Kapitel 1 - Ein äußerst geschickter Schachzug
Minerva McGonagall lehnte sich seufzend in ihrem Stuhl zurück, die Augen schwer vor Müdigkeit. Ohne viel Enthusiasmus musterte sie den Berg an Dokumenten und Briefen auf dem Schreibtisch vor sich, der stündlich wuchs und darauf wartete, von ihr bearbeitet zu werden. Als Schulleiterin von Hogwarts gab es wirklich immer etwas für sie zu tun, das hatte sie in den letzten acht Jahren tagtäglich festgestellt, aber aktuell drohte ihr der Stapel an Arbeit wirklich über den Kopf zu wachsen. Denn wieder einmal stand ein neues Schuljahr in Hogwarts bevor und wieder einmal musste sie kurzfristig gleich mehrere frei gewordene Stellen im Lehrerkollegium neu besetzen.
Nun gut, gestand Minerva sich selbst ein, vielleicht hätte sie den Rücktritt von Horace Slughorn kommen sehen müssen. Immerhin hatte ihr dieser schon seit Jahren damit in den Ohren gelegen, einen Nachfolger für den Zaubertrankunterricht zu suchen, damit er selbst in seinen wohlverdienten Ruhestand zurückkehren könnte. Da er dann aber doch Jahr für Jahr in Hogwarts geblieben war, hatte sie nicht damit gerechnet, dass er es dieses Mal wirklich ernst meinte. Aber das war wohl ein Fehler gewesen. Tja, und auch das Ausscheiden von Alois Demby war eigentlich keine große Überraschung, wenn sie jetzt darüber nachdachte – jeder halbwegs vernünftige Zauberer hätte vermutlich die Stelle als Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste an den Nagel gehängt, wenn man ihm einen führenden Posten im Zaubereiministerium angeboten hätte. Trotzdem hatten die beiden Kündigungen sie kalt erwischt, und nun hatte sie den Salat: Bereits in einem knappen Monat würden die Schüler aus den Sommerferien zurückkehren und bis dahin musste unbedingt ein Ersatz für die beiden ehemaligen Kollegen her. Andernfalls würden gleich zwei der wichtigsten Pflichtfächer in Hogwarts für eine Zeit lang ausfallen müssen und Minerva wollte sich nicht einmal ausmalen, welche Beschwerdewelle dies bei den Eltern auslösen würde.
Missmutig starrte sie auf die drei Pergamentbögen vor sich, die Stirn nachdenklich gerunzelt. Das größte Problem war, dass sie bisher kaum Bewerbungen erhalten hatte, die sie ernsthaft in Betracht ziehen konnte. Mundungus Fletcher hatte beispielsweise sein Interesse an der Stelle für Verteidigung gegen die dunklen Künste bekundet, aber eher würde die Hölle zufrieren als das McGonagall diesen kleinen Ganoven einstellte. Ein weiterer Bewerber, dessen Name ihr nicht einmal etwas sagte, hatte laut Unterlagen ein „Mies" im Zaubertränke-UTZ erhalten, bewarb sich aber nichtsdestotrotz auf genau den Posten als Professor für Zaubertränke. Und der Letzte der drei Bewerber – nun, Minerva McGonagall wusste wirklich nicht, ob es eine gute Idee wäre, Draco Malfoy als Lehrer in Hogwarts einzustellen.
Noch einmal seufzte sie tief. Die Sorgenfalten, die ihr Gesicht durchzogen, waren in den letzten acht Jahren deutlich ausgeprägter geworden und manchmal fragte sie sich, ob sie nicht langsam zu alt wurde für diesen Job. Ja, vielleicht war es an der Zeit, dass jemand anderes, jemand jüngeres, den Posten der Schulleitung übernahm. Da sie aber wirklich keine Zeit hatte, auch noch nach einer Nachfolge für sich selbst zu suchen, würde das noch eine Weile warten müssen.
„Albus, wie hast du es nur geschafft, diese Schule am Laufen zu halten?", fragte sie das Portrait des ehemaligen Schulleiters müde. Dies war ein Zeichen ihrer wachsenden Überforderung, denn eigentlich wandte sie sich nur an ihre Vorgänger, wenn es absolut unvermeidbar war. Immerhin handelte es sich dabei nicht um reale Menschen, sondern nur um Abbilder von Verstorbenen, die noch einen letzten Hauch ihrer Persönlichkeit widerspiegelten. Das Portrait von Dumbledore, ihrem ehemaligen Freund und Mentor, wandte ihr das Gesicht zu, während sein Abbild gleichzeitig fortfuhr, an einem langen, orangeroten Schal zu stricken.
„Willst du mein Geheimnis wissen?", fragte der Portrait-Dumbledore sie und Minerva nickte erschöpft. Vielleicht gab es ja wirklich einen ultimativen Tipp, der ihr in dieser vertrackten Situation helfen konnte.
