52 | Geburtstag 2

"Verpiss dich!"

Geschockt musste ich dabei zusehen, wie Orlando Riziero so fest von sich stieß, das dieser direkt gegen die Wand neben meiner Tür donnerte. Ich wollte aufstehen! Abhauen! Ihm helfen! - hauptsache irgendwas! Doch ich konnte nur zusehen, wie Orlando Rizieros Hals umfasste und sich wütend vor ihm aufbaute.

"Was habe ich dir gesagt!? Du sollst dich nicht in meine Angelegenheiten einmischen, oder soll ich dir auch noch mal was ins Glas mischen!?"

"Mach's doch nochmal!", wehrte Riziero sich und befreite sich mit einem gekonnten Schritt zur Seite aus Orlandos Griff. "Tausend Mal lieber mir - als ihr! Und jetzt kannst du dich verpissen!"

Riziero öffnete meine Tür und zeigte raus, doch Orlando lachte nur dreckig auf.

"Kleiner Trottel! Denkst du im ernst, du hättest noch eine Chance?!", sprach er abschätzig und sah dabei flüchtig zu mir herüber. "Diese eingebildete Bitch will von ihrem Bodyguard gefickt werden!"

"Halt deine Fresse!", setzte Riziero an und wollte auf Orlando los, doch dieser schubste ihn erneut mit voller Wucht nach hinten und drohte ihm eindringlich.

"Ich habs dir bei deiner scheiß Party schon gesagt! Ein Wort darüber was ich so treibe und sie ist diejenige, die darunter leiden wird!"

"Schon verstanden! Geh einfach!"

Orlando kam noch einmal auf mich zu, wodurch sich mein Magen angewidert zusammenzog. Er beachtete mich jedoch nicht und schnappte nur sein Handy, um daraufhin endlich mein Zimmer zu verlassen. Mein Kopf dröhnte und das nächste, was ich wahrnahm, waren Rizieros warme Augen, die voller Sorge zu mir herabsahen.

"Ganz ruhig. Ich bin hier und ich verspreche dir, dass es dir gleich besser geht. Hörst du mich?"

Ich nickte schwach und spürte Tränen der Wut über meine Wangen laufen. Ich hatte keine Angst mehr vor dieser Situation - zurück blieb in mir nur grenzenloser Hass auf diesen Bastard, während mein Verstand aber überhaupt nicht wahrnehmen konnte, was da genau passiert war. Ich vergaß innerhalb von Sekunden wieder, über das ich überhaupt nachdachte und fühlte mich überfordert.

"Ich hol dir Wasser."

"No", gab ich erschöpft von mir und hob meine Finger an, wodurch ich Rizieros Hosentasche zu fassen bekam. Er stand über mir gelehnt und legte einen fragenden Ausdruck auf. "Nicht gehen."

"Ich bleibe. Ist okay...", flüsterte er fürsorglich und ließ sich vorsichtig neben mir auf der Kante des Bettes nieder. Er musterte mich durchgehend und schien selbst nicht zu wissen, was er tun oder sagen sollte. Als ich dann durch seine Anwesenheit aber wusste, dass ich mich in Sicherheit befand, schloss ich meine schweren Augenlider und atmete mehrere Male tief durch. Mein Körper - so schwach und müde, dass ich es kaum aushielt nicht in den Schlaf abzudriften. Doch ich wollte nicht einschlafen.

Die Zeit verging, ich hatte aber keine Ahnung, ob es nur Sekunden oder Stunden waren, die ich benommen da lag und mich auf meine eigene Atmung konzentrierte. Es kam mir vor, als könnte ich diesem Zustand niemals mehr entkommen, bis ich endlich das Gefühl für meinen Körper langsam wieder fand.

"Nives?"

Meine Augen öffnend, sah ich flehend auf zu Riziero, der seine Hand auf meine Stirn legte und sanft darüber strich.

"Es geht wieder", hauchte ich und wollte mich ganz vorsichtig erheben, da machte er aber plötzlich große Augen und stand  hektisch auf.

"Warte bitte. Ich bringe dir was zu trinken. Steh nicht alleine auf."

Ich nickte und hielt mir meinen dröhenden Kopf, als ich mich nur ganz langsam auf die Bettkante quälte. Meine Augen suchten irgendwas, worauf ich mich konzentrieren konnte und was mir Halt geben würde. Wie von alleine lehnte ich mich nach vorne und öffnete mit zitternden Händen die Schublade meines Schreibtisches, um Ayaz Würfel an mich zu nehmen. Er glitt mir aber leider aus den Fingern und fiel vor mir runter auf den weißen Teppich.

