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Ich ruderte mit den Armen, damit mehr Luftblasen aufstiegen. Handgroße Kreise, die mich an Schneekugeln erinnerten. Sie zeigten Bilder, Ausschnitte aus meinem Leben. Szenen von Travis. Das Ganze ging nun schon eine ganze Weile so: Blasen stiegen auf, ich ließ sie platzen um den Film darin zusehen und berichtete es meinen aufgeregten Zuschauern. Ich hatte eine Möglichkeit gefunden, mich an Travis zu erinnern. Und das reichte mir schon. Mit jedem Atemzug fühlte sich all das hier falscher an.
Es war nicht richtig, in meinem eigenen Kopf herumzuschnüffeln. In tiefen Wassern nach Antworten zu fischen. Mich selbst zu belügen. Es musste ja schließlich einen Grund gehabt haben, dass ich mich nicht mehr an Travis erinnern konnte. Doch nun war nicht der Zeitpunkt, um sich mit weltbewegenden Fragen auseinanderzusetzen. Ich sollte mich an Travis erinnern. Und bisher lief es bereits so gut, dass ich bei der Erwähnung seines Namens eine trockene Kehle bekam und sich in mir alles zusammenzog. Der einzige Vorteil, dass als das hier unter Wasser stattfand war, dass niemand meine Tränen sehen konnte. Die Jungs konnten zwar sehen, was ich sah, aber nicht spüren, was ich fühlte. Denn meine Gefühle machten mich fertig. Dauerhaft vermischten sich Tränen mit Wasser und wurden zu einer Menge. Miene Kleidung schmiegte sich eng an meinen Körper und schien mich immer tiefer in den Abgrund zu ziehen. Und alles schien egal. Ohne ihn war es unwichtig. Alles war unwichtig geworden.
Er war tot. Mein bester Freund war gestorben. Ich wusste nicht mehr, wie es ohne ihn gewesen war und konnte es mir nicht vorstellen. Wollte es mir nicht vorstellen. Ich schluchzte, als ich daran dachte, wie er mich angesehen hatte. Wie seine dunklen Augen ununterbrochen auf mir gelegen hatten und ich ihn kaltherzig zurückgewiesen hatte. Ich sah in den Erinnerungen, was für ein Monster ich war. Und es war ein schreckliches Gefühl, Taten zu bereuen, die man niemals wieder gutmachen konnte.
Ich war alles selbst Schuld. Ich trug sogar die Schuld an seinem Tod. Ich hatte es nicht geschafft, seine Kräfte zurückzugeben. Ich war zu schwach. Und ich alleine war Schuld daran, dass Travis Roul tot war. Ich hatte ihn umgebracht.
Ich spürte, wie ich zitterte. Die nächsten Blässchen platzten und wieder tat ich alles dafür, weitere zu erzeugen. Damit ich ihn sehen konnte. Sehen konnte, wie glücklich wir waren.
Wie wir fast jeden Tag gemeinsam in der Milchshakebar gewesen waren und über Gott und die Welt geredet hatten.
Wie ich ihn besser gekannt hatte, als jemals jemanden zuvor.
Wie wir gemeinsam klischeehafte Beste-Freunde-Aktionen, unternommen hatten.
Wie unser Leben wie im Film gewesen war.
Wie viel Angst ich gehabt hatte, dass Nathan deswegen ausrasten würde.
Weil Nathan und ich wohl niemals wie im Film sein würden.
Wie Travis mich angesehen hatte.
Wie ich gewusst hatte, dass er mich immer noch liebte und es verleugnet hatte.
Wie wir dieses eine Gespräch geführt hatten, dass alles veränderte...
