brüder beschützen. Sie nicht wie Marionetten behandeln und ins eigene Unglück stürzen. Mir wäre es egal gewesen! Ich hätte mit dem Blut an meine Händen leben können ... doch Malino? Die Wahrheit würde ihn umbringen. Zumindest einen Teil von ihm, den ich nicht bereit war, gehen zu lassen. "Ich hab die Waffe Malino gegeben. Er hat es zu Ende gebracht."

"Malino?", vergewisserte sich Ayaz, woraufhin ich mit dem Blick in seine dunklen Augen gewandt nickte.

"Weißt du ... Es juckt mich nicht, was mit ihr passiert ist, Ayaz. Nicht im Geringsten. Sie hat Elio erpresst ... Sie hatte nur aus Hass auf mich vor, meine gesamte Familie zu vernichten. Mein Gewissen ihr gegenüber ist rein! Es geht mir um-"

"Elio", unterbrach mich Ayaz, doch ich schüttelte meinen Kopf, was ihn verwirrt die Stirn runzeln ließ.

"Er ist nicht der Vater des Babys gewesen." 

"Aber wer-" Tränen der Verzweiflung liefen über meine Wange direkt zu Ayaz Fingern, die immer noch um mein Kinn lagen. Er unterbrach sich dabei selbst und zählte gedanklich alles zusammen, um schlagartig tief Luft zu holen. "Sag mir nicht, dass Malino-"

"Doch", entkam es mir unter Tränen. "Genau so ist es! Ich habe meinen eigenen Bruder in seine persönliche Hölle geschickt! Ich habe alles falsch gemacht! Alles, was ich anfasse, endet in einer Katastrophe, doch dieses Mal kann ich nichts mehr rückgängig machen! Ich kann nichts mehr tun!"

Ich traute mich kaum mehr Ayaz in die Augen sehen und schämte mich dafür, mich überhaupt zu schämen. Ich hätte stark sein sollen, genau wie mein Vater, doch auch die Gene meiner Mutter schlummerten in mir. Dadurch wurde mein schlechtes Gewissen immer größer, umso länger ich über den ganzen Mist nachdachte.

"Nicht alles endet in einer Katastrophe, Nives. Wir finden eine Lösung." Immer mehr Tränen bahnten sich den Weg über mein Gesicht. Das Atmen fiel mir schwerer, wobei auch meine Hände begannen zu zittern. Ayaz zog mich zu sich, wodurch ich mein Gesicht in seiner Halsbeuge verstecken konnte. Sanft streichelte er über meinen Rücken, doch ich konnte mich kaum mehr beruhigen. So schwach zu wirken, gerade vor ihm, war mir zuwider. Doch es tat gut, einfach alles rauszulassen. Ich schmiegte mich auf der Suche nach Geborgenheit noch enger an ihn. Krallte meine Fingernägel fest in seinen Rücken, nachdem ich meine Arme um ihn schlang. Sein vertrauter Geruch ummantelte mich. Ich fühlte mich verloren und doch, auf eine Art sicher. Er würde mich nicht in Dunkelheit fallen lassen. Er hielt mich fest, ganz egal welch schrecklicher Mensch ich war.

"Ayaz ... Ich kann nicht nach Hause ... Ich kann Malino nicht ansehen", schluchzte ich, da löste Ayaz sich plötzlich von mir. Er nahm mein Gesicht behutsam in seine Hände. Strich mit seinem Daumen sanft über meine Wangen. Er entfernte die Tränen, die aber stetig weiterliefen. Unsicher blickte ich in seine Augen. "Und du ... Du denkst jetzt bestimmt, ich bin schwach und ein Häufchen Elend. Ich kotze mich selbst an!"

"Niemals", entkam es ihm, wodurch meine Atmung stockte. "Du bist alles andere als schwach. Auch wenn ich anfangs dachte, du wärst verwöhnt und arrogant, zeigst du mir jeden Tag mehr, dass es nicht so ist. Einen Fassade aus Selbstschutz. Dass du diesen Schutz vor mir ablegst, um mir deine echten Gefühle zu zeigen, offenbart mir, wie stark du wirklich bist."

Unsere Augen verloren sich ineinander. Es brachte mir ein trauriges Lächeln, dass er mich trotz allem noch mit solch Worten beschrieb. Er verurteilte mich nicht - doch meine Familie dachte sicher anders darüber. Wehmütig nahm ich mein Gesicht aus seinen Händen, um diese fest in meine zu nehmen.

"Und trotzdem kann ich weder nach Hause, noch abhauen."

"Warum?"

Irrtiert nahm ich ins Visier. "Ich habe dir doch gerade erklärt, warum ich nicht nach Hause kann."

"Das habe ich verstanden", erwiderte er mir. "Ich meinte, warum kannst du nicht abhauen?"

"Sei nicht albern, Ayaz. Mein Vater würde uns töten."

"Einen Tag", forderte er plötzlich. "Lass uns wegfahren bis morgen Abend. Egal wohin, ich fahre. Du musst nur ja sagen."

"Und mein Vater?"

"Der muss uns erstmal finden."

Irritiert musterte ich ihn, während er sich von mir abwandte und den Motor erneut startete. Flüchtig blickte er nochmals zu mir, um anschließend zur Straße zu nicken. "Für dich gehe ich jedes Risiko ein. Es liegt ganz allein in deiner Hand", erklärte er, um daraufhin ein dämliches Grinsen aufzulegen. "Oder hast du etwa Angst?"

"Du solltest Angst haben", erwiderte ich ihm. "Nicht vor meinem Vater, denn so schnell, wie er uns umbringt, merken wir es nicht mal."

"Vor was sollte ich Angst haben Nives?"

"Vor mir", hauchte ich. "Vor mir und meiner Art, alle um mich herum verrückt zu machen."

"Ich komme schon mit einer kleinen, verwöhnten Prinzessin klar. Mach dir darüber keine Gedanken." Obwohl ich so fertig war, schaffte er es, mir ein Lächeln zu entlocken.

"Also, wohin? In ein Hotel? Einfach rumfahren die ganze Nacht? Oder-"

"Ich weiß wohin. Ich zeige dir den Weg."

___

"Hier bin ich immer, wenn mir alles zu viel wird."

Gemeinsam mit Ayaz lief ich genau zu der Hütte am Strand, an der ich schon so oft ganze Nächte lang saß, um über mein Leben nachzudenken.

"Es ist schön hier", sprach Ayaz und legte seine Hand an meinen Rücken, um mich enger an sich zu ziehen. Nebeneinander her traten wir über den Sand, um uns dann auf dem hellen Holz der Hütte niederzulassen. Wir lehnten uns mit den Rücken an die Wand und starrten auf das ruhige Meer hinaus. Alles um uns herum war dunklen. Einzig der Mond erleuchtete alles auf magische Weise. Ayaz legte seinen Arm um meine Schulter, sodass ich mich an seine Schulter schmiegen konnte. Unsere Hände fanden zueinander.

"Riziero ...", hauchte ich schließlich. Dabei sah ich kurz zu Ayaz auf. "Er liegt im Krankenhaus und ich, ich bin so beschäftigt mit mir selbst, dass ich es sogar für kurze Zeit vergessen hatte."

"Aber es geht ihm gut?"

"Ich weiß es nicht." Ich atmete tief durch und beobachtete die Wellen und vor uns. Die frische Brise wehte mir durch die Haare. "Ich hoffe es aber."

"Du hast viel durch gemacht die letzten Stunden. Es ist normal, dass man da einiges vergisst. Morgen können wir zu ihm fahren."

"Wir?" Skeptisch blickte ich Ayaz in seine dunklen Augen, der ein kaum merkliches Lächeln auflegte. "Wieso willst du mit? Machst du dir etwa Sorgen um ihn?"

"Ganz bestimmt nicht", gab Ayaz mir zurück. Er strich mit seinem Finger sanft eine Strähne meiner Haare hinter mein Ohr, um anschließend seine Hand an meine Wange zu legen. "Aber ich sehe dich ungern in seiner Nähe. Lieber bin ich dabei."

"Ai, du bist eifersüchtig... Das ist ja so zuckersüß", amüsierte ich mich, da lachte Ayaz auf.

"Man weiß ja nie, auf welche Gesichter du dich setzt."

Mein Lächeln verflog und ich schlug ihm leicht gegen seinen Arm. Er lachte nur noch weiter, sodass ich aufstand und provokant zu ihm herabsah.

"Wenn du so weiter machst, dann werde ich mich auf jedes Gesicht in Palermo setzen!"

"Versuch es nur. Ich habe genug Magazine zum Nachladen."

Er stand ebenfas auf, um plötzlich meine Hüfte zu umfassen und mich eindringlich zu mustern.

"Du hast mich wirklich an den Punkt gebracht, an dem ich bereit bin, zum Massenmörder zu werden."

"Sexy... Vielleicht stehe ich drauf?"

"Du stehst auf unbändige Eifersucht?"

"Wenn sie von dir kommt, dann ja", grinste ich, woraufhin Ayaz mich schlagartig über seine Schulter schmiss. "Ayaz! Lass mich runter! Bist du verrückt!", quiekte ich und schlug ihm auf den Rücken. "Ayaz!"

Er lief mit mir über den Sand entlang Richtung Wasser, wodurch ich immer heftiger begann zu strampeln.

"Abkühlung gefällig?"

"Du bist so kindisch!", regte ich mich auf, konnte mir aber ein befreiendes Auflachen nicht verkneifen. "Wehe du-" Ich sah unter uns zu Boden und erkannte, dass er seine Schuhe auszog und auch sein Handy neben uns in den Sand fallen ließ. Auch meine Schuhe zog er mir aus. Zumindest versuchte er es. Ich wehrte mich. "Ayaz! Ich warne dich-"

Er hörte überhaupt nicht auf mich und lief mit mir ins Wasser, um mich erst wieder runterzulassen, als er selbst bereits bis zur Hüfte in den Wellen stand. Die Kälte durchzog meinen gesamten Körper, während ich vor Ayaz zum Stehen kam und das Wasser mich immer mehr einnahm.

"Du musst lernen, auch in schwierigen Situationen einen kühlen Kopf zu bewahren, Prinzessin." Ayaz nahm mein Gesicht in seine Hände. Ich zitterte leicht, genoss es jedoch auch aus vollen Zügen. Plötzlich wirkte alles klarer. Die Ruhe und Kälte gaben mir ein gutes Gefühl. Es überschattete meine Angst vor der Zukunft, denn alles woran ich noch denken konnte, war die Gegenwart.

"Und du musst lernen, mich zu küssen, wenn du mir schon so tief in meine Augen siehst", flüsterte ich und stellte mich zeitgleich auf meine Zehenspitzen. Unsere Lippen prallten aufeinander. Voller Leidenschaft, die meinen Körper trotz des Wassers erhitzen ließ. "Du schmeckst nach Salz."

"Du auch", hauchte Ayaz und umfasste meine Taille, um mich enger an sich zu ziehen. Kaum vorstellbar, dass wir die gesamte Zeit über beobachtet wurden.

___

Hey ihr :) sorry dass ihr warten musstet. Vergesst bitte nicht das Sternchen ♥️

Noch ungefähr 5 Kapitel bis zum Showdown, danach geht's in Teil 2 weiter

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