„Zitronendrops", fuhr Dumbledore fort und McGonagall starrte auf das Portrait. „Ohne die Dinger wäre ich schon vor Ewigkeiten verrückt geworden, das sage ich dir. Du solltest es auch mal probieren, diese Bonbons helfen wirklich, einen klaren Geist zu behalten."
Genervt verdrehte Minerva die Augen. Diesen Ratschlag würde sie ganz sicher nicht beherzigen, denn er würde ihr rein gar nichts nützen. Bevor sie sich aber wieder den Bewerbungen vor sich widmen konnte, setzte der Portrait-Dumbledore erneut zum Sprechen an: „Mein zweiter Tipp ist: Manchmal findet man das, was man sucht, an sehr unerwarteten Orten. Nimm zum Beispiel meinen Hut! Auf den bin ich in einem Laden für Scherzartikel gestoßen, als ich eigentlich auf der Suche nach Eidechsenkrallen war. Natürlich hatte ich gar nicht vor, einen neuen Hut zu kaufen, aber das ist ja genau das Schöne, nicht wahr? Wenn wir die Augen offenhalten und uns dem Neuen nicht verschließen, dann stolpern wir zum Teil über Dinge, von denen wir nicht einmal wussten, dass wir sie brauchen, bis wir sie schließlich vor uns sehen. Das Gleiche gilt für Menschen, Minerva: Gib ihnen eine Chance, oder auch eine zweite Chance, und sie werden dich vermutlich überraschen. Und bedenke: Manchmal braucht es nur einen winzigen Schubs in die richtige Richtung, bis sich alles so fügt, wie es sollte."
„Du sagst also, dass ich Draco Malfoy eine Chance geben und ihn einstellen sollte? Ist es das, was du meinst?", fragte Minerva nachdenklich, während sie Dumbledores Ratschlag analysierte.
„Ich sage nur, dass du ihn nicht aufgrund von Vorurteilen vorschnell ablehnen solltest", antwortete Dumbledore ernst.
Minerva nickte abwesend mit dem Kopf, in Gedanken versunken. Vielleicht hatte Albus Recht, vielleicht hatte sie Malfoy voreilig ausgeschlossen. In dem Stapel vor sich suchte sie nach Dracos Unterlagen, um sich seine Bewerbung noch einmal im Detail durchzulesen. Laut ihrer Erinnerung hatte der ehemalige Slytherin sich in seinem Brief für die beiden offenen Stellen gleichzeitig beworben, dabei aber durchscheinen lassen, dass er den Posten in Verteidigung gegen die dunklen Künste bevorzugen würde. Minerva hingegen würde ihm dann doch lieber die andere Stelle geben, schon allein deshalb, weil es vermutlich einen Aufruhr geben würde, wenn die Eltern erfahren sollten, dass ein ehemaliger Todesser ihre Kinder in einem Fach unterrichtete, das einen Zusammenhang zu den dunklen Künsten aufwies. Aber selbst wenn sie Draco Malfoy als Lehrer für Zaubertränke einstellte, fehlte ihr damit immer noch ein weiteres Mitglied im Kollegium. Obwohl...
Eine Idee begann, in ihrem Kopf Gestalt anzunehmen. Sie kannte da jemanden, der sich bestimmt sehr dafür interessieren würde, von Malfoys Bewerbung zu erfahren. Und wenn sie ihre Karten geschickt ausspielte, dann würden sich dadurch eventuell all ihre Probleme auf einen Schlag erledigen.
*****
Harry Potter saß in seinem Büro in der Aurorenzentrale und spielte mit dem Kiel einer Feder, während er gleichzeitig die Berichte zur aktuellen Sicherheitslage in London las. Es war bereits spät und er wusste, dass Ginny zuhause auf ihn wartete, aber auf seinem Schreibtisch stapelten sich die Aufträge und der Papierkram und für Harry hatte der Kampf gegen dunkle Hexen und Zauberer nun mal Vorrang vor so etwas Alltäglichem wie einem gemeinsamen Abendessen. Denn auch acht Jahre nach dem Tod von Voldemort gab es für ihn und die anderen Auroren immer noch genug zu tun - trotz der unermüdlichen Jagd auf die verbliebenen Todesser war es bisher nicht gelungen, alle Anhänger des dunklen Lords unschädlich zu machen. Nein, tatsächlich schien die Todesseraktivität in und um die englische Hauptstadt wieder deutlich anzusteigen, und das machte Harry Sorgen.
