9
»Bist du wahnsinnig?«, schrie Nathan mich an. Wir standen auf dem Feldweg zwischen Maisfeld und Hügel. Die anderen Jungs waren bestens gelaunt zum Partytreiben zurückgekehrt. Nur Nathan war scheinbar nicht mehr nach Feiern zumute.
»Vielleicht«, sagte ich leise und vollkommen ernst gemeint.
»Du findest das ganze einfach nur lustig!«, erwiderte er laut und eher zu sich selbst. Zumindest fühlte ich mich nicht angesprochen. Am liebsten hätte ich mich einfach umgedreht und wäre nach Hause gegangen. Aber ich wollte diese Sache mit ihm erst regeln.
Ich nahm einen Schluck aus dem Glas, das ich aus der Bank noch mitgenommen hatte, als Nathans Augen so wütend funkelten, dass ich zu Boden blickte, wie ein eingeschüchtertes Kleinkind.
»Das alles ist viel gefährlicher, als du denkst«, meinte er nun.
»Hör auf«, sagte ich leise.
»Du hättest ihnen nicht vertrauen dürfen.«
»Hör auf.«
»Sie sind gefährlich. Das alles hier ist gefährlich...«
»Hör auf!«, schrie ich ihn an.
Er schien verblüfft von meinem plötzlichen Ausbruch und zuckte tatsächlich zusammen.
»Hör auf, mir zu sagen was richtig und was falsch ist. Hör auf, mir zu sagen, wem ich vertrauen kann und wem nicht!« Seine Brust bebte, als er durchatmete.
»Ich kann das alles selber entscheiden und außerdem kenne ich dich nicht«, schloss ich leiser.
»Aber ich kenne die Jungs, denen du gerade blind vertraut hast. Mehr vertraust als mir.« Ich wollte etwas erwidern, aber sein zittriges Atmen ließ mich warten.
»Vielleicht würde ich dich aber gerne kennenlernen.« Mit jedem Wort, das er sprach schien seine Wut zu wachsen, wobei er die Stimme gesenkt hatte. »Würde mit dir ganz neu anfangen ohne Dämonen oder Superkräfte.« Er kam einen Schritt auf mich zu und sah mir tief in die Augen. So, als wollte er mich küssen. Doch er tat es nicht.
»Ich würde dich ins Kino einladen. Mir mit dir einen kitschigen Film ansehen, auf den ich mich die ganze Zeit nicht konzentrieren könnte, weil du das einzige bist, über das ich nachdenken kann. Ich könnte meinen Blick nicht zur Leinwand wenden, sondern würde nur dich ansehen. Aber ich fänd es nicht schade. Erstens, weil der Film wahrscheinlich ohnehin langweilig wäre und zweitens...« Er seufzte leise.
»Weil ich gerne an dich denke und dich gerne ansehe. Mir gerne Hoffnungen machen, dass wir uns Küssen, weil du dich vielleicht auch nicht auf den Film konzentrieren kannst.« Nun strich er mir mit seiner Hand über die Wange. Aus irgendeinem Grund war ich den Tränen nahe. Vielleicht, weil er mir gerade all das erzählte, was ich hätte haben können. Es war die Sehnsucht nach etwas, das ich mir nicht vorstellen konnte zu haben.
»Dann würde ich mit dir in den Park gehen und über Gott und die Welt reden. Ich würde erfahren, was du für ein Mensch bist.« Er lächelte traurig und fuhr die Konturen meiner Lippen nach. »Aber stattdessen werden wir uns in alten Kellergewölben treffen und bei ‚romantischem Kerzenschein' unsere Hände aufschlitzen. Dann werden wir diese Zeremonien immer bei Gewitter durchführen und immer das Gleiche tun, bis wir wissen, wie es weiter gehen kann.« Er nahm seine Hand wieder runter und wich etwas zurück. Sein lieber Gesichtsausruck war wie wegradiert.
»Wir werden unsere Nächte nicht küssend vor einer Haustüre verbringen, im Schmerz, die Nacht nicht ohne einander überstehen zu können. Sondern ängstlich auf einem Friedhof, um nach Hinweisen zu suchen, wie wir alle dem Tod entkommen können.« Er bemerkte meine geweiteten Augen. »Du hattest keine Ahnung, worauf du dich da eben eingelassen hast«, flüsterte er.
