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Das Taxi hielt an einer spärlich beleuchteten Landstraße, mit der Begründung, es sei ihm nicht gestattet, diesen Weg zu fahren. Maja verdrehte die Augen und knallte die Tür mit den Worten »Ich laufe lieber, als dass ich noch mehr Geld bezahle« zu. Ich war etwas eingeschüchtert davon, dass sich ihre piepsige Mäusschenstimme tatsächlich in eine Art Gebrüll verwandelt hatte. Das Taxi bretterte über den Weg, der nur aus Dreck und Steinen bestand, sodass wir uns in einer riesigen Staubwolke wiederfanden. »Eine Frechheit, diese Taxifahrer«, hustete Maja und stöckelte auf ihren hohen Schuhen ein paar Schritte vorwärts.

Die Abenddämmerung tauchte die Wiesen und Felder um uns in ein wunderschönes Orange und man hörte Heuschrecken fiepen. »Ich dachte wir gehen auf eine Party«, brachte ich heraus und schnipste mir irgendein Insekt vom nackten Oberschenkel. »Du kommst aus einer kleineren Stadt im Norden?«, fragte sie lachend. Ich nickte. »Auch wenn Claywood in diesen Gewinden von Kleinstädten wie ein eigenes Land erscheint, musst du bedenken, dass hier früher überall nur Bauern lebten und alles nur Wiesen waren«, erklärte sie. »Natürlich ist das Jahrhunderte her, aber manche Feste wurden halt zur Tradition.« Ich nickte langsam.

»Es ist die letzte Sommernacht und dies feiern Gleichaltrige nunmal gerne. Wobei es eigentlich nur eine Ausrede ist, um sich noch in der ersten Schulwoche zu betrinken.« Wir lachten. Dennoch hatte ich mit einer Party in einem Haus gerechnet und hätte bestimmt eine Jacke mitgenommen, wenn ich gewusst hätte, dass ich die Nacht im Freien verbringen würde.

»Es ist wirklich nicht so übel, wie es sich vielleicht anhört. Solange die richtigen Leute da sind, kann man überall Spaß haben.« Sie strich sich die Haare glatt.

»Das ist der Clayhill«, sagte Maja in einem Ton wie ein Reiseleiter und blickte in die Ferne. Tatsächlich konnte ich einen bergigen Hügel erkennen, der abwechselnd in verschiedenen Farben leuchtete.

»Und dorthin werden wir jetzt laufen.«

Es dauerte mindestens eine viertel Stunde bis wir ankamen. Maja meckerte nicht ein Mal wegen ihrer hohen Schuhe, aber mir bereitete allein der Anblick Schmerzen, wie sie wackelig durch das Feld stiefelte.

Als wir jedoch ankamen, bot sich uns eine unvergleichbar schöne Sicht.

Am Fuß des Hügels saßen Jugendliche auf Bänken, lachten und tranken. Lichterketten zogen sich bis oben hinauf und auf jeder Treppenstufe war eine Reihe Kerzen aufgestellt. Mich erinnerte die Szene an die Lichter in »Rapunzel neu verföhnt« und augenblicklich hatte ich einen Ohrwurm von »Endlich sehe ich das Licht«.

Es roch nach gegrilltem Fleisch und Alkohol und meine Füße pulsierten unter dem dumpfen Geräusch des Basses. Statt einer Spitze mündete der Hügel in einer großen Plattform, auf der Bierzeltgarnituren aufgestellt waren. An einem Pavillon wurde Bier in Massen ausgeschenkt und eine Reihe Jungs stand an dem angrenzenden Wald und pinkelte gegen die Bäume. Ich konnte den Reiz daran einfach nicht nachvollziehen.

Insgesamt war das ganze Fest größer, als ich aus der Ferne gedacht hatte und sofort machte sich Unsicherheit in mir breit. Maja hingegen strahlte übers ganze Gesicht und als wir oben ankamen, hatte sie keine Hemmungen, einen wildfremden Typen anzutanzen.

»Ich werd mir was zu trinken holen«, raunte ich Maja zu, die sich nun anzüglich an den Körper des Jungen schmiegte. Es stellte sich als schwere Aufgabe heraus, den Weg zum Pavillon zu erreichen und ich konnte mir nur dank meiner Ellenbogen einen Weg durch die tanzende Menge bahnen.