Mit gerunzelter Stirn vertiefte er sich weiter in die Zahlen und Mitteilungen vor sich, die neben bekannten Standorten führender Todesser auch Statistiken zu kürzlich erfolgten Angriffen auf Muggel und muggelnahe Zaubererfamilien beinhalteten. Im Vergleich zu den Taten, die in den vorangegangenen Jahren auf das Konto von Todessern gegangen waren, wirkten die letzten Übergriffe erschreckenderweise deutlich organisierter, präziser und effektiver. Und genau das brachte Harry ins Grübeln. Was hatte sich in den letzten Monaten verändert? Wie hatte der schwarze Orden wieder derart an Stärke gewinnen können? Und gab es eventuell sogar einen neuen Anführer, der die Todesser auf einen ähnlich gefährlichen und zerstörerischen Weg lenkte, wie es Voldemort einst getan hatte?
Harry hoffte wirklich, dass dies nicht der Fall war. Er und seine Kollegen arbeiteten bereits jetzt Tag und Nacht daran, den Todessern immer einen Schritt voraus zu sein, um die magische und die nicht-magische Gesellschaft so vor Bedrohungen durch die schwarzen Künste zu schützen. Das Letzte, was sie da gebrauchen konnten war ein neuer „dunkler Lord", der versuchte, sich zum Anführer der magischen Welt aufzuschwingen. Das Problem war allerdings, dass sie momentan absolut im Dunkeln tappten - es mangelte den Auroren einfach an wirklich eindeutigen und brauchbaren Informationen und das machte Harry nur noch nervöser.
Ein hartnäckiges Klopfen riss ihn aus seinen grimmigen Gedanken. Etwas irritiert durch die Störung blickte er sich um, bis er als Quelle des Geräuschs eine kleine Eule ausmachen konnte, die vor der Scheibe seines Fensters ungeduldig darauf wartete, eingelassen zu werden. Sobald Harry das Fenster mithilfe eines Schlenkers seines Zauberstabs öffnete, hüpfte sie hinein und streckte ihm ein Bein entgegen. Harry nahm den dort befestigten Brief und stutzte dann - auf dem roten Wachs, das den Umschlag verschloss, prangte unübersehbar das offizielle Siegel von Hogwarts. Neugierig geworden öffnete er das Wachs mit dem Daumennagel und begann dann, die kurze Nachricht zu lesen, die im Inneren enthalten war.
Lieber Harry,
verzeih die Störung, aber es gibt etwas Wichtiges, was ich gerne mit dir besprechen würde. Hast du heute Abend Zeit, dich mit mir im Eberkopf in Hogsmeade zu treffen? Aberforth würde sein Lokal dafür ausnahmsweise an das Flohnetzwerk anschließen, damit du bei deiner Anreise keine Schwierigkeiten mit den Schutzzaubern hast. Ich weiß, dass das Ganze sehr kurzfristig ist, aber ich hoffe, du kannst es trotzdem einrichten. Schick mir eine Eule, falls du es nicht schaffst, ansonsten erwarte ich dich um 20 Uhr.
Liebe Grüße,
Minerva
Hm, dachte Harry bei sich, es musste wirklich wichtig sein, wenn Minerva sich noch heute Abend mit ihm treffen wollte. Mit einem Blick auf die Uhr - es war gerade kurz nach halb acht - entschied er, dass es für sein Essen mit Ginny sowieso schon zu spät war und er daher auch noch kurz im Eberkopf vorbeischauen konnte, ehe er zum Grimmauldplatz apparierte. Ginny würde zwar sauer sein, aber in letzter Zeit war sie das eh fast jeden Tag. Es würde also kaum einen Unterschied machen, ob er den Umweg über Hogsmeade machte oder nicht. Da es dadurch aber noch später werden würde als üblich und Ginny sich keine Sorgen machen sollte, kritzelte er eine kurze, hastige Nachricht an seine Freundin und verschickte sie mit einem schnellen Wedeln seines Zauberstabs. Das Papier leuchtete kurz auf, bevor es in Flammen aufging und sich auf den Weg zu seiner Empfängerin machte. Mit einem Blick auf das Chaos auf seinem Schreibtisch machte sich Harry dann daran, die verstreut liegenden Papiere etwas zusammenzuschieben, um wenigstens den Anschein von Ordnung herzustellen. Sobald das erledigt war, verließ er sein Büro mit schnellen Schritten in Richtung der Eingangshalle, in der sich die Kamine befanden.
Nur fünfzehn Minuten später landete Harry in einem Wirbel aus Asche im Kamin des Eberkopfs in Hogsmeade. Das Lokal sah genauso schäbig und heruntergekommen aus, wie er es von seinem letzten Besuch in Erinnerung hatte. Kerzenlicht erhellte den dämmrigen Schankraum, der nicht viel mehr war als eine kleine, verdreckte Spelunke. Der Fußboden starrte wie immer vor Schmutz und die vermummten, zwielichtigen Gestalten, die an der Theke herumlungerten hatten garantiert nichts Gutes im Sinn. Harry beschloss jedoch, mögliche illegale Geschäfte heute Abend ausnahmsweise zu ignorieren und machte sich, immer noch hustend, auf die Suche nach Minerva McGonagall. Er entdeckte sie schließlich in einer kleinen Nische am linken Ende der Kneipe, verborgen vor den neugierigen Blicken der anderen Gäste.
