26

Ger warf mir seinen blauen Pulli zu, den er auf der Couch liegen hatte und ich zog ihn unter drängenden Blicken über. Blicke, die seine Tränen nicht mehr lange zurückhalten konnten. Ich hatte darauf bestanden, dass er mir zuerst sagte, was los war. Ich wollte wissen, warum er so aufgelöst war. Aber er hatte nur sinnlose Worte gestammelt. Wortfetzen, aus denen ich nichts schließen konnte. Ich hoffte, dass sich was auch immer es war, bald klären würde. Ich war gerade erst aus diesem »Traum« aufgewacht, bei dem ich beinahe gestorben wäre. Aber die jetzige Sache schien erst zu sein. Erstens, weil Ger sich nie durch etwas aus der Fassung bringen ließ und nichts seine harte Schale durchdringen konnte und Zweitens, weil etwas mit mir nicht stimmte. Meinem Kopf fehlte etwas. Immer, wenn ich mich an den Traum zurückerinnern wollte, begannen unbeschreiblich starke Kopfschmerzen, die schwarze Leere an Informationen über die letzten Stunden zu füllen.

Ger packte mich am Handgelenk und Zog mich in Sekundenschnelle auf seinen Rücken. Er nutze seine Kräfte. In meiner Anwesenheit. Irgendetwas stimmte hier gewaltig nicht. Er rannte nach draußen und sprintete durch die Gänge des Krankenhauses. Meine Haare peitschten in mein Gesicht und meine nackten Füße waren eiskalt durch den Wind, den er bei seinen Bewegungen aufwirbelte. Als er in einem Raum die Tür aus den Angeln riss und sie einfach in eine Ecke warf, setzte er mich ab. Zimos Blick war verwundert. Verwundert, mich überhaupt schon hier zu sehen, wo ich doch einige Stunden an den Geräten hängen sollte.

Ich drehte mich zu Ger um, damit er es ihm erklärte und zuckte zusammen, als ich ihm in die Augen sah. Diese schwarzen Augäpfel und die stechend grünen Pupillen. Ich würde mich wohl niemals daran gewöhnen.

»Was hast du mit ihr gemacht? «, fing Ger an, seine Stimme klang weinerlich. Zimo stellte ein Reagenzglas auf einen Tisch und kam näher zu uns. Bei Zimos ratlosem Blick schluchzte Ger. Er holte tief Luft und fuhr sich mit seinen Händen übers Gesicht. Ich war sicher, dass er weinen würde. Obwohl ich mir gar nicht ausmalen wollte, wie schlimm die Situation war, wenn Gereon David Grund zum Weinen hatte.

Seine nächsten Worte allerdings, waren mit so viel Kraft und Nachdruck, dass ich dachte, sie kämen von einer anderen Person. »Sie weiß nicht mehr, wer Travis ist.«

Der Kloß in meinem Hals vergrößerte sich mit jedem Blick, den Ger und Zimo tauschten. Wenige Minuten später saß ich auf einem unbequemen Metallstuhl. Langsam fragte ich mich, wie viele Räume dieses Krankenhaus eigentlich hatte. Die Antwort war, sehr viele.

Die Wände des Raumes waren weiß gestrichen, so wie auch der Boden und das Inventar. Das einzig farbige an der Einrichtung war eine Maschine, die vor mir auf dem Tisch stand. Ich vergrub meine Nase in Gereons Pulli. Er roch gut. Nach Herbst. Ich liebte den Herbst.

Mit zittrigen Fingern befestigten Ger und Zimo kleine weiße Plättchen an meinem Kopf. Jedes mal zuckte ich unter ihrer Berührung zusammen. Und jedes Mal schreckten sie hoch. Ich konnte ihre Herzen hören. Sogar die von Nathan und Jules, die nun in den Raum gegenüber hereingestürmt kamen. Ich hörte nichts mehr außer ein Piepsen. Ich sah Nathan durch die Fensterscheibe, die die beiden Räume miteinander verband. Seine Lippen bebten, als er zu dem Glas hinging und seine Hände dagegen drückte. Seine Augen waren weit aufgerissen. »Lasst mich rein«, hörten wir das dumpfe Klopfen, mit dem er gegen die Fensterschreibe schlug. Zimo hob den Blick und sah Nathan lange an. Dessen Schultern bebten mit jedem hektischen Atemzug, den er tätigte. Ich wollte aufstehen. Zu ihm hingehen oder wenigstens seine Hand durch die Scheibe berühren, so wie sie es in Filmen immer taten, bevor alles wieder gut wurde. Und ich wollte, dass alles wieder gut wurde.