»Habt ihr auch Wasser?«, fragte ich den Jungen hinter der Theke. Er lachte.

»Zum Spülen«, meinte er und zog den Pferdeschwanz seiner Undercut-Frisur fest. Ich schenkte ihm ein gespieltes Grinsen und drehte mich wieder um. Als würden Kinder solcher Eltern irgendetwas selbst spülen. Obwohl vielleicht nicht alle dem Beispiel der Blanes entsprechen.

Was hatte ich mir nur dabei gedacht, hier her zu kommen? Ich wollte keine neuen Leute kennenlernen oder mich hier einleben. Ich kannte ja nicht mal Maja gut. Erschrocken stellte ich fest, dass die einzige Person, die ich auf dieser Party zu meinem Bekanntenkreis zählen konnte, Viola war.

Ein Junge rempelte mich an, sodass ich unwillkürlich mit dem Kopf gegen den Pavillon knallte. »Oh sorry, alles ok?«, fragte er und es klang ehrlich besorgt. Ich hielt mir meine Hand gegen den Hinterkopf und schaute zu ihm auf.

Augenblicklich erinnerte er mich an jemanden und für den Bruchteil einer Sekunde gab ich mich dem Gedanken hin, er könnte es wirklich sein. »Nick?«, fragte ich zögerlich. Der Junge runzelte die Stirn. »Ich heiße Bryan«, sagte er und machte einen Schritt auf mich zu. »Vielleicht solltest du das kühlen.«

Ich lächelte schwach und sah in seine strahlend blauen Augen. »Sorry nochmal«, meinte Bryan und verschwand in der Menge.

»Wer ist denn dieser Nick?«, hörte ich eine Stimme. Der Rucksackjunge stellte sich neben mich an die Bar und lächelte gekonnt.

Nick war seit Kindergartenzeiten mein bester Freund gewesen. Als er zu seinem Vater nach Deutschland umziehen musste, hatte er mich geküsst, bevor er in den Flieger gestiegen war. Danach folgten keine Anrufe oder ähnliches. Lediglich von seiner Mutter hatte ich erfahren, dass er sich gut eingefunden und ein ganz neues Leben begonnen hatte. Das alles war mittlerweile drei Jahre her und ich dachte nur noch selten an ihn, doch manchmal bereute ich die Entscheidung, ihn nicht öfters kontaktiert zu haben. Erinnerungen schossen in meinen Kopf und drohten, mir die Luft abzuschnüren. Ich hatte Nick nie geliebt, sondern immer nur als besten Freund angesehen. Unsere letzten Minuten hatten mich aufgewühlt und ehrlich gesagt war ich bis heute noch sauer, dass er einfach so gegangen war. Dass er einfach nicht mehr auf meine Anrufe und Nachrichten reagiert hatte, bis ich irgendwann aufgegeben hatte.

Im Wesentlichen war Nick jedoch nur ein weiteres Zeichen dafür, dass niemand in meinem Leben blieb. Ich hatte nach ihm nie mehr einen richtigen besten Freund gehabt. Aus Angst, er würde wieder verschwinden. So wie Nick, die Männer meiner Mutter und mein Vater.

»Nicht so wichtig«, sagte ich zum Rucksackjungen und machte eine abfällige Geste. »Alkohol reinigt die Wunde«, bemerkte der Typ hinter der Bar und schob mir einen roten Plastikbecher zu. Nach kurzem Zögern nahm ich den Becher in die Hand und trank ihn direkt halb leer. Das Bier schmeckte billig, prickelte aber schön in meinem trockenen Hals.

Vielleicht war das Leben zu kurz, um alle möglichen Entscheidungen zu bereuen. Definitiv war es das. Man musste jeden Tag nutzen. Und so kam es, dass ich durch die Gedanken an Nick beschloss, besonders den heutigen Tag – und die Gelegenheiten, die sich mit ihm boten - zu nutzen. Damit endlich etwas in meinem Leben passieren würde. Was jedoch tatsächlich passierte, hätte ich wohl nie erwartet.

»Alkohol passt aber nicht zum Image einer ganz Ruhigen«, räumte der Rucksackjunge ein und zog spöttisch einen Mundwinkel hoch. »Rein medizinische Bedürfnisstillung«, verteidigte ich mich. Wir lachten.

»Ich heiße übrigens Nathan.« Er schüttelte meine Hand und fixierte mich mit seinen Augen. Ich schien mich darin zu verlieren.

