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Die Jungs machten sich Sorgen um mich. Sie sprachen es nicht aus, aber mir war klar, dass es wegen meinem »Selbstmordversuch« war. Obwohl dies völlig übertrieben war. Ich wollte nicht sterben. Niemals könnte ich mich selbst umbringen. Ich war lediglich nicht aufgetaucht. Das zählte nicht. Oder?
Ich ging gezwungenermaßen zu Zimos Therapiestunden, die Nathan meiner Mutter empfohlen hatte. Sie alle gingen mit mir um, als sei ich eine Bombe, die jeden Moment platzen könnte, wenn man sie nur zu lange ansah. Das hinderte sie aber nicht daran, mich überall mit ihren Augen zu verfolgen. Maja besuchte mich fast täglich, die Jungs organisierten Treffen in der Milchshakebar um über unsere Fortschritte zu sprechen und Zimo trainierte mich mehrmals die Woche. Sie versuchten, mein ganzes Leben zu verplanen, damit mir nicht mehr viel Zeit zum Nachdenken blieb. Aber trotzdem konnte ich an nichts anderes als Travis mehr denken. Daran, wie ich ihn zurückbekommen sollte. Ich habe mich mehrfach in Zimos Bibliothek geschlichen, um dort in seinen Büchern zu forschen.
Natürlich fand man dazu nichts. Und die ganze Zeit beschäftigte mich eine Frage: Was hatten sie mit der Leiche gemacht? Ich hatte sie nicht gesehen. Ich konnte mir gar nicht vorstellen, sie zu sehen. Aber irgendjemand musste sich ja darum gekümmert haben. Vielleicht die Jungs? Und wie genau war »kümmern« zu definieren? Beerdigt hatten sie ihn nicht, aber ich bezweifelte, dass die Leiche irgendwo in der Tiefkühltruhe von Ger lag. Ich schüttelte mich. Schreckliche Gänsehaut hatte meinen Körper erfasst. Ich dachte nicht gerne an Travis. Wirklich nicht. Denn jedes Mal ergriff mich dieses Gefühl, das ich nicht genau definieren konnte. Etwas von Hoffnungslosigkeit. Dass ich es sowieso nicht schaffen würde, ihn zurückzuholen. Oder dass es vielleicht auch gar nicht gut wäre, ihn zurückzuholen.
Mir fiel das Buch runter, das ich die ganze Zeit auf meinem Kopf hatte balancieren lassen. Ich ließ die Schultern hängen und sah es seufzend an.
»If I Stay«. Zurzeit wohl eher eine schlechte Wahl. Ich strich mit den Fingern über das Cover. Was, wenn Travis auch so einen Traum hatte, wie ich? Was, wenn er die Aufgaben nicht bestanden hatte und deswegen nicht zurückgekommen ist? Ich sprang von meiner Trainingsmatte auf und lief zum Schreibtisch, auf dem mein Handy lag. Wie lange konnte ein Mensch auf der Schwelle zum Tod stehen bleiben? Wie lange konnte er durchhalten? Wie viel Zeit blieb ihm, sich zu entscheiden? Und wie viel Zeit blieb mir, um ihn da rauszuholen?
Vor lauter Freude sprang ich auf und ab und stockte nach wenigen Sekunden. Das alles war reine Spekulation. Ich hatte keine Anhaltspunkte. Und schon gar keine Beweise. Alles, was ich hatte war Hoffnung. Hoffnung, deren Grund Verzweiflung war.
Ich ließ die Arme wieder sinken und legte mein Handy ab. Ich sollte mich konzentrieren. So, wie Zimo es mir gezeigt hatte. Ich sollte meine Kräfte auf wichtigere Dinge spezialisieren und mich nicht irgendwelchen Theorien hingeben.
Wer hatte mir nur all diese Flausen in den Kopf gesetzt? Was wäre unsere Welt ohne Hoffnung? Wie oft hätte ich schon aufgehört, wenn ich nicht an Spekulationen geglaubt hätte?
Mein Training führte nur zu noch mehr Fragen. Denn während die Jungs tatsächlich von ihrer Trauer abgelenkt wurden, durch coole Übungen, in denen sie weiß Gott was machten, hockte ich auf einer Isomatte, auf dem Boden meines Zimmers und sollte nur nachdenken. Zwar über andere Dinge als Travis aber das System war das Gleiche. Hier hatte ich keine Ablenkung. Hier konnte mich niemand davon abhalten, ihn zu vermissen.
Ich übte das Spezialisieren jetzt schon seit dem Vorfall. Es könnte in bestimmten Situationen nützlich sein. Würde es denn funktionieren. Ehrlich gesagt, glaubte ich nicht daran, dass diese suspekte Form der Meditation wirklich erzielen konnte, dass ich unmenschliche Kräfte absorbieren konnte um sie dann selbst zu nutzen. Und rein theoretisch hatte es ja schon mal funktioniert. Bei Travis. Aber unkontrolliert. Und ich wollte mir gar nicht vorstellen, was passieren würde, wenn ich nochmals solch einen Fehler beging.
Und trotzdem war dieses Training stumpfsinnig. Ich opferte täglich zwei Stunden um hier zu sitzen, mich zu konzentrieren und zu spezialisieren. All das, während Nathan, Ger und Jules wahrscheinlich Feuerbälle gegen Zielscheiben warfen und mit Messern auf Schaumstoffpuppen einstachen.