Doch all meine Hoffnung wurde durch ein einfaches Kopfschütteln von Zimo zu Nichte gemacht. Ich ließ die Schultern sinken und sah Nathan an. »Ich liebe dich«, formte ich tonlos mit den Lippen. Nathan blinzelte. »Ich dich mehr«, hörte ich ihn flüstern. Dann befestigten sie das letzte Plättchen an meinem Kopf. »Kannst du mich hören?«, fragte Zimo durch einen Lautsprecher aus dem anderen Raum. Ich konnte mein Spiegelbild in der Scheibe sehen. Ich sah abgemagert aus. Wann hatte ich eigentlich zuletzt etwas wirklich Nahrhaftes gegessen? Ich spürte, wie ich nickte und Zimo fuhr fort. »Ich werde dir jetzt verschiedene Dinge sagen und mir ansehen, was sie in deinem Kopf auslösen. Wenn dies nichts bringt, wird Nathan zu dir reinkommen und seine Kräfte benutzen. Wir versuchen dies aber zu verhindern, weil er sie nicht kontrollieren kann und wir nicht genau wissen, was für Schäden dadurch angerichtet werden können.« Ich schluckte, nickte aber wieder. Ich konnte ihre Blicke spüren ohne hinzusehen. Sie alle standen hinter dem Fenster und sahen mich an. Nathan, Ger, Jules und Zimo. Sie alle würden nun in meinen Kopf sehen können. Und allein der Gedanke daran ließ mich überlegen, all das einfach abzubrechen.

Ich schloss automatisch die Augen, als das Surren anfing. Ich konzentrierte mich darauf. Ich wusste, dass ich mich darauf konzentrieren musste. So wie damals, als ich den Zauber in Zimos Praxis durch Ablenkung geblockt hatte. Nun musste ich die Blockade in meinem Kopf loswerden. Denn laut ihnen allen war es sehr wichtig, dass ich mich an diesen Travis erinnerte. Sie hatten mir nicht gesagt, weshalb. Aber ich konnte es mir denken: Selbst, wenn ich ihn nicht gut gekannt hatte, denn sonst hätte ich ihn bestimmt nicht vergessen, war er für die Jungs vielleicht sehr wichtig.

Ich rief mir in den Kopf, dass dies hier Zimos Erfindung war und er sie schon gut genug getestet hätte. Das hoffte ich. Obwohl ich wusste, dass dem nicht so war. Er arbeitete zwar schon lange an diesem Apparat, der Einblicke in meinen Kopf geben sollte, aber gänzlich fertig war er noch nicht. Eine Maschine, die ihm Einblicke in meinen Kopf gewährte. Ich ließ mir dies auf der Zunge zergehen. Und wenn ich gar nicht wollte, dass sie in meinem Kopf herum forschten? Schließlich waren meine Gedanken der Inbegriff der Intimität und Privatsphäre. Aber scheinbar war dies ein Notfall. Und theoretisch konnte nichts passieren. Theoretisch. Denn das letzte Ritual war auch schon eine Zeit lang her und vielleicht hatte sich durch die Zeichnung alles geändert. Vielleicht war ich nicht mehr unsterblich. Mit Sicherheit konnte man das also nicht sagen. Aber selbst das hatte Zimo schließlich nicht davon abgehalten, den Apparat einzuschalten, sodass ein Bildschirm im Raum hinter dem Spiegel aufleuchtete. Ein Bildschirm, vor dem sie sich alle schirmten und zusahen, wie ich durch meinen eigenen Kopf lief.

Aber ich kannte niemanden namens »Travis«. Generell war der Name komisch. Klang wie ein Einkaufsladen. »Kaufen sie noch heute bei Travis ein, ihr Markt für Kosmetikwaren und Lebensmittel«. Einfach lächerlich.

Mir war noch immer unklar, weshalb ich mich an einen Toten erinnern sollte. Wäre es nicht besser, wenn ich ihn gar nicht kennen würde? Damit ich ihn nicht vermisste? Ich vermutete, dass die Jungs auf eine Art Auferstehung hofften. »Unmöglich«, hätte ich vielleicht früher gedacht. Aber in dieser Welt war nicht mehr unmöglich. Und es war hauptsächlich das, was mir Angst machte.

~

Schwarze Wände. Schwarze Böden. Nichts als unendliche Leere und doch war das hier nur ein Bruchteil des Möglichen. Ein kleiner Raum in meinem Kopf, der komplett leergefegt war. Ich befand mich bereits an der Stelle, an der ich nach Travis suchen sollte. Nur, dass hier absolut keine Anhaltspunkte waren. Überall diese Leere. Sie machte mich traurig. »Siehst du etwas?«, hörte ich Zimos Stimme von den Wänden widerhallen. »Nein«, sagte ich leise und erschrak, als sich dennoch ein lautes Echo daraus bildete. Ich hatte Angst. Obwohl ich mich nur in meinem eigenen Kopf befand.

Zimo begann damit, ihn zu beschreiben. Etwas vollkommen Sinnloses. Schließlich war hier niemand zu sehen und meine Fantasie nicht gut genug, um mir genau diesen Jungen vorzustellen.