»Nathan«, wiederholte ich und ließ den Namen auf meiner Zunge zergehen. »Jap, das klingt eindeutig besser als ‚Rucksackjunge'.« Rätselnd kniff er die Augen zusammen. »Irgendwie musste ich dich in meinen Gedanken ja nennen«, meinte ich. »Du hast an mich gedacht?«, fragte er und verzog das Gesicht anzüglich, wie ich es niemals können würde. Es dauerte einige Augenblicke, ehe ich mich von seinem Blick losreißen konnte.

»Bilde dir da bloß nichts drauf ein«, sagte ich und drehte mich wieder zur Theke, um einen weiteren Becher zu nehmen, sodass ich seine Reaktion verpasste. Ich stellte mir vor, wie er selbstgefällig grinste.

»Trink nicht zu viel, am Ende muss ich dich noch den Berg runter tragen.«

»Wieso solltest du mich tragen?«, fragte ich provokant und versuchte, eingebildet wie Viola zu klingen. Nathan zog nur eine Augenbraue hoch. »Ich muss das hier heute ausnutzen. Meine Mum ist recht streng was sowas angeht«, erklärte ich mit Blick auf das Bier. Er nickte nur und ich wusste nicht, ob er mich wegen der lauten Musik überhaupt verstanden hatte. »Also wenn das so ist, werden wir den Abend wohl gemeinsam ausnutzen«, sagte er und griff ebenfalls nach einem Becher. Ich zog einen Mundwinkel hoch und versuchte meine insgeheime Freude zu verstecken.

»Lust auf Bierpong?«, fragte er mit Blick auf die zweckentfremdeten Tischtennisplatten weiter hinten. Ich verzog abwertend das Gesicht. »Wir müssen es ja nicht übertreiben«, sagte ich lachend. Er lächelte etwas enttäuscht.

»Von wo bist du hergezogen?«, fragte er.

»Nestville.«

»Das ist...«, begann ich. »Eine äußerst kleine Kleinstadt nördlich von Claywood«, beendete er meinen Satz. Ich lächelte. »Und warum bist du...« Er konnte nicht zu Ende sprechen, bevor ich auch schon auf dem Boden lag. Maja hatte sich in einem heldenhaften Sprung gegen mich geworfen, sodass ich nun wie ein gefallener Baumstamm mit dem Gesicht im trockenen Dreck lag. Ich seufzte leise.

Nach einigen Sekunden richtete sich Maja wieder auf und reichte mir eine Hand. Ich ließ mich von ihr hochziehen und betrachtete sie mit einem Blick, der sie wohl töten sollte. Dann klopfte ich mir den Dreck von den Beinen, versuchte meine Haare glattzustreichen und suchte das Kleid nach Flecken ab. Überraschenderweise war es verschont geblieben.

»Du hattest gesagt, ich darf mich auf dich stürzen, falls...« »Ich weiß was ich gesagt hab«, sagte ich scharf und schnitt ihr das Wort ab. Tatsächlich hatte die Aktion beinahe niemand mitbekommen, weshalb ich nun doch dankbar für die ohrenbetäubende Musik war.

»Na dann«, meinte Maja und pflückte im Vorbeigehen noch einen Grashalm aus meinen Haaren. »Sei einfach vorsichtig«, flüsterte sie.

Ich atmete tief durch, bevor ich mich wieder traute, Nathan anzusehen. »Alles ok?«, fragte er, halb schockiert, halb belustigt. Ich nickte langsam. »Das ist halt Maja Mitchel«, meinte er und zuckte die Schultern.

Er machte einen Schritt auf mich zu und berührte mit seinem Finger meine Wange. Sofort durchfuhr mich eine Welle an Gefühlen.

»Du hast da noch etwas Dreck«, erklärte er plötzlich ganz leise. Viel zu schnell ließ er mich wieder los und der Moment war vorbei. Ich blickte zu ihm hoch, genoss wie nah er bei mir stand und wie schnell mein Herz deswegen schlug.

Nach ein paar Sekunden des stillen Ansehens räusperte ich mich kaum merklich, wir fuhren auseinander und er kratzte sich verlegen am Hinterkopf. »Willst du tanzen?«, fragte er, was die Situation vielleicht noch komischer machte. Nach kurzem Überlegen leerte ich meinen Becher und gleich darauf noch einen.

Dann nickte ich.







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