„Hallo Minerva! Schön dich zu sehen", begrüßte Harry seine ehemalige Hauslehrerin lächelnd, während er zu ihr an den Tisch trat. Er, Ron und Hermine waren auch nach ihrem Abschluss mit McGonagall in Kontakt geblieben und Harry schätzte sie mittlerweile als gute Freundin.
„Hallo Harry, bitte, setz dich doch. Ich habe gerade schon Butterbier für uns beide bestellt, ich hoffe, das ist okay?"
„Ja natürlich! Du weißt doch, dass ich für Butterbier immer zu haben bin", erwiderte Harry nickend, wobei er sich gleichzeitig auf den etwas schmuddelig wirkenden Stuhl gegenüber sinken ließ. Der Bedienung, die in diesem Moment zu ihnen trat und zwei staubige Flaschen vor ihnen abstellte, warf er dabei ein höfliches Lächeln zu.
„Also dann: Cheers, Harry!", sagte Minerva und prostete ihm mit ihrer Flasche zu.
„Cheers!", antwortete Harry und nahm einen großen Schluck von der erfrischenden Flüssigkeit, ehe er ihren Brief aus seinem Umhang zog. „Deine Nachricht hat sich dringend angehört. Was wolltest du denn mit mir besprechen?", fragte er dann.
„Nun", setzte die Schulleiterin von Hogwarts an, „du weißt ja, dass ich aktuell auf der Suche nach Nachfolgern für Horace Slughorn und Alois Demby bin. Die beiden haben am Ende des letzten Schuljahres ihren Rücktritt verkündet - das hatte ich dir doch mitgeteilt, oder? Wie dem auch sei: Für mich bedeutet das, dass ich auf der Suche nach gleich zwei neuen Professoren bin, die den Unterricht in Zaubertränke und Verteidigung gegen die dunklen Künste übernehmen sollen."
„Ja, das hattest du mir in deinem letzten Brief erzählt", sagte Harry. „Ich kann mir vorstellen, dass das eine schwierige Aufgabe ist, vor allem weil nicht mehr viel Zeit für die Suche bleibt. Aber wie kann ich dir damit helfen, Minerva? Soll ich die Augen offen halten nach möglichen Bewerbern?"
Minerva schüttelte den Kopf. „Nein, das ist nicht der Grund, warum ich dich gebeten hatte, mich zu treffen. Ganz im Gegenteil: Es gibt da einen sehr vielversprechenden Bewerber, den du sogar kennst." An dieser Stelle unterbrach sie sich und Harry hatte fast den Eindruck, dass sie etwas unbehaglich nach Worten suchte. „Was ich dir mitteilen wollte, ist, dass ich mich entschlossen habe, Draco Malfoy die Stelle als Professor für Zaubertränke anzubieten."
Harry, der gerade dabei war, an seinem Butterbier zu nippen, verschluckte sich und hustete heftig. Als er wieder Luft bekam warf er McGonagall einen ungläubigen Blick zu. „Malfoy!", presste er dann hervor, zu entsetzt, um sich darum zu kümmern, die Stimme gesenkt zu halten.
„Ja Harry, Malfoy. Er hat sich auf die beiden offenen Stellen beworben und nach reiflicher Überlegung denke ich, dass er eine gute Wahl für Slughorns Nachfolge ist. Aber natürlich ist mir klar, dass es viele gegenteilige Meinungen hierzu geben wird. Und da ich auch weiß, dass die Auroren Draco und Narcissa Malfoy immer noch überwachen, wollte ich dir persönlich Bescheid geben, bevor du es von anderer Seite erfährst."
Harry starrte die Schulleiterin von Hogwarts fassungslos an. Er konnte nicht glauben, was er da hörte! Von allen Hexen und Zauberern in England wollte sie ausgerechnet Malfoy einstellen?!? Das durfte einfach nicht wahr sein!
„Das kann nicht dein Ernst sein, Minerva! Malfoy...Malfoy war ein Todesser!", brach es schließlich aus ihm heraus.
„Ich weiß, Harry", entgegnete McGonagall, „aber ich habe kaum eine Wahl. Es gibt keine anderen Bewerber mit den notwendigen Qualifikationen und ich benötige dringend Verstärkung für das Kollegium, ansonsten wird das neue Schuljahr in einer Katastrophe enden. Außerdem...Malfoy hat in der Vergangenheit Fehler gemacht, ohne Zweifel. Aber heißt das wirklich, dass er es nicht verdient, eine zweite Chance zu bekommen? Wenn du mich fragst, wäre das nicht fair, allein schon deshalb, weil er sich in den letzten acht Jahren nichts mehr zu Schulden kommen lassen hat."