Es folgten Erzählungen von seinem Charakter. »Er ist witzig, lacht mehr über seine eigenen Witze als andere. Er ist ein guter Mensch. Steht für das ein, an das er glaubt. Hilft denen, die er liebt. Er ist der perfekte Freund.« Es war Gereon, der dies sagte und ich konnte mir vorstellen, wie schwer ihm das fallen musste. »Er war mein bester Freund...«, vernahm ich ein leises Flüstern von Nathan, das mir sofort Gänsehaut bereitete. »Was hatte ich mit ihm zu tun?«, fragte ich, während ich einen Fuß vor den Nächsten in diesem setzte, ohne etwas zu sehen. Nur Dunkelheit.

»Wie wir alle steckt er in dem hier drin. Er wünschte sich die Fähigkeit, Gedanken zu lesen und sie beeinflussen zu können. « Ich lächelte schief. »Ein neugieriger Mensch«, stellte ich leise fest. Ich konnte spüren, wie die Jungs lächelten. »Sind wir das nicht alle?«, sprach Ger durch das Mikrofon.

»Sag mir etwas, das mich und ihn verbunden hat oder so. Wie habe ich über ihn gedacht? Wie fand ich ihn? Kannte ich ihn überhaupt richtig?« Ein leises Schnauben. »Ob du ihn kanntest?«, fragte Ger ironisch und mit seinen Worten schwang Trauer mit. »Er war dein bester Freund. Du hast ihn geliebt.« Ich schluckte und schüttelte leicht den Kopf. »Das kann nicht sein«, meinte ich. »Wäre er mir wichtig gewesen, würde ich mich noch an ihn erinnern.« Der Boden dieses Raumes war komisch. Bei jedem Schritt hörte ich ein Geräusch, als würde ich über einen Boden laufen, der wenige Zentimeter mit Wasser bedeckt war. Ich hockte mich hin. »Du bist dabei gewesen, als er gezeichnet wurde. Du hast seine Schmerzen aufgenommen. Seine Kräfte. Ohne dich hätte er die Zeichnung nicht überlebt.« Ich beugte mich über das Wasser und blickte tief in die Dunkelheit. Aber diese hier war anders. Sie schien so gefährlich und einladend zugleich. Ich streckte meinen Arm aus und berührte das Wasser. Es war tief. So tief, dass ich nicht bis zum Boden fassen konnte. Ich seufzte. Ich sollte tief in meinen Erinnerungen graben. Tief. Tief, wie diese Gewässer waren. Vielleicht eine Metapher. Vielleicht waren all das hier Metaphern, die ich nicht deuten konnte. Aber eben nur vielleicht.

Noch einmal sah ich hinunter in die Schwärze. Absolut nichts konnte man erkennen. Ich konnte nicht mal sagen, ob es sich überhaupt um Wasser handelte, das da unten auf dem Boden lag. Aber wie konnte meine Hand dort hindurchfassen, wenn ich darauf laufen konnte, als sei ich Jesus? Ich stand auf und sprang über den Boden. Das Wasser plitschte, aber ich ging nicht unter. »Was tust du da?«, fragte Zimo. »Ich dachte, ihr könntet mich sehen?«, antwortete ich leicht irritiert. »Das können wir auch. Aber ich kann nicht nachvollziehen, was du gerade versuchst.« »Außerdem ist es dunkel«, bemerkte Jules leicht ironisch. Ich seufzte. »Ich werde tauchen«, sagte ich fest entschlossen und kniete mich erneut auf den Boden.

»Warte, was?«, hörte ich Zimo hysterisch fragen. Dann hielt ich die Luft an und ließ mich kopfüber in das Wasser fallen. Es funktionierte. Ich tauchte. Durch schwarzes Wasser, in dem ich nichts und doch mehr als vorher sehen konnte. »Er war es, der dich von deinem ersten Besuch in meiner Praxis abholte«, redete Zimo gespannt weiter. Ich konnte heraushören, dass er beeindruckt von meiner Idee war. »Danach warst du mit ihm in der Milchshakebar. Für uns nichts besonderes, aber du hattest vorher noch nie sowas gesehen. Es schien dir zu amerikanisch für London«, meinte Nathan. Ich lächelte etwas schief. »Ich kann mich an die Bar erinnern. Nur nicht daran, dass ich mit ihm dort war. Ich war alleine dort«, versuchte ich es zu erklären. Ich konnte reden. Unter Wasser. Oder was auch immer das hier war.

Um mich herum stiegen Blasen auf. Es war nicht mehr ganz dunkel. Ich konnte meine Hände sehen. Erahnen. Aber es war mehr als vorher. »Wir machen etwas richtig!«, verkündete ich erfreut und spürte, wie meine Angst etwas zurückging. Und doch war das alles hier suspekt. Ich schwamm in meinen Erinnerungen. Den Erinnerungen an einen Toten. An meinen toten besten Freund. Und obwohl es nicht ausgesprochen war, wusste ich es: Es lag an mir, ob wir ihn ins Leben zurückholen konnten, oder nicht.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top