25 | Wahrheiten
Vollkommen in meinem eigenen Chaos gefangen, lehnte ich mich erneut an den Baum und starrte in Richtung meines Vaters. Natürlich hatte ich Ayaz Worte wahrgenommen, jedoch glaubte ich nicht daran. Mein Vater konnte kein böser Mensch sein. Er war zwar hart, aber auch immer fair - und das schon seit ich denken konnte.
"Sie gehen", flüsterte ich, nachdem ich zugesehen hatte, wie Nunzio und Adamo die Typen vergraben hatten.
"Ich sehe es."
Ayaz stellte sich genau neben mich und wir beobachteten meinen Vater, wie er den anderen voraus zum Wagen zurücklief. Er leuchtete sich den Weg mit seinem Handy und unterhielt sich dabei mit Nunzio. Die beiden lachten laut auf, was mir angesichts dessen, was sie zuvor getan hatten, unwirklich vorkam.
Sie stiegen am Parkplatz angekommen in ihre Autos und fuhren den Weg entlang zurück, wobei ich den Rücklichtern hinterher starrte und versuchte meine Gedanken zu sortieren.
"Wir sollten auch fahren", meinte Ayaz, doch ich schüttelte verneinend den Kopf und sah gedankenverloren zu ihm auf. Er wusste sicher mehr über meinen Vater, als er zugeben wollte. Ich musste es nur schaffen, ihn dazu zu bringen, mir alles offen zu legen.
Gerade, als ich seine Hand in meine nahm und einen Schritt näher auf ihn zuging, entzog er sich mir plötzlich und brachte Abstand zwischen uns. Irrtiert sah ich zu ihm auf.
"Wir sollten aufhören zu spielen. Das alles könnte genau hier enden", entkam es ihm, wodurch ich ihn hier in der Dunkelheit fixierte.
"Also hast du doch Angst vor meinem Vater. Du denkst wirklich, er könnte dich umbringen, nur weil wir uns näher kommen?"
"Er könnte? Er würde es tun", gab er mir zurück und wollte sich abwenden, da hielt ich ihn am Arm zurück. Ich konnte jedoch keine erneuten Fragen stellen, da er mir zuvor kam. "Nives, hör mir ganz genau zu", setzte er an und griff dabei in seine Hosentasche, um mir meinen Slip zu reichen. "Ich habe keine Ahnung, warum ich überhaupt mitgemacht habe, aber das muss aufhören! Du willst mich los werden mit deinen Spielchen?! Gut! Ich gehe lieber freiwillig als mich benutzen zu lassen."
"Ich benutze dich nicht!"
Ich nahm den Slip in meine Hand und sah weiterhin zu ihm auf.
"Achja? Was ist es dann, was du von mir willst?", hakte er nach und ich konnte ihm in dem Moment keine Antwort auf seine Frage geben. Ich wusste es nicht! Ich wollte ihn wirklich nicht mehr verraten, auch wenn ich es früher an diesem Abend noch vorhatte. Das lag jedoch hinter mir und obwohl ich es nicht einsehen wollte, musste ich mir eingestehen, mich in seiner Gegenwart wohl zu fühlen. Dieses Gefühl hatte ich nicht bei vielen Menschen. Im Grunde war ich nur bei Elio ich selbst, der aber oft genug unter meiner hitzigen Art zu leiden drohte.
"Ich weiß es nicht, Ayaz", gab ich ehrlich zu, was ihm wohl schon bewusst war.
"Und genau das ist das Problem, verstehst du das? Ich bin um einiges älter als du und ich habe keine Lust darauf, jeden Tag mit einer neuen Laune von dir fertig zu werden. Ich kenne dich zwei Tage und du machst mich ja jetzt schon verrückt - im guten, wie im schlechten Sinne. Du benimmst dich wie ein kleines Mädchen, dass nicht weiß, was sie will."
Er hatte zwar Recht, jedoch fühlte ich mich schlagartig angegriffen und wollte mich verteidigen. Ich war es nicht gewohnt, dass jemand so mit mir sprach.