»Du hattest keine Ahnung!« Sein plötzlicher Schrei ließ mich aufschrecken. »Und das alles nur wegen mir«, machte er weiter. Mir fiel auf, dass er nicht wütend auf mich war. Er war wütend auf sich selbst, weil er dachte, dass alles seine Schuld wäre. Und das war noch schlimmer.
»Weil du bei mir warst. Sonst hätten sie dich gar nicht bemerkt«, erklärte er. »Das hätte gar nicht passieren dürfen. Ich hätte dich nicht einladen sollen und schon gar nicht ins Maisfeld führen um so zu tun, als sei ich normal und würde das Mädchen, für das ich mich interessiere auf einer Party küssen.« Das Mädchen, für das ich mich interessiere. »Aber ich bin nicht normal. Normale Jungs haben keine Superkräfte oder einen Pakt mit dem Dämon oder immer wieder die gleichen Träume von einem Mädchen, das ich nicht kenne.«
»Du hast Träume von einem Mädchen, das du nicht kennst?« Er verdrehte die Augen und gestikulierte wild mit seinen Armen.
»Ich habe Träume von dir, Lissa!« Dies brachte mich tatsächlich zum Stocken.
»Wie meinst du das?« Ich runzelte die Stirn aber ihm war das ganze augenscheinlich peinlich.
»Immer wieder den gleichen Traum, in dem du einen Tornado als Kleid trägst und ich dich an den Dämon verliere.« Er rieb sich verlegen den Hinterkopf und sprach sehr schnell, als wollte er nicht darüber reden. Als wollte er die Sache nicht noch gruseliger machen, als sie eh schon war. Ich schluckte.
»Es war meine Vision bei dem Ritual, als wir den Dämon nach dir gefragt haben. Allerdings konnte ich dein Gesicht nicht sehen und war mir dann nicht sicher, als ich dir begegnet bin.« Ich schwieg, als er leise seufzte. »Ich mache mir selbst etwas vor. Natürlich wusste ich, dass ich dir begegnet war. Um dich herum ist so eine Atmosphäre. Ganz anders, als bei allen anderen. Als würde sie dich von der realen Welt abhalten und an deine Träume glauben lassen. Ich wusste es, sobald du in mich reingelaufen warst. Von der ersten Sekunde an.« Ich schluckte. Wusste nicht, was ich erwidern sollte.
»Bist du immer so stürmisch«, murmelte ich vor mich hin und lächelte traurig. Sein zornverzerrtes Gesicht entspannte sich und tatsächlich wanderten seine Mundwinkel nach oben.
Dann drehte er sich halb um und kam mit neuer Wut zurück. »Aber das ändert nichts daran, dass du nicht hättest mitmachen dürfen. Du hättest gehen sollen, als sich dir die Chance bot und du hättest viel mehr anzweifeln müssen. Du hättest gesunden Menschenverstand haben müssen und nicht ein paar angetrunkenen Typen auf einer Party ihre Geistergeschichten glauben sollen!« Seine Worte trafen mich mehr, als ich zugeben wollte. »Du bist naiv«, fügte er abschließend hinzu und kniff dabei die Augen zu Schlitzen zusammen.
»Nenn mich nicht naiv! Du kennst mich nicht!«, warf ich ihm lautstark an den Kopf.
»Jetzt schon gut genug um das zu wissen!«, brüllte er zurück.
Ich schüttelte leicht den Kopf. Warum verletzten mich die Worte dieses Jungen so sehr. Ich kannte ihn nicht mal richtig.
»Wieso tut es so weh, dass du das sagst?«, fragte ich etwas leiser. »Warum verletzt es mich, dass du mich anschreist und mir erzählst, was alles geschehen könnte, wenn ich ‚Nein' gesagt hätte?« Die Wut wich der Trauer und ich leerte das Glas in meiner Hand. Nathan betrachtete mich mit einem abschätzenden Blick. Er verzog sein Gesicht und riss mir das Glas aus der Hand. Ich konnte sehen, wie sehr es ihn schmerzte, mich anzuschauen.
»Weil ich dir wichtig bin und es nicht sein dürfte!«, schrie er und warf das Glas voller Kraft auf den Boden. Dort zersprang es in unzählige Splitter, von denen einer direkt seinen Oberarm aufritzte. Er schien es nicht mal zu merken, so sehr war er in Rage. Ich wich ein paar Schritte zurück.
»Du blutest«, flüsterte er und beobachtete, wie sich ein Blutstropfen aus meiner Wange löste und auf den hellen Sandboden tropfte. Ich sah ihn einfach nur an.
