7
Der Alkohol half mir, mich auf der Tanzfläche zu bewegen. Außerdem stotterte ich mich nicht mehr halb tot, wenn der Rucksackjunge mich durch seine Anwesenheit mal wieder aus der Fassung brachte.
Ich konnte nicht beurteilen, ob er gut tanzte oder nicht, aber für mich sah es aus, als würde ein robbender Regenwurm die Hüften gegen den Takt schwingen.
Die Tanzfläche war überfüllt, wodurch wir eng beieinander standen und ich ihm alle paar Minuten auf die Füße trat oder von anderen Tanzenden geschubst wurde. Dadurch bewegte ich mich ganz von allein und machte mir nicht allzu viele Gedanken darüber, wie ich wohl aussehen mochte. Denn im Tanzen war ich ebenso begabt wie mit der Musik oder dem Zeichnen.
Nachdem ich zum tausendsten Mal über einen Kieselstein in seine Arme stolperte, hatte Nathan schließlich Erbarmen. Als sei es das normalste der Welt, nahm er meine Hand und zog mich aus dem Getümmel an Betrunkenen.
Wir liefen den Berg hinunter, entfernten uns immer mehr von der Musik, die mein Trommelfell noch jetzt beben ließ.
Wir verfielen in einen Laufschritt und ich stolperte hinter ihm her den Hügel hinunter. Als er abrupt stehen blieb, knallte ich mit voller Wucht gegen ihn.
»Ich will dir was zeigen«, sagte er und sein Lächeln wurde breit, geheimnisvoll. Er hatte meine Hand noch immer fest umschlossen und in seinen Augen lag ein Funkeln. Ich zögerte einen Moment und blickte auf das Maisfeld, vor dem wir standen.
Für mich klang es wie der Beginn eines Horrorfilms, in dem das angetrunkene Mädchen mit einem Fremden in ein Maisfeld geht und nur ihr Kopf wieder herauskommt. Trotzdem nickte ich und ließ mich von ihm durch das Gestrüpp ziehen. Die Maispflanzen waren durch den Morgentau feucht und ich spürte, wie auch meine Sneakers durch den matschigen Boden aufweichten. Ich würde sie nie wieder sauber kriegen.
Nach kurzer Zeit erreichten wir eine Lichtung im Feld, an deren Rändern Straßenlaternen standen, die den Ort beleuchteten. Mitten im Gras stand eine überdachte Bank. Rosen schlangen sich am Holz vorbei über die obere Rückenlehne und eine Lichterkette ließ die Bank aussehen wie Cinderellas Kutsche. Vielleicht war dies mein Cinderella Moment.
Er drehte sich zu mir um und lächelte mich mit einem undeutbaren Blick an.
»Das hier ist wunderschön«, sagte ich und betrachtete die Lichter, die über uns funkelten, so hell wie Sterne.
»Ich dachte mir, dass dir sowas gefällt.« Er setzte sich und zog mich neben sich.
»Führst du all deine Bekanntschaften hierher?«, fragte ich und spürte leichte Beklommenheit in mir. Nathan lachte. »Für gewöhnlich haben meine Bekanntschaften nach ein paar Sätzen kein Interesse mehr an mir«, sagte er beinahe nachdenklich. »Scheinbar brauchen Mädchen einfach jemanden, den man nur angucken kann.« Er lachte wieder und ich stimmte mit ein. »Und wieso steht hier eine Bank mitten im Feld?«, fragte ich. »Die Grundstücke und auch der Berg gehören Gereon Davids Vater. Gereon und ich haben die Bank gebaut, als wir noch klein waren. Wir durften nämlich kein Baumhaus haben, weil es ja zu gefährlich war so hoch zu klettern und bla, bla, bla.«
Ich stellte mir vor, wie es wohl wäre, eine Mutter gehabt zu haben, die sich ehrlich darum gesorgt hätte, dass ich von einem zwei Meter hohen Baum gefallen wäre. Die Vorstellung daran war beinahe so absurd wie der Gedanke, dass sich meine Mutter wohl langsam in gerade die Art von Frau verwandelte. »Wir wollten jeden Tag hier überdauern. Mit unseren Taschenlampen und Comicheften«, sprach Nathan weiter. Ich lächelte bei der Vorstellung. »Und du bist einer der heißesten Jungs der Schule?«, fragte ich und merkte erst später, dass er dies durchaus als Beleidigung hätte auffassen können.
Er lachte.
»Wer sagt das denn?«
»Maja.« Ich machte eine abfällige Bewegung.
Er lächelte. »Ach ja, Maja Mitchel. Dein dreieckiger Klotz am Bein.« Ich verzog das Gesicht, als hätte er mich auf gewisse Weise beleidigt.
»Sie ist eigentlich ganz...« In diesem Moment legte Nathan den Kopf schief und seine Wangenknochen und Wimpern warfen Schatten auf seine perfekte Haut.