Harry atmete einmal tief ein und überlegte kurz, ehe er zu einer Antwort ansetzte. „Minerva, nur weil wir ihm keine Verbrechen und keine Verbindungen zu den Todessern nachweisen konnten, heißt das nicht, dass Malfoy wirklich eine weiße Weste hat. Es könnte auch einfach nur bedeuten, dass er schlau genug ist, sich nicht erwischen zu lassen! Du weißt doch genauso gut wie ich, zu was Malfoy schon als Teenager in der Lage war. Er hat es schon mit sechzehn Jahren geschafft, unbemerkt Anschläge auf Dumbledores Leben zu unternehmen, die ausgefeilten Schutzzauber der Schule zu umgehen und Todesser nach Hogwarts zu schleusen! Was glaubst du wohl, was er heute, als Erwachsener, alles anrichten könnte?"
Er wusste, dass er sich immer mehr in Rage redete, aber er konnte sich einfach nicht zurückhalten. „Ich bitte dich, du darfst nicht zulassen, dass Malfoy in Hogwarts unterrichtet! Ich weiß genau, dass das ein Fehler wäre! Ich dürfte dir das eigentlich gar nicht sagen, und Robards wird mir bestimmt richtig Feuer unter dem Kessel machen, wenn er erfährt, dass ich dir vertrauliche Infos weitergeleitet habe, aber...es gab in letzter Zeit wieder vermehrt Angriffe von Todessern. Das Besorgniserregende daran ist, dass die Überfälle mit einem Mal deutlich organisierter wirken, als bisher. Wir konnten noch nicht ermitteln, was diese Veränderung ausgelöst hat, aber Ron und ich befürchten, dass es einen neuen Anführer geben könnte, der die Aktionen innerhalb des schwarzen Ordens besser koordiniert. Und es ist doch ziemlich verdächtig, dass Malfoy sich gerade dann auf eine Position in Hogwarts bewirbt, wenn die Todesser wieder an Macht gewinnen, findest du nicht? Ich wette jedenfalls um fünfzig Galleonen, dass das kein Zufall ist! Ich wette, da steckt ein ausgefeilter Plan dahinter, das muss einfach so sein! Wer weiß, vielleicht will er neue Todesser unter den Schülern rekrutieren, oder Hogwarts von innen heraus unterwandern, oder..."
„Harry", unterbrach Minerva ihn, „ich verstehe deine Einwände ja, und ich werde Malfoy bestimmt nicht blind vertrauen. Aber du hast keine Beweise, die irgendetwas von dem stützen, was du ihm da vorwirfst. Soweit ich weiß, lebt Draco sehr zurückgezogen mit seiner Mutter im Malfoy Manor und hat kaum Kontakt zur Außenwelt. Und du darfst auch nicht vergessen, wie viel wir den Malfoys zu verdanken haben – hätte sich Narcissa am Ende nicht auf unsere Seite geschlagen, dann würdest du heute vermutlich nicht hier sitzen."
„Ja, aber trotzdem", setzte Harry an, doch Minerva schnitt ihm erneut das Wort ab.
„Es tut mir leid, Harry, aber an meiner Entscheidung wird sich nichts ändern. Ich denke, es ist das Richtige, Malfoy diese Chance zu geben. Und wenn er sie wirklich dazu nutzen sollte, die Todesser auf welche Art auch immer zu unterstützen, dann kannst du ihn immer noch festnehmen und nach Askaban verfrachten."
Harry spürte ein Gefühl der Ohnmacht in sich aufsteigen, als er realisierte, dass sie es wirklich ernst meinte. Er konnte einfach nicht begreifen, wie Minerva so blind sein konnte auch nur in Erwägung zu ziehen, Malfoy einzustellen! Und er konnte erst recht nicht akzeptieren, dass Malfoy in Hogwarts einen so einfachen Zugang zu den leicht beeinflussbaren Schülern haben würde. Nein, das durfte einfach nicht sein! Angestrengt dachte er nach: Es musste doch irgendetwas geben, was er tun könnte, irgendetwas, was verhindern würde, dass Malfoy freie Hand in Hogwarts hatte. Und dann fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen.
„Stell mich ein." Die Worte purzelten beinahe aus seinem Mund.
„Wie bitte?"
„Stell mich als Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste ein! Damit schlagen wir zwei Fliegen mit einer Klappe: Du erhältst einen Ersatz für Professor Demby und ich kann Malfoy unauffällig überwachen und herausfinden, was er im Schilde führt", wiederholte Harry seinen Vorschlag entschlossen.