»Das wollte ich nicht«, sagte er leise und voller Schuldgefühle. Er kam auf mich zu, aber ich wich wieder zurück.
Ich hatte Angst vor ihm, obwohl in seinem Blick nun nichts mehr von Wut zu sehen war. Ich wollte nicht mit ihm alleine sein.
»Da bist du ja«, hörte ich Majas Stimme, die aus der Dunkelheit auftauchte wie eine Rettung. Als sie meine blutende Wange sah, weiteten sich ihre Augen leicht. Ihr Blick wanderte von mir, in die Dunkelheit zu Nathan und zu dem von Glasscherben übersäten Boden.
»Alles ok bei dir?«, fragte sie mit verzogener Stirn und kam auf mich zu. Der Sand und die kleinen Steine knirschten unter ihren hohen Absätzen. Sie trat dicht neben mich und hielt mich am Arm fest.
»Ich bring dich nach Hause«, bot Nathan schnell an, als hätte er Maja nicht bemerkt.
»Das mache ich«, sagte Maja scharf und blickte ihn kurz durch das dunkle Licht der Laternen an. Wahrscheinlich konnte sie ihn nicht mal sehen wegen der Dunkelheit und der Distanz, die ich zu ihm aufgebaut hatte. Und trotzdem behandelte sie ihn wie eine Bedrohung, legte ihren Arm um mich und brachte mich weg von diesem Ort.
In diesem Moment liebte ich sie dafür, wie abweisend sie zu Nathan war und wie eine beste Freundin für mich, obwohl auch wir uns noch nicht wirklich kannten.
Und obwohl ich Nathan noch immer mochte.
Und es nicht tun durfte.
Maja führte ein langes Gespräch mit meiner Mutter, in dem sie sich eine tolle Geschichte zu dem Kratzer auf der Wange ausdachte. Dann fragte sie, ob sie eventuell über Nacht bleiben könnte. Mum erlaubte es ihr ohne groß darüber nachzudenken, was wohl hauptsächlich der Uhrzeit zuzuschreiben war. Und so kam es, dass Maja und ich nun zusammen in meinem riesigen Doppelbett lagen, in meinem neuen Haus, bei meiner neuen Familie, mit neuen Rätseln und Problemen, als neue Freundinnen.
»Wieso tust du das für mich?«, fragte ich sie nach einer Weile, in der wir nur so da lagen und den heutigen Abend durchgingen.
»Weil ich auch mal die Neue war, die gerne jemanden gehabt hätte, mit dem sie unter Leute gehen konnte oder der für sie da war.« Sie lächelte warm und drehte ihren Kopf zu mir. »Außerdem sah es eben auf dem Feldweg wirklich so aus, als könntest du jemanden zum Reden gebrauchen.« Dies sagte sie mit etwas Nachdruck, als erwartete sie eine Erklärung. Ich seufzte. Was sollte ich ihr schon erzählen? »Ich habe mich darauf eingelassen, ein paar gutaussehenden Typen mit Superkräften dabei zu helfen einen Dämon zu besänftigen?« Damit wäre der erste Versuch neue Freunde zu finden wohl gescheitert.
»Ach, da war alles in Ordnung«, winkte ich stattdessen ab. Sie seufzte. »Ich muss nicht hier sein, wenn du nicht willst«, meinte sie vorsichtig. Ich spürte ein leichtes Stechen in meiner Brust.
»Ich will aber, dass du bleibst. Ich will nicht alleine sein.« Ich schaltete mein Nachtlicht ein und setzte mich auf. »Also, ich habe diesen Jungen vor ein paar Tagen ausversehen umgerannt und sofort hatte ich das Gefühl, dass ich ihn unbedingt wieder sehen wollte und...«
»Moment. Zu klassischen Über-Jungs-lästern-Mädels-Abenden gehört ganz klar Eis.« Ich lächelte herzlich. »Ich bin mir nicht sicher, ob wir sowas hier besitzen«, sagte ich. Mit Viola als Ernährungsexpertin im Haus gab es wahrscheinlich nicht mal Schokolade oder Tiefkühlpizza.
»Aber wie ich meine Mum kenne, hat sie ganz bestimmt welches in ihrem Schlafzimmerkühlschrank versteckt.« Maja lachte und wir schlichen uns leise in ihr Zimmer um einen Pott Eis zu holen, den wir essen konnten, während ich ihr von Nathan erzählte. Sie musste ja nicht unbedingt den Grund unseres Streits wissen oder die Vorgeschichte. Oder überhaupt seinen Namen. Aber die Sache mit dem Kuss musste ich unbedingt jemandem erzählen. Und Maja schien mir dafür genau die Richtige zu sein.