Da alle seine Seiten die Zahl 6 zeigten, legte sich ein trauriges Lächeln auf meine Lippen, als ich ihn unter schwerer Atmung ansah und kaum mehr wusste, was überhaupt passiert war.

"Hier. Pass auf."

Riziero kam zurück in mein Zimmer und reichte mir ein Glas Wasser. Ich wollte es entgegennehmen, doch als Riziero bemerkte, wie stark ich immer noch zitterte, führte er das Glas behutsam an meinen Mund. Ich trank hastig den gesamten Inhalt aus und kam mir wie ausgetrocknet vor.

"Schöner Würfel."

Ich folgte seinem Blick herab und nachdem er das Glas auf meinem Schreibtisch abgestellt hatte, ging er genau vor mir in die Hocke und reichte mir mit einem aufmunternden Lächeln den Würfel.

"Wir sollten zur Polizei."

"Nein", hauchte ich sofort und schüttelte meinen Kopf dabei. Mein Kehlkopf schmerzte etwas und ich umfasste mit einer Hand leicht meinen Hals, um in der anderen den Würfel zu halten. "Die Polizei macht sowieso nichts. Ich werde das alleine regeln."

"Bist du sicher? Ich kann für dich aussagen."

"Ich war mir nie sicherer", flüsterte ich und hörte dabei der Musik zu, die von unten bis hier rauf dröhnte. "Wie lange bist du schon hier? Wie viel Uhr haben wir?"

"Es ist kurz nach 23 Uhr", erwiderte Riziero mir, nachdem er flüchtig auf seine Armbanduhr gesehen hatte. Da ich aber weder alleine sein wollte, noch zurück auf meine Party, musste ich ihn wohl oder übel um einen Gefallen bitten. Auch wenn es mir zuwider war.

"Bist du mit deinem Roller hier?"

"Ja."

"Bring mich hier weg."

Er starrte mich irritiert an und stand dabei auf, um sich nachdenklich in meinem Zimmer umzusehen. Es schien ihm nicht Recht zu sein, doch ich hielt es keine Sekunde länger mehr hier aus.

"Bitte. Es ist nicht weit weg."

"Weißt du wie gefährlich es sein kann, in deinem Zustand auf einen Roller zu steigen?"

"Als wären wir noch nie betrunken gefahren", wiedersprach ich ihm und versuchte ganz langsam aufzustehen, was mir auch ohne seine Hilfe gelang.

"Wo willst du hin? Ins Krankenhaus? Doch zur Polizei?"

"Dahin, wo mich keiner finden kann."

Er stützte mich und führte mich - wenn auch ungewollt, durch den Flur und die Treppen hinab. Eine meiner Hände hielt sich am Geländer fest, während ich die mit dem Würfel durchgehend geschlossen hielt.

Kaum an der Haustür angekommen, machte ich den Wachmännern weis, ich bräuchte nur etwas Ruhe und gleich zurück, was sie auch akzeptierten. Riziero reichte mir seinen Helm und stieg als erster auf. Ich tat es ihm anschließend gleich und hielt mich mit einer Hand an ihm fest, während die andere ruhig auf meinem Schoß lag.

"Willst du nicht lieber wieder rein und dich ausruhen?"

"Fahr einfach und ich sage dir den Weg", wurde ich lauter und atmete die frische Luft tief ein, die mir und meinem Zustand gut tat. Riziero fuhr im nächsten Moment dann endlich langsam los und ich deutete ihm mit meiner freien Hand immer wieder den Weg durch die Dunkelheit Palermos.

Der Fahrtwind kühlte meinen Körper ab und wo ich sonst sicher leicht gefroren hätte, so tat es mir dieses Mal gut. Diese unangenehme Hitze verschwand und selbst mein Verstand schien wieder klar zu werden. Ob die Luft oder die vergangenen Zeit dafür verantwortlich war, wusste ich nicht. Es war mir aber auch egal.

"Da ist es!", rief ich Riziero zu und zeigte auf das Haus, dass ich schon besucht hatte, doch nur selten und meistens mit meiner Mutter zusammen.

Riziero brachte seinen Roller zum Stehen und nachdem ich behutsam abgestiegen war, torkelte ich etwas unsicher nach vorne. Ich zog mir den Helm ab und reichte ihm diesen. Er nahm ihn zwar entgegen, musterte mich aber immer noch besorgt.