Minerva musterte ihn für einen Moment mit einem forschenden Blick, als würde sie die Ernsthaftigkeit seines Angebots anzweifeln. „Aber was wird Robards dazu sagen? Ich kann mir vorstellen, dass er nicht gerade begeistert sein wird, wenn ich einen seiner besten Auroren abwerbe. Und wenn es wirklich vermehrt Todesserangriffe gegeben hat, braucht er dich doch bestimmt in der Zentrale."
„Nein", winkte Harry ab, obwohl ihm der Gedanke auch schon gekommen war. „Ich denke nicht, dass er ein Problem damit haben wird. Meine Anstellung in Hogwarts wäre ja nur vorübergehend und würde spätestens mit dem nächsten Schuljahr wieder enden. Und wenn ich Recht habe und Malfoy eine Verschwörung plant, dann tue ich uns allen einen größeren Gefallen, wenn ich ihn in Hogwarts im Auge behalte."
Minerva bedachte Harry mit einem weiteren prüfenden Blick, ehe sie zum Sprechen ansetzte. „Nun, wenn du wirklich als Lehrer für Verteidigung gegen die dunklen Künste anfangen willst, dann werde ich garantiert nicht versuchen, dir das auszureden. Immerhin bedeutet das für mich ein Problem weniger. Aber schlaf doch am besten nochmal eine Nacht darüber, ehe du dich final festlegst. Eine solche Entscheidung solltest du nicht übereilt treffen."
Harry nickte, aber er tat es mehr zur Beruhigung seiner ehemaligen Lehrerin und Mentorin. In Wirklichkeit brauchte er keine Bedenkzeit mehr, denn sein Entschluss stand schon längst fest: Er würde nicht tatenlos dabei zusehen, wie Malfoy nach Hogwarts spazierte und dort wer weiß was anrichtete, während Harry in London saß und nichts dagegen tun konnte. Oh nein, wenn Malfoy als Lehrer an der Schule für Hexerei und Zauberei anfing, dann würde er das auch tun, und sei es nur, um ein Auge auf das Frettchen zu haben - oder besser zwei, um ganz sicherzugehen. Ja, Harry war überzeugt davon, dass dies etwas war, was er tun musste, etwas, für das es ganz einfach keine Alternative gab. Jetzt musste er nur noch Ginny davon überzeugen.
*****
Draco Malfoy saß gerade mit seiner Mutter beim morgendlichen Frühstück als ein riesiger grauer Uhu durch ein offenes Fenster in den Salon segelte. Der Vogel drehte eine Runde in dem großzügig geschnittenen Raum, ehe er den Brief, den er in seinem Schnabel trug, mitten auf den massiven Holztisch fallen ließ und in einem großen Bogen wieder hinausflog.
Draco, nicht im Mindesten überrascht, hob als Reaktion nur eine perfekt geschwungene Augenbraue und beugte sich nach vorne, um die Post an sich zu nehmen. Sobald er den Brief allerdings näher inspizierte, fing sein Herz schmerzhaft schnell an zu klopfen – dies war das Schreiben aus Hogwarts, auf das er bereits seit Tagen wartete! Das Schreiben, das entweder eine Antwort auf all seine Gebete sein würde, oder aber – und dies war deutlich wahrscheinlicher – eine weitere herbe Enttäuschung. Wie hypnotisiert starrte er auf das dunkelrote Siegel, ohne sich zu rühren oder die fragenden Blicke seiner Mutter zu beachten. Zu nervös, um den Umschlag vorsichtig zu öffnen, zerriss er das Papier schließlich mit zitternden Fingern und machte sich dann daran, die enthaltene Notiz zu lesen.
Sehr geehrter Mister Malfoy,
vielen Dank für Ihre Bewerbung vom 15. Juli, die sich auf die beiden offenen Lehrstellen in der Hogwarts Schule für Hexerei und Zauberei bezog. Mittlerweile ist der Bewerbungsprozess abgeschlossen und ich freue mich, Ihnen heute eine positive Rückmeldung geben zu können: Sie können ab dem nächsten Schuljahr die Professur für Zaubertränke übernehmen! Falls Sie weiterhin Interesse haben, als Lehrer bei uns anzufangen, schicken Sie mir doch bitte eine kurze Bestätigung per Eule und finden Sie sich am 10. August in meinem Büro ein. Sie werden dann alle weiteren Informationen zu Ihrer Tätigkeit und Ihrem Aufenthalt in Hogwarts erhalten.
Bis dahin verbleibe ich mit freundlichen Grüßen,
Minerva McGonagall
Schulleitung v. Hogwarts
Blinzelnd ließ Draco den Brief sinken. In seinem Kopf herrschte das absolute Chaos, und auch als er den Inhalt der Nachricht erst ein zweites und dann ein drittes Mal durchging konnte er kaum fassen, was dort geschrieben stand. McGonagall wollte ihn tatsächlich einstellen? Als Professor für Zaubertränke?