"Im schlechten Sinne also?! Dann verpiss dich doch!", blaffte ich ihn an und lief schnellen Schrittes an ihm vorbei. Es tat mir leid, so zu sein, doch ich konnte gar nichts dagegen tun. Wut überkam mich. Wut auf meine Familie - da sie solch große Geheimnisse vor mir hatten. Wut auf Ayaz - der mich fallen ließ, bevor etwas anfangen konnte. Und Wut auf mich selbst, dafür, dass ich überhaupt erst auf die Idee gekommen war, hierher zu fahren.
Ich hoffte beim Laufen durch die Dunkelheit, dass Ayaz doch nochmal ein Gespräch mit mir anfangen würde. Er lief jedoch hinter mir her und sagte kein Wort mehr. Vielleicht war es besser so. Meine Emotionen kochten innerlich über und ich wollte nicht noch mehr Frust an ihm auflassen.
Er stieg auf seine Maschine, während ich den Helm aufsetzte und schon ließ ich mich hinter ihm nieder. Meine Hände legten sich an seine Seite und da bemerkte ich plötzlich, dass mein Slip sich noch in meiner Hand befand. Ich steckte ihn in die Tasche von Ayaz Jackett und ließ meine Gedanken treiben, als wir mit hohem Tempo durch die Nacht fuhren.
Es dauerte nicht lange, da kamen vor vor meiner Villa an und Ayaz parkte am Rand der Straße. Mein Blick fiel zum Pförtner, doch ich gab ihm mit meiner Hand ein Zeichen, dass er noch kurz warten sollte. Anschließend stieg ich ab und zog den Helm aus. Ich reichte ihn Ayaz und sah nachdenklich zu ihm auf.
"Also, bin ich jetzt wieder nur ein Job?", fragte ich ohne mir meine Enttäuschung darüber anmerken zu lassen und er nickte, was mich wieder scheiß wütend machte. Ich wollte schreien, ihn beleidigen und meiner Wut freien Lauf lassen - doch ich schluckte all diese Emotionen herunter. Er war der erste, bei dem ich wirklich versuchte, mich wenigstens etwas zu zügeln.
"Ist vermutlich das Beste", sprach ich dann nur noch und schlüpfte aus seinem Jackett, um ihm auch dieses zu reichen. Er nahm es an und zog es über, um anschließend seine Hände wieder an dem Lenker zu legen.
"Geht es dir gut?"
Er sah mich jetzt doch besorgt an. Wahrscheinlich war er es nicht gewohnt, mich so still zu sehen. Ich lächelte meinen Schmerz weg und tat so, als würde es mir gar nichts ausmachen.
"Natürlich. Es geht mir immer gut."
Ich lief einige Schritte rückwärts und zeigte dabei noch auf das Jackett, während seine Augen fragend auf meinem Gesicht lagen.
"Damit du unser Spiel nicht vergisst."
Er verstand wohl nicht, was ich meinte und starrte irrtiert an sich herunter. Was er anschließend tat, wusste ich nicht, da ich mich herumdrehte und der Pförtner mir sofort das Tor öffnete.
Der Wind umspielte meine Haare und immer schneller werdend lief ich den Kies hoch, um erst an der Haustür kurz inne zu halten. Ich ließ das Thema Ayaz hinter mir und verarbeitete die schönen Stunden mit ihm, um mich dann voll und ganz auf meine Familie zu konzentrieren. Ich ließ mir die Haustür von einem der Wachmänner öffnen und trat ein, um direkt ins Wohnzimmer zu laufen.
"Ich möchte reden", wies ich meine Mutter an, die gemeinsame mit Enzo am Tisch saß. Die beiden tranken Tee und sahen zu mir auf.
"Ist was passiert? Ich hab versucht dich zu erreichen!? Ich dachte, du wolltest-"
"Ja, es ist etwas passiert", unterbrach ich sie und stellte mich direkt vor dem Tisch auf. Mein Blick fiel flüchtig durch die Fensterfront in die Dunkelheit, ehe ich wieder meine Mutter ins Visier nahm. "Wer seid ihr?"
Irritiert blickte meine Mutter zu Enzo, der aber genauso verwirrt über meine Worte schien. Das warme Licht der Lampe ließ seinen karierten Pyjama aus rotem Samt glänzen.