Es war einige Tage, nachdem er mir gestanden hatte, dass er mich liebte. Kurz bevor ich beschlossen hatte, dass er mein bester Freund werden sollte. Wir waren von einem weiteren Treffen bei Zimo wieder in der Milchshakebar angelangt. Mein absoluter Lieblingsort, seit ich hier her gezogen war. Es kam zu einer peinlichen Stille zwischen uns. Mir ging nur durch den Kopf, dass er mich liebte und ich mit ihm befreundet sein wollte. »Es tut mir leid«, hatte er angefangen. »Dass ich dich so überrumpelt habe. Das war echt scheiße...« Ich musste nicken und er seufzte. »Ich möchte, dass wir Freunde sind«, meinte er. »Ich möchte Zeit mit dir verbringen. Akzeptiere deine Gefühle für Nathan und die für mich.« Ich hatte ihn nur ansehen können. Er hatte gelächelt, als ich schmunzeln musste. »Du versuchst ja gar nicht, meine Gedanken zu lesen«, meinte ich. »Sieh es als Freundschaftsangebot.«
Ab da hatte sie begonnen. Die beste Freundschaft, die man sich vorstellen konnte. Ich hatte es Nathan nicht erzählt. Wahrscheinlich hätte er es sowieso nicht verstanden. Aber für mich war es sehr besonders. Ich hatte von diesem Zeitpunkt an einen besten Freund. Einen, der mir geholfen hatte, diese ganzen Sachen zu verarbeiten. Ein Ausgleich zu meinem Chaotischen Dämonenleben. Und nun war er tot. Und ich war so egoistisch und dachte darüber nach, wie mein Leben ohne ihn funktionieren sollte. Keiner dachte daran, wie er sich gefühlt hatte. Keiner von uns wusste, wie es war, zu sterben.
So zu sterben, dass man nicht durch einen Wiederbelebungszauber zurückkommen konnte.
Ich spürte, wie sich meine Lungen mit Wasser füllten. Wie ich mich nicht mehr halten konnte. Wie ich langsam ertrank und mich niemand davor retten konnte. Kurz zögerte ich, überhaupt etwas dagegen zu tun. Überlegte, ob es nicht besser wäre, hier einfach mein Leben zu lassen. So wie Travis. In diesem Moment wollte ich zwei Dinge: Schweigen und Schreien. Weinen und nie wieder Emotionen zeigen. Jemanden umarmen und jemanden verprügeln. Mich selbst töten und bemitleiden.
Letztendlich entschied ich mich für schreien. Ich würde mich nicht verschließen und Wochen lang niemanden an mich ran lassen. Ich wollte keine Aufmerksamkeit. Und doch wollte ich sie.
Aber nicht nur ich, sondern wir alle hatten jemanden verloren. Jemanden, den wir liebten und es immer tun werden. Und ich wollte nicht, dass der Dämon mit all dem davon kam. Konnte nicht zulassen, dass er nach Lust und Laune Menschen aus unser aller Leben riss und uns damit Stück für Stück tötete.
Wasser lief in meine Nase. Ich hustete. Wenn ich jetzt nicht hochschwamm, wäre alles vorbei. Ich müsste nie wieder irgendwas tun. Müsste mich für niemanden mehr richtig benehmen. Könnte einfach loslassen.
Ich blinzelte. Zählte leise im Kopf.
Fünf...
»Lissa!«
Vier...
»Was tut sie da? Hörst du mich, du musst da raus kommen!«
Drei...
»Sie stirbt! Zimo, tu doch was!«
Zwei...
»Lissa, tu das nicht! Zimo!«
Mit hektischen Bewegungen rissen sie mir das Gerät vom Kopf. Nathan fiel mir um den Hals, aber ich spürte nichts. Wollte mir Wasser aus der Lunge husten, obwohl ich wusste, dass dort keines war. Weil ich wusste, dass es nicht echt war. Und ich weiß, ich sollte sagen, dass ich gewusst hatte, dass ich wieder auftauchen würde. Aber die Wahrheit ist, dass ich es nicht gewusst habe. Ich wäre ertrunken. In meinem eigenen Kopf. Und dies sogar gerne.
Sie alle redeten auf mich ein. Ich spürte, wie mein Körper zu zittern begann. Wie mir plötzlich Tränen in die Augen schossen. Wie Nathan versuchte, meinen kalten Körper zu wärmen, es aber nicht schaffte. Und ich sank in die Knie und schrie. Schrie und weinte mir die Seele aus dem Leib. Weil der Dämon mich erneut gebrochen hatte.
Zuerst den einen Teil meines Herzens, indem er Nathan von mir fern gehalten hatte. Und dann diesen Teil, der ganz allein Travis gehört hatte. Ein großer Teil.
Groß genug, dass er niemals wieder repariert werden könnte. Und groß genug, dass ich spürte, wie die Splitter in meine Brust stachen.
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