Ganz kurz durchzuckte ihn ein winziger Stich der Enttäuschung, als ihm klar wurde, dass seine Bewerbung für die Stelle in Verteidigung gegen die dunklen Künste offensichtlich abgelehnt worden war, aber die Frustration wurde fast augenblicklich von einer Welle der Erleichterung verdrängt. Zur Hölle, wen interessierte es schon, welches Fach genau er lehren würde – er hatte endlich einen Job! Und das war die beste Neuigkeit, die er seit langem erhalten hatte.
Narcissa Malfoy, die ihren Sohn bislang wortlos gemustert hatte, beugte sich neugierig in seine Richtung. „Alles in Ordnung, Draco? Ist das eine Antwort auf dein Bewerbungsschreiben?"
Draco nickte zustimmend, immer noch zu überwältigt, um seine Gesichtszüge einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen. „Ja, Mutter. Und ich habe gute Nachrichten: Ich werde die Professur für Zaubertränke in Hogwarts übernehmen!"
„Oh, wundervoll! Herzlichen Glückwunsch, Draco!", rief Narcissa freudestrahlend aus, während sie die Hände zu ihren Wangen hob, die augenblicklich anfingen, vor Aufregung zu glühen. „Bei Salazar, ich bin so stolz auf dich, mein Sohn! Weißt du was? Das müssen wir angemessen feiern – immerhin wirst du bald den Titel eines Professors tragen! Ja...ich werde sofort in die Küche gehen und die Hauselfen anweisen, etwas ganz Besonderes für das Abendessen vorzubereiten. Ach, und sie sollen auch das gute Geschirr heraussuchen, das aus Porzellan mit dem goldenen Rand. Oder meinst du, wir sollten lieber das aus Terrakotta nehmen? Ich werde am besten mal nachsehen, welches von den beiden besser zu den grünen Tischdecken passt!" Weiterhin leise vor sich hin murmelnd eilte sie beschwingt aus dem Salon. Draco schaute ihr kopfschüttelnd nach, aber insgeheim freute er sich über ihre überschäumende Begeisterung. Er wusste, dass Narcissa in den letzten acht Jahren einiges durchgemacht hatte und sie so glücklich zu sehen war dementsprechend eine willkommene Abwechslung.
Mit einer geschmeidigen Bewegung erhob sich Draco aus seinem Stuhl und trat gedankenverloren an das offene Fenster, das auf die Gärten des Malfoy Manor hinausging. Die letzten Jahre waren wirklich alles andere als einfach gewesen, das konnte er nicht bestreiten. Nach der Niederlage des dunklen Lords, die sie dem verdammten Auserwählten zu verdanken hatten, war es für die Malfoys nur noch bergab gegangen, und obwohl Draco den Tod Voldemorts nicht im Geringsten bedauerte, so verfluchte er doch die drastischen Veränderungen, die sich dadurch für seine Familie ergeben hatten. Veränderungen, die, wenn er es Recht bedachte, mal wieder mehr oder weniger Potters Schuld waren – aber das war ja schließlich nichts Neues, nicht wahr?
Von Bitterkeit erfüllt verschränkte Draco die Arme vor seiner Brust. Wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, dann wusste er natürlich, dass sie noch Glück gehabt hatten. Im Gegensatz zu vielen anderen Familien mit Verbindungen zu den Todessern hatte man den Malfoys zu Gute gehalten, welche entscheidende Rolle Narcissa in der Schlacht um Hogwarts gespielt hatte und durch diese mildernden Umstände waren sie und Draco mit einem Freispruch davon gekommen. Nur Lucius Malfoy hatte sich aufgrund der Schwere seiner Schuld für seine zahlreichen Verbrechen verantworten müssen und war lebenslang nach Askaban verbannt worden. Bereits ein Jahr später war er dort verstorben – an einer plötzlichen Drachenpocken-Erkrankung, die trotz einer Behandlung im St. Mungos tödlich verlaufen war. Draco selbst war überraschend gut mit dem Tod seines Vaters klargekommen, vermutlich, weil er nie ein wirklich enges Verhältnis zu ihm gehabt hatte. Wenn überhaupt dann hatte er in den Monaten danach um den fürsorglichen, herzlichen, liebevollen Vater getrauert, der Lucius nie gewesen war. Narcissa hingegen hatte das plötzliche Dahinscheiden ihres Mannes deutlich härter getroffen und auch sieben Jahre später ertappte Draco sie manchmal noch dabei, wie sie über alten Familienfotos in Tränen ausbrach.