»Nett«, brachte ich Ewigkeiten später raus.
Er lächelte warm, als er bemerkte, wie er mich aus dem Konzept brachte.
Ich glaube, er wusste, wie toll er war. Dass er Jede haben konnte und doch mit mir hier saß. Abseits vom Treiben der Party, an einem schummrig beleuchteten romantischen Ort, auf einer kleinen Parkbank. Ich fühlte mich wie eine Figur aus einem Disneyfilm.
»Was machen wir hier Nathan?«, fragte ich leise und sah in seine Augen, die in diesem Licht schon beinahe braun waren. Heute hatte er seine Haare gekämmt, das sah man sofort.
Er hielt meinem Blick stand und legte ganz langsam seine warme Hand an meine Wange.
»Ich weiß es nicht«, flüsterte er, sodass sich eine Gänsehaut auf meinem Körper ausbreitete. Er lächelte, als sie seine Hand erreichte. In diesem Moment überließ ich dem Alkohol in mir die Kontrolle.
Ich stürzte mich förmlich auf ihn und presste meine Lippen gegen seine, musste dabei ausgesehen haben wie ein wildes Tier. Nach einigen Sekunden schreckte ich zurück, als würde ich erst jetzt realisieren, was ich soeben getan hatte. Gerade, als ich mich für mein Verhalten entschuldigen wollte, beugte er sich vor und erwiderte den Kuss.
Er drückte mich gegen die mit Kissen gepolsterte Lehne der Bank, sodass ich halb unter ihm lag. Ich spürte seinen Atem auf meiner Haut, an meinem Hals. Seine weichen Lippen auf meinen. Seine Hände, die durch meine Haare fuhren, mein Schlüsselbein sanft berührten. Ich konnte es mit keinem bisherigen Kuss vergleichen.
Vielleicht war dieses Gefühl Angst. Die Angst davor, zu sterben ohne gelebt zu haben.
Und gleichzeitig Freude und Stolz. Weil ich den Abend tatsächlich genutzt hatte. Weil ich den Jungen küsste, der mir seit unserem Zusammenprall nicht mehr aus dem Kopf ging.
Plötzlich zuckte er zurück.
»Alles in Ordnung?«, fragte ich. Meine Stimme war rau und zittrig. Vielleicht war es doch die falsche Entscheidung gewesen? Zeugte es von Charakter, jemanden auf einer Party zu küssen, ohne etwas über ihn zu wissen? War ich unvorsichtig? Er lächelte leicht.
»Du solltest gehen«, meinte er und stand auf. Ich sah ihn an, fragte mich, was in ihm vorging.
»Wenn ich etwas falsch gemacht habe, tut es mir leid...«, sagte ich und griff nach meinem Handy, das auf den Boden gefallen war und beinahe im Gras versank. Nathan schüttelte den Kopf.
»Hast du ne Freundin?«, rätselte ich weiter. »Nein, das ist es nicht.«
Ich nickte knapp.
»Okay, alles klar.«
Ich war verletzt. Es selber schuld. Wie kam ich nur auf die Idee, dieser Junge würde mich tatsächlich kennenlernen wollen? Mich mögen.
Er griff nach meiner Hand.
»Hör zu, du sollst jetzt keinen falschen Eindruck von mir kriegen...« Zu spät.
»Aber das Ganze ist wirklich kompliziert. Es ist wegen meiner Freunde...« Ich schaute zu ihm hoch.
»Also du hast keine Freundin, aber ich soll doch bitte trotzdem gehen, bevor deine Freunde merken, dass du mit jemandem wie mir hier bist?« Ich konnte meine Wut nicht verstecken. Sein Gesicht hellte sich auf. »Ja! Genau das ist es!« Ich schnaubte und ging ein paar Schritte von ihm weg.
Er lief hinter mir her, drehte mich um und nahm mein Gesicht in seine Hände.
»Wieso du?«, fragte er leise. »Wieso nicht jemand, der mir egal ist?«
Mit diesen Worten erreichten mich die Stimmen und aus der Dunkelheit lösten sich mehrere Gestalten.
»Scheiße!«, fluchte Nathan. »Nathan«, sagte ein Junge mit tiefer Stimme, neben ihm lief ein weiterer. Nathan schüttelte schmerzverzogen den Kopf.
»Es tut mir so leid«, flüsterte er mir zu. Verwirrt wechselte mein Blick zwischen ihm und den zwei Jungs, die sich nun auf der Bank niederließen. Mich erfasste Panik. Ich drehte mich um und ging, fing an zu rennen.
Plötzlich tauchte noch ein Junge vor mir auf, sie mussten so alt sein wie Nathan. Das mussten seine Freunde sein.
»Du willst doch noch nicht gehen«, sagte er. Dunkelbraune Haare fielen ihm in Wellen bis knapp unters Kinn.
Ich schluckte und mein Herz pochte bis zum Hals.
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