"Wie meinst du das?", fragte meine Mutter nach, da ging plötzlich hinter uns die Haustür auf. Ich drehte mich um und erkannte Onkel Cecilio, der genau auf uns zu kam. Er spürte wohl, dass hier gerade etwas passierte und stellte sich mit einem skeptischen Ausdruck neben mich.
"Wie ich das meine?", wiederholte ich meine Mutter und musterte dabei Ceis Aufmachung. Ich erkannte Dreck an seiner Hose und seine Schuhe sahen genauso verschmutzt aus, wie meine eigenen. Auch ihm fiel das wohl auf, denn er hob sein Gesicht wieder an und setzte einen fragenden Ausdruck auf. "Ich meine damit, dass ich eben grade dabei zugesehen habe, wie Padre drei Männer erschossen hat!"
Alle drei hatten mich ganz genau verstanden, reagierten jedoch vollkommen unterschiedlich auf meine Aussage. Während meine Mutter ihre Augen weit aufriss und geschockt aussah, verschluckte mein Opa sich an seinem Tee. Einzig Cecilio blieb ganz ruhig und schien unbeeindruckt.
"Nives, ich glaube du weißt nicht, wovon du redest!", sprach meine Mutter fast schon panisch und stand dabei auf. Ihre Augen suchten Cecilio, als wusste sie selbst nicht mehr aus der Situation heraus.
"Doch! Weiß ich! Er war auch dabei!"
Ich nickte zu meinem Onkel, den auch Enzo nun ansah. Es kehrte Stille ein. Unangenehme, zereißende Stille, in der meine Mutter immer nervöser wurde und Cecilio regelrecht mit ihren Blicken durchbohrte. Ein stummer Hilfeschrei ihrerseits und er reagierte natürlich darauf! Wie immer!
"Ich war nicht in irgendeinem Wald - nur kurz im Club", entkam es ihm und fassungslos schüttelte ich meinen Kopf.
"Es ist so widerlich, wie ihr mich so dreist im Dunklen stehen lasst!", regte ich mich auf und wandte mich an Cei direkt. "Danke! Danke dafür, dass ich dir anscheinend einen scheiß Wert bin! Gerade dir, der immer von Ehrlichkeit predigt!"
Wütend rannte ich aus dem Wohnzimmer und hoch in mein Zimmer, um mein Handy zu suchen. Ich schnappte es mir und zog noch eine dünne Jacke über, um direkt wieder runter in den Eingangsbereich zu laufen.
"Du gehst jetzt nicht! Wir reden!", hörte ich meine Mutter hinter mir und drehte mich zu ihr.
"Wir reden!?", wiederholte ich ihre Worte und riss dabei mit einer Hand die Haustür neben mir auf. "Ihr lügt doch sowieso nur!"
"Nives!"
Ich rannte die Einfahrt herunter und kaum das ich am Pförtner vorbei war, riss Onkel Cecilio mich am Arm zurück.
"Lass mich los!"
Ich entriss mich ihm, wodurch er einen Schritt zurückwich und seine Hände ergebend anhob.
"Schon gut! Aber ist dir klar, wen du da gerade angesprochen hast!"
"Ja! Meine Mutter, die immer ehrlich zu mir sein sollte! Aber ehrlich ist hier anscheinend keiner mehr!"
Wütend biss ich meine Zähne zusammen und spürte erste Tränen des Zorns in meinen Augen.
"Du willst ehrliche Antworten?! Gut! Dann rede mit mir oder deinem Vater! Nicht mit deiner Mutter! Sie ist ihr Leben lang gewohnt, Dinge lieber auszublenden anstatt sie offen anzusprechen und lieber verschweigt sie Sachen, als zu gefährden, das andere durch ihre Offenbarungen verletzt werden!"
"Sie verheimlicht mir alles und redet sich immer wieder raus und du nimmst sie trotzdem in Schutz! Es ist unglaublich!"
"Weil ich weiß, was sie alles durchgemacht hat, nur damit du ein schönes Leben haben kannst!", wurde er lauter und fixierte mich. "Du hast ja keine Ahnung, was deine Mutter alles ertragen musste! Was sie erlebt hat! Welch Last auf ihren Schultern liegt! Du denkst immer, du müsstest sie unter Druck setzen! Das ändert aber nichts! Rede gefälligst mit mir, wenn du etwas wissen willst!"