Um mich herum war es dunkel.Eine fantastische Stille lag über dem ganzen Haus, das die Zwillinge sonstgerne in einen schreierfüllten Freizeitpark verwandelten. So ungewohnt. Soberuhigend. Ich war aufgewacht. Durch einen Impuls, der es mir befohlen hatte.Und ich hatte Angst. Weil ich wusste, dass gleich etwas passieren würde. Nurwas es war, das war mir nicht bekannt. Ich wartete und immer wieder fielen mirdie Augen zu. Es war mitten in der Nacht, Maja schlief tief und fest. Sieschnarchte sogar ein bisschen. Irgendwann siegte die Müdigkeit und ich fielwieder in tiefen Schlaf. Die Angst war vergessen. Alles war vergessen. Bis sichmeine Zimmertür öffnete. Ganz leise, als hätte sie es nicht beabsichtigt, michzu wecken. Doch ihr Schluchzen ließ mich aufwachen.
Ruckartig setzte ich mich auf. Ingaschlürfte an meine Bettkante. Ihr Gesicht war tränenüberströmt. Sofort wollteich aufstehen und sie in meine Arme schließen. Ich warf die Bettdecke zurSeite. »Was ist los?«, fragteich leise und sah sie dabei an. Sie zitterte schluchzend. »Es-es sind dieseAlbträume«, erklärte sie leise. Ich war hellwach. Maja war nicht mehr hier.Vielleicht war sie doch nach Hause gegangen. Oder ich hatte die ganze Party nurgeträumt. »Was für Albträume?«, fragte ich meine kleine Schwester. Wiederschluchzte sie. Rang mit sich selbst.
»Er sagt, du wirst sterben«, flüstertesie und sah mich aus ihren großen Augen an.
»Er sagt, wenn du weitermachst,werden alle sterben.«
Sie presste die Lippenaufeinander und schmeckte das Salz auf ihnen. »Wer?«, fragte ich flüsternd. Ichhatte sie nicht berührt. Etwas in mir scheute sich davor. Sie schüttelte wildden Kopf und ihre kurzen Haare flogen.
»Er sagt, du weißt es.«
»Was sind dasfür Albträume, Inga?«
Meine Stimme wurde fester. Entschlossen, meiner Schwesterzu helfen. Ich wollte sie hier raus lassen. In Sicherheit wissen.
»Er sagt, dukennst sie«, flüsterte sie und in ihren Augen stand pure Angst. Sie ging einpaar Schritte rückwärts. Die Hände hinter ihrem Rücken.
»Inga, bleib hier«, sagte ich. Einzögerliches Kopfschütteln. Sie stellte sich einige Meter vor meine Zimmertür.Gerade so weit von mir weg, dass ich nicht handeln konnte.
»Er sagt, ich soll das tun.«
Ihr Gesichtverzog sich wieder. Tränen schossen aus ihren Augen. Sie zitterte und weinte.Und ich konnte nichts tun. Ich konnte mich nicht bewegen.
»Was tust du da?«,fragte ich. »Was machst du mit mir?« Ich wurde lauter. Panischer. Ich konntemich nicht bewegen. Nicht raus aus meinem Bett. Nicht zu Inga hin. Ihr nichthelfen.
Den Blick gesenkt zog sie die Hand hinter ihrem Rücken vor. Sieumklammerte einen goldenen Dolch. Ich sprang auf, konnte aber nicht weg von meinemBett. Die Grenze zu ihr nicht überschreiten. Sie sah mich an.
»Hilf mir,Lissa«, flüsterte sie ängstlich und stoß sich das Messer in den Bauch.
Blutverfärbte ihr rosafarbenes Nachthemd und sie sank in auf die Knie. All das,während ich schrie. Ihr in die grün-blauen Augen sah. Diese wunderschönenAugen, die immer verspielt und fröhlich gewirkt hatten. Lebendig. Doch nun waren sie kalt und tot.
Schweißgebadet schreckte ichhoch. Ich befand mich in meinem Zimmer. In der Dunkelheit. Maja lag neben mirund schlief. Ohne Inga. Ich hatte geträumt.
Erhatte mich träumen lassen...
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