Aber was für einen Sinn hatte dieses stillsitzen für mich, wenn ich keine Antworten auf meine zahlreichen Fragen zu Travis bekam? Ich konnte mich ohnehin nicht konzentrieren. Was machte es da schon für einen Unterschied, ob ich hier oder woanders meine Zeit verschwendete?
Mich erfasste die kalte Nachtluft wie ein Schlag, als ich Violas Fahrrad aus der Garage schob. Der Nebel hier draußen passte wirklich gut zu meinen Gedanken. Wieder fragte ich mich, ob der Dämon solche Dinge absichtlich fügte. Aus Spaß. Einfach nur, um zu zeigen, dass er es konnte. Um zu beweisen, dass er alles konnte.
Es tat gut, sich zu bewegen. Das hatte ich schon viel zu lange nicht mehr gemacht. Früher war ich mit Inga laufen gegangen. Ich hatte sogar an Meisterschaften teilgenommen. Bis Inga irgendwann besser geworden war, so wie immer wenn es um Sport ging. Und aus irgendeinem Grund hatte ich den Spaß daran verloren. Ich beschloss, wieder damit anzufangen, wenn all das hier vorbei wäre. Ob es wohl jemals vorbei sein würde? Ob ich überlebte?
Wohin ich wollte, wusste ich. Ich hatte es mir in dem Moment überlegt, in dem ich aus meinem Fenster geklettert war und mich gefragt hatte, ob ich eine Strickleiter an den Balkon hängen sollte, damit ich es beim nächsten Mal leichter hatte. Denn ich würde mich nicht zum letzten Mal raus schleichen.
Erst, als ich das Rad abstellte fiel mir auf, wie anders diese Gegend war. Wie ich mich schon an die Villen und reichen Menschen gewöhnt hatte. Und wie schrecklich das war.
Ich setzte mich auf die Bordsteinkante und schürfte die weiße Sohle meiner Chucks am Asphalt ab. Ich zog mir die Kapuze des grauen Pullis ins Gesicht und atmete Nathans Geruch ein. Wie ich ihn vermisste. Wie ich vermisste, wie wir trotz allem glücklich gewesen waren. Wie ich meine alten Probleme vermisste, weil diese hier einfach zu schrecklich waren.
Eine laute männliche Stimme riss mich aus meinen Gedanken. Ich erspähte zwei kleine Jungs, die sich in der Küche des Hauses um ein Spielzeug stritten und eine Mutter, die mit einem Kochlöffel dazwischen ging und verzweifelt versuchte, das verbrannte Fleisch vom Herd zu nehmen. Sie ist am Boden. Sie alle sind es. Ich höre, wie die männliche Stimme lauter wird. Wie jemand eine hölzerne Treppe hinunterrennt. Und dann sehe ich, wie er mit einem flachen Schuhe ins Gesicht geschlagen wird. Es sollte wohl direkt blau werden, aber auf seiner dunklen Haut ist nichts zu erkennen. Hasserfüllte Blicke werden zwischen Vater und Sohn ausgetauscht. Er ist größer als sein Vater und ich weiß, dass er auch stärker ist. Aber dennoch lässt er sich ein zweites Mal schlagen. Diesmal platzt seine Lippe auf. Er schreit irgendwas und gestikuliert wild mit den Armen. Dem nächsten Schlag weicht er aus. Er schlägt nicht zurück. Er wehrt sich nicht. Und jetzt läuft er nach draußen.
Mit seinen dunklen Augen erblickt er mich und alles Ärger ist wie weggeflogen. Ich sollte wohl aufstehen und so schnell wie möglich wieder wegfahren, aber deswegen war ich nicht hier. Er kam auf mich zu und ich stand auf. Dann nahm er mich in den Arm. Ich kannte ihn nicht. Und doch wusste ich genau, was er durchmachte. Er setzte sich zu mir auf den Boden. Wir schwiegen lange. Bis er die Stille brach.
»Er hat dich geliebt«, flüsterte Raffalin und warf einen Kieselstein über die Straße. Ich blickte zu Boden. »Ja, ich weiß.« Dann warf ich einen Stein. »Es war kein Unfall, oder? «, hörte ich ihn fragen. Er hob seinen Kopf und sah mich an. Er hatte die gleichen Augen wie Travis. Ich spürte, wie ich nickte. »Kannst du...« Ich schüttelte den Kopf und er seufzte. »Klar.« »Es tut mir wirklich leid, Raffalin. Aber ich weiß nicht, was mit dir passieren würde, wenn du es wüsstest... « Ich blinzelte und er verzog den Mund. »Was könnte schlimmer sein als das hier.« Seine Geste umfasste unsere Umgebung. Ich seufzte. »Glaub mir, ich weiß, wie du dich fühlst.« Er nickte. »Ja, ich weiß.«
Ein weiterer Stein fand seinen Weg in den Vorgarten der Rouls. »Deine Familie?« »Frag nicht.« Und ich schwieg.
Ich stand auf. »Ich werde versuchen, ihn zurückzuholen«, erzählte ich Raffalin leise. Er sah mich ungläubig an. »Du musst nur so viel wissen: Es gibt weitaus mehr als nur diese Welt. « Um mich zu unterstützen, zuckte ein Blitz über den Nachthimmel und erhellte die Straßen. Mit schiefem Lächeln stieg ich wieder aufs Fahrrad. »Pass auf dich auf«, verfolgte mich das Flüstern von Travis' Bruder noch.
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