Er schien vollkommen aufgebracht und am liebsten wäre ich abgehauen, jedoch wollte ich die Chance für mich nutzen.
"Gut! Gibst du es jetzt zu, dass du im Wald warst?!"
"Ja..."
"Und auch, dass ihr dort Männer erschossen habt?"
"Ja", antwortete er wieder und es erleichterte mich, dass er jetzt so ehrlich zu mir war. Wahrscheinlich wollte er vermeiden, dass ich erneut meine Mutter in die Enge treiben würde.
"Warum habt ihr das getan?"
"Zum Schutz."
"Für mich?"
"Ja."
Ich nickte und holte tief Luft, während Cecilio ruhig da stand und mir aufmerksam zuhörte.
"Habt ihr es schon öfter getan?"
Auf diese Frage gab er mir keine Antwort. Ich wusste aber genau, was er vor hatte. Er gab mir nur so viel von der Wahrheit, dass ich zufrieden sein würde und wollte nicht mehr Preis geben, als er musste. Im Grunde wusste ich jetzt durch ihn nur das, was ich zuvor schon wusste und trotzdem fühlte ich mich besser. Dieser Psychotrick hätte vielleicht bei Malino oder Elio geklappt, doch nicht bei mir. Ich setzte also weiter nach, ging aber in eine andere Richtung.
"Die Medusa, die Mama auf dem Unterleib hat - sie steht für Missbrauch, richtig?"
Er nickte und steckte seine Hände in seine Hosentaschen. Das tat er immer, wenn ihm etwas unangenehm war.
"Wer hat ihr das angetan?"
Er sah flüchtig zur Seite. Ein Zeichen dafür, dass er sich eine Ausrede einfallen lassen wollte und sofort fiel mein Blick herunter auf seine Schuhe. Sie zeigten ebenfalls zur Seite, wenn auch nur leicht. Es war ihm also unangenehm, trotzdem wandte er sein Gesicht wieder auf meines.
"Es gibt einen Grund, wieso du die Familie deiner Mutter nicht kennst - wieso Felice und Jennifer die einzigen sind, die uns besuchen kommen."
"Meinst du-"
"Ihre Familie war krank, Küken."
Fassungslos starrte ich ihn an und erinnerte mich an die ganzen Erzählungen. Es hieß immer, meine Großeltern wären an der Grippe gestorben und es gäbe sonst niemanden außer Felice. Das, was Cecilio hier also behauptete, widerlegte das ganze.
"Ihr Vater hat sie..."
"Ihr Cousin."
Erste Tränen sammelten sich in meinen Augen. Tränen ausgelöst davon, dass meine Mutter mir unendlich leid tat und ebenfalls mein Verhalten ihr gegenüber. Ich hatte sie bedrängt und nicht darüber nachgedacht, dass Elios Worte wahr sein könnten. Das war alles zu viel für mich.
"Ich muss hier weg", erklärte ich Cei und holte mein Handy aus der Jackentasche. "Ich rufe ein Taxi und fahre zu Stella."
Er nickte und akzeptierte meinen Wunsch nach Freiheit zu meiner Erleichterung. So war er aber schon immer. Er ließ einem das Recht, selbst zu entscheiden, wie man mit gewissen Situationen umgehen wollte. Wir standen bis das Taxi kam schweigend voreinander. Wahrscheinlich war jeder in seine Gedanken vertieft und keiner wusste so Recht, was man jetzt noch sagen sollte. Das waren so viele Erkenntnisse, dass ich Zeit brauchte, um alles wirklich zu realisieren.
Das Taxi kam und ich stieg ohne noch etwas zu sagen ein. Cecilio reichte mir noch einige Scheine Geld und schloss meine Tür, um dem Taxi noch kurz nachzusehen. Als wir dann um die nächste Kurve bogen, wurde mir aber klar, dass mein Vater es nicht ruhen lassen würde. Er würde von Cecilio erfahren was ich wusste und mich suchen.
Ich wählte also eine andere Nummer...
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