Er seufzte tief. Der instabile Zustand seiner Mutter machte ihm Sorgen, vor allem jetzt, da er bald nach Hogwarts umziehen würde und somit kein Auge mehr auf sie haben könnte. Das größte Problem dabei war, dass Narcissa kaum noch andere Sozialkontakte hatte, die sich in seiner Abwesenheit um sie kümmern würden, denn alle ihre alten Freunde und Bekannten hatten sie schon vor Jahren im Stich gelassen. Bei diesem Gedanken konnte Draco ein grimmiges Lächeln nicht unterdrücken. Die Malfoys waren immer so stolz darauf gewesen, eine angesehene Zaubererfamilie mit wichtigen Verbindungen zu sein, aber von dem alten Prestige war nicht mehr viel zu spüren. Seit Lucius Verurteilung und dem Bekanntwerden ihrer engen Kontakte zu den Todessern hatten die meisten einflussreichen Familien der magischen Gemeinschaft angefangen, sie zu schneiden – eine Tatsache, die Draco immer noch als unerträglich empfand. Nicht einmal ihre ehemals engsten Freunde ließen sich noch blicken, und dies lag nicht nur daran, dass einige von ihnen als Anhänger von Lord Voldemort verhaftet und verurteilt worden waren. Nein, der Großteil ihrer alten Verbündeten verachtete die Malfoys für ihren Verrat am dunklen Lord und für die Rolle, die sie in der Schlacht um Hogwarts gespielt hatten und behandelte sie dementsprechend ebenfalls wie Aussätzige.
Müde rieb Draco sich mit einer Hand über die Augen. Es bedrückte ihn, dass er und Narcissa mittlerweile als Außenseiter der magischen Gemeinschaft galten, aber fast noch schlimmer war, dass sie mit dem Status auch einen erheblichen Teil ihres Vermögens eingebüßt hatten. Alle schwarzmagischen Artefakte und damit zusammenhängende Geldwerte waren direkt nach Lucius Verhaftung von der Abteilung für Magische Strafverfolgung beschlagnahmt worden und diese Razzia hatte ihren Besitz wirklich empfindlich dezimiert. Die Malfoyschen Mittel hatten trotzdem ausgereicht, um die letzten acht Jahre einigermaßen gut leben zu können, aber langsam neigte sich auch das verbliebene Vermögen dem Ende zu. Draco war daher gezwungen gewesen, sich nach einer Arbeitsstelle umzusehen, und das allein hatte seinem Stolz schon einen ganz schönen Dämpfer versetzt. Zudem hatte sich die Suche als schwieriger gestaltet, als gedacht, auch wenn Draco sich das nur ungern eingestand. Bislang war eine Absage nach der anderen zurückgekommen, weshalb er sich auch für die Bewerbung in Hogwarts kaum Chancen ausgerechnet hatte. Umso erleichterter war er heute über McGonagalls Zusage und er hoffte aus ganzem Herzen, dass es für ihn und seine Familie ab jetzt wieder bergauf gehen würde.
Mit einem weiteren Blick auf den Garten nahm Draco einen tiefen Atemzug, wobei er abwesend mit einer Hand durch seine sorgsam zurechtgemachten Haare fuhr. Trotz des kleinen Schimmers an Hoffnung, den er bei dem Gedanken an seinen neuen Job verspürte, nistete sich mehr und mehr ein Gefühl nervöser Anspannung in seinem Magen ein, das sich nicht vertreiben ließ. Der Grund hierfür war leicht zu erraten: Natürlich wusste Draco, dass seine Anstellung in Hogwarts einigen Unmut unter den Eltern und Lehrern auslösen würde. Er erwartete daher keineswegs, mit offenen Armen empfangen zu werden. Verdammt, er selbst war ja nicht einmal Hundert Prozent sicher, dass seine Rückkehr eine gute Idee war - in seiner alten Schule warteten einige sehr unangenehme Erinnerungen auf ihn und er war eigentlich nicht gerade scharf darauf, sich den Dämonen und Fehlern seiner Vergangenheit zu stellen. Nein, darauf könnte er wirklich gut verzichten! So wie es aussah hatte er aber kaum eine andere Wahl: Wenn er nicht in einigen Monaten obdachlos werden wollte, würde er wohl oder übel die Chance ergreifen und in Hogwarts als Lehrer für Zaubertränke anfangen müssen.
Draco seufzte erneut, bevor sich seine Lippen zu einem schiefen Lächeln verzogen. Nun, einen kleinen Lichtblick gab es immerhin. Denn egal, welche Probleme und Schwierigkeiten auch in Hogwarts auf ihn warteten: Er würde damit fertig werden. Und dieses Mal - nur dieses eine Mal - würde er sich dabei wenigstens nicht mit dem verdammten Sankt Potter herumschlagen müssen.
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