24


»Lissa«, keuchte Zimo, als er an unserem Tisch ankam. Er war schweißgebadet. Ob er von Zuhause bis hier her gerannt war? So sah er jedenfalls aus. »Du musst auf der Stelle mitkommen.« Er holte tief Luft und packte mich am Handgelenk. Automatisch stand ich auf. »Was ist denn los?«, fragte ich und sah ihm in die Augen. Er sah zu Boden und dann tief in meine Augen. »Wenn du nicht sofort mit mir kommst, werden Travis und du sterben!«

Schläfrig öffnete ich die Augen. Ich lag wieder in dem metallischen Krankenbett, das sich in Zimos Praxis befand. Mein Arm hing an einem Tropf und in meiner Nase steckte ein kleiner Schlauch, der unentwegt Luft in mich hinein pumpte. Mein Kopf hämmerte und mein ganzer Körper schien wie gelähmt zu sein. Aus dem Augenwinkel nahm ich ein weiteres Bett wahr, das zuvor noch nicht dort gestanden hatte. Erleichterung überkam mich. Travis. Doch seine Augen waren geschlossen. Auch er war mit mehreren Geräten verbunden, die in regelmäßigen Abständen verschiedene Pieptöne von sich gaben. Ich konnte meinen Kopf nicht bewegen. Ich konnte nichts außer meiner Augen bewegen. Nur meine Sinne funktionierten. In meine Nase stieg der penetrante Geruch von Zitronenreinigungsmittel und damit trat jemand an mein Bett. Es war Nathan. Sofort wollte ich mich aufsetzen und ihn fragen, was hier los war, doch ich konnte mich nicht rühren. Hilflos sah ich ihn an. Er schluckte. »Du bist wach«, sagte er leise, wie ein Krächzen. Erschrocken und verängstigt. Er setzte sich auf den Arzthocker, mit dem Zimo immer fröhlich durch das Zimmer fuhr, neben mein Bett. Doch Zimo war hier nirgends zu sehen. Das war ein schlechtes Zeichen. »Erinnerst du dich?«, fragte Nathan flüsternd und sofort breitete sich Gänsehaut auf meinen Armen aus. Dieses Flüstern machte mich verrückt...

Ich wollte den Kopf schütteln. Ich hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Woran sollte ich mich erinnern? »Denk an das letzte, das du noch weißt«, sprach er weiter. Ich schloss die Augen. Musste mich anstrengen um auch nur einen einzigen klaren Gedanken fassen zu können. Mein Gehirn qualmte förmlich. Wenn ich versuchte, mich zu erinnern, war alles wie ausgelöscht. Dann fiel es mir ein. Vor einigen Minuten hatte ich noch mit den Jungs in der Milchshakebar gesessen und über unsere zukünftigen Pläne geredet. Dann war Zimo hereingestürmt und hatte etwas davon erzählt, dass Travis und ich sterben würden. Moment.

Ich öffnete wieder die Augen und schielte zu Travis rüber. Er lag ebenso reglos da wie zuvor. Ich spürte, wie meine Kehle austrocknete. Wenn wir sterben würden, ich aber unsterblich war, dann bedeutete das, dass Travis...

»Erinnerst du dich?«, fragte Nathan und zog mich somit wieder in die Realität zurück. Ich blinzelte zweimal. Hoffte, dass er den Film kennen würde, in dem dieses Zeichen für »Nein« stand. Der Anflug eines traurigen Lächelns huschte über sein Gesicht. Er kannte den Film. Dann wurde er wieder ernst. »Es ist wichtig, dass du dich erinnerst, Lissa. Davon hängt dein Leben ab. Ich habe keine Zeit und nicht die Erlaubnis, dir mehr zu sagen. Aber du musst dich erinnern. Sofort.« Ich spürte, wie ich wieder schläfrig wurde. Meine Augen fielen zu und das letzte, was ich hörte war ein panisches »Lissa!« von Nathan.

Ich rannte. Hektisch, panisch, ängstlich. Als verfolgte mich etwas, das mein Leben beenden wollte. Der Boden war steinig und uneben, obwohl dort nichts war, außer einer schwarzen Platte, über die ich mit meinen Füßen in Sekundenschnelle schwebte. Ein Ende des Raumes war nicht zu sehen, ich hätte es schon tausende Male erreichen müssen. Doch die weißen Wände schienen sich mit jedem Schritt weiter von mir zu entfernen. Der ganze Raum war von gleißendem Licht erhellt, das auf meiner Haut und in meinen Augen brannte. Und noch immer rannte ich. Um mein Leben. Obwohl mich nichts verfolgte. Es wurde anstrengend. Am liebsten hätte ich aufgehört. Aber ich konnte nicht aufhören. Etwas in mir verhinderte, dass ich meinen naiven Gedanken nachging. Ich musste träumen. Träume waren Illusionen. Nicht real. Und im Traum geschah nichts, das Auswirkungen auf die echte Welt hat. Plötzlich stand jemand vor mir und brachte mich zum stehen. Zimo. Er sah liebevoll und hilfsbereit aus, wie immer. Trug seinen weißen Apothekerkittel und ein graues T-Shirt und Jeans darunter. Seine weißlichen Haare standen wie bei einem verrückten Professor zu Berge und wieder fragte ich mich, weshalb er sie färbte, wo seine Naturhaarfarbe, seinem Dreitagebart zu urteilen, doch schwarz war. Aber mein Denken wurde gestoppt, als er mich mit seinen giftgrünen Augen durchbohrte. Er war wütend. Fragend sah ich ihn an.

»Träume sind Illusionen. Nicht real. Im Traum geschieht nichts, das Auswirkungen auf die echte Welt hat«, äffte er meine Stimme nach, betonte dabei aber jeden Vokal extra und zischte die S-Laute. Meine Hoffnung, dass er mir helfen würde hier rauszukommen verschwand, so schnell wie sie gekommen war. »Träume