"Und ich soll wirklich nicht mitkommen?"

"Er würde dich nicht reinlassen. Wahrscheinlich lässt er mich nicht mal gerne rein", erklärte ich und dachte flüchtig an Orlando, was mir starke Kopfschmerzen verursachte. Ich wollte die Einzelheiten zusammensetzen und nichts von meinem Hass vergessen - doch die Erinnerung trübten und ich konnte mich immer weniger an das Geschehene erinnern.

"Wenn etwas ist, dann ruf mich an."

"Ich hab deine Nummer nicht mehr", entkam es mir, woraufhin Riziero plötzlich traurig wirkte. "Also, mein Handy ist kaputt."

"Achso", entgegnete er mir.

"Ja", sprach ich in die aufkommende Stille und wusste nicht so Recht, wie ich mit ihm umgehen sollte. Er hatte mir so weh getan, mich aber gleichzeitig vor etwas gerettet, dass sehr viel schlimmer hätte ausgehen können. "Ich werde dann mal gehen."

"Mach das."

"Und danke nochmal."

"Nicht dafür."

Er lächelte milde, was ich ihm gleichtat, um mich anschließend zu dem Haus herumzudrehen und darauf zuzulaufen. Hinter mir hörte ich den Roller von Riziero, der sich immer weiter entfernte und holte tief Luft, als ich an der breiten Haustür ankam und die Klingel fest durch drückte.

Es dauerte nicht lange, da ging im Inneren das Licht an und schon öffnete sich die Tür und ich sah in die blauen Augen meines Onkels, der mich für einen Moment entgeistert musterte.

"Nives, was machst du hier?", wollte er wissen und zupfte dabei sein weißes T-Shirt zurecht.

"Ich muss nur kurz abschalten. Darf ich rein?"

"Natürlich", meinte er, doch ich sah ihm ganz genau an, wie unwohl er sich in meiner Gegenwart fühlte. Auch ich benahm mich in seiner Nähe komisch, doch mir fiel kein anderer Ort ein, an den ich hätte flüchten können.

Doch ... Ayaz ... Aber er hatte es verdient, dass ich zu seinem eigenen Schutz Abstand von ihm hielt.

Nur langsam lief ich an Dario vorbei ins Innere und kam nach dem breiten Flur in dem großen, kalten Wohnzimmer an. Hier gab es keinerlei Dekoration. Nur weiße Wände und dunkle Möbel.

"Möchtest du etwas trinken?"

Mein Blick wandte sich zur Seite, wo Dario an der kleinen Kücheninsel stand und sich gerade ein Glas Wasser einschüttete.

"Ein Wasser, danke."

Er nickte und ich ließ mich an seinem runden Esstisch nieder, an welchem er mir gegenüber Platz nahm.

Das Glas schob er ohne etwas zu sagen zu mir herüber und dann wurde es etwas unheimlich. Er starrte mich weiterhin nur schweigend an und auch ich nippte immer wieder nachdenklich an meinem Glas und musterte die düstere Umgebung.

"Schönes Haus."

"Danke."

Ich stieß meine Luft nervös aus und spielte unter dem Tisch mit dem Würfel herum. Als ich ihn dann hoch hob und vor mir auf die dunkle Platte legte, musterte auch Dario ihn.

"Schöner Würfel."

"Danke."

Erneut kehrte absolute Stille ein, in der Dario nur da saß und ich das Ticken einer Uhr hören konnte. Es machte mich immer unruhiger, sodass ich dann widerwillig das unangenehme Schweigen brach.

"Warum bist du alleine, Dario?"

Seine blauen Augen fixierten mich und auch ich musterte ihn neugierig. Da lag so viel Kummer und Schmerz in seinem Ausdruck und genau diese Emotionen, war ich nicht gewohnt. Er war so ganz anders, als der Rest von meiner Familie. Einzig meine Mutter hatte oft den gleichen Blick drauf, wenn ich sie über die Vergangenheit ausfragte.

"Weil es einfacher ist", gab er mir ruhig zurück und trank anschließend einen Schluck seines Wassers. Ich beobachtete ihn dabei und spürte, dass es nicht die Wahrheit war. Da steckte mehr dahinter. Sehr viel mehr.

"Du lügst", sprach ich leise zu ihm herüber, worauf er aber kaum reagierte. Wenn ich ihn so ansah, wurde mir bewusst, dass er sogar besser als Cecilio darin war, sich keinerlei Emotion anmerken zu lassen. Er blieb ganz ruhig, auch wenn ich ihn gerade versuchte zu bedrängen. "Es gab sicher eine Frau in deinem Leben. Jeder hat eine große Liebe."

"Es gab sie, ja", entkam es ihm auf meine Aussage hin und als seine Augen wieder genau auf meine trafen, war es, als würde er durch mich hindurch sehen wollen. "Aber das ist schon lange vorbei."

"Warum?"

"Was warum?"

"Warum ist es vorbei? Ist sie gestorben?", hakte ich weiter nach, da lächelte er gequält und schien kurz in Gedanken versunken, ehe er neu ansetzte.

"Nein, sie lebt und führt ein glückliches Leben."

"Warum nicht mir dir? Warum hat es nicht funktioniert?"

"Ich habe nicht um sie gekämpft, da unsere Familie es nicht akzeptiert hat. Es war also meine Schuld, da ich ihre Liebe aus Feigheit nie wirklich erwidert habe."

"Aber es ist doch normal, dass man sich bei sowas für seine Familie entscheidet, oder?"

"Nein, Nives", wiedersprach er mir. "Glaube mir, könnte ich nur noch ein einziges Mal zurück, dann würde ich alles anders machen. Ich würde kämpfen - jeden Tag, auch wenn alle um mich herum dagegen wären. Du findest die große Liebe nur einmal und jeder, der nicht um sie kämpft, wird es früher oder später bereuen."

"Woher weiß man denn, dass es die große Liebe ist?"

"Ein Blick in ihre Augen genügt, um alles Schlechte zu vergessen. Es ist der Hauch ihres Geruchs, der dich in Geborgenheit hüllt. Das Gefühl, ihr nah sein zu wollen, egal in welcher Situation man sich gerade befindet."

"Das Bedürfnis, seine Hand zu halten, selbst wenn alles andere im Chaos versinkt", fügte ich seinen Worten hinzu, woraufhin er mich mit einem milden Lächeln ansah.

"Hast du eine bestimmte Person im Kopf?"

"Wenn ich jetzt ja sage, petzt du es dann meinem Vater?"

Er lachte kurz auf, doch ich hörte den Schmerz selbst in dem Klang seiner Stimme.

"Keine Sorge. Ich bin der letzte Mensch auf dieser Welt, der deinem Vater irgendwas erzählen würde."

"Dann ja. Es gibt eine bestimmte Person", gab ich zu und setzte dabei ein glückliches Schmunzeln auf. "Ich hab nur noch ihn im Kopf und selbst wenn viele Menschen um mich sind, fühle ich mich ohne ihn einsam ... Das Problem bin aber ich. Ich und meine Art, mit ihm umzugehen."

"Wenn du ihn wirklich magst, dann wirst du sicher einen Weg finden, auch in den schlechten Moment gut mit ihm umzugehen."

"Und trotzdem würde Padre es nie zulassen..."

"Nives", sprach Dario eindringlich und fixierte mich erneut mit diesem blau seiner Augen. "Wenn du dir sicher bist, dass er es wert ist, ihn kennen zu lernen und Zeit mit ihm zu verbringen, dann tu es - denn wenn du es später bereuen wirst, wird es nicht dein Vater sein, der unglücklich und alleine in einem großen Haus sitzt."

Ich ließ mir seine Worte durch den Kopf gehen und hatte schlagartig das Bedürfnis, sofort zu Ayaz zu fahren. Mein Onkel hatte Recht. Nicht mein Vater würde es bereuen - sondern ich. Selbst wenn es nicht klappen sollte zwischen mir und Ayaz, dann musste es mein Vater ja gar nicht erst erfahren. Es ging aber darum, uns wenigstens die Chance einzuräumen, einander kennenzulernen.

"Du musst mich wohin fahren und mir versprechen, dass du niemanden erzählst wo du mich raus lässt."

"Ausnahmsweise", meinte er trocken und wir erhoben und fast zeitgleich vom Tisch. Da mir aber wieder leicht schwindelig wurde, lehnte ich mich an den Stuhl und wartete kurz, ehe ich ihm hinterher lief.

"Du kannst ja doch ganz cool sein."

"Wer sagt denn, dass ich uncool bin?", hakte er nach, doch lächelte im nächsten Moment schon mit hochgezogener Augenbraue. "Ich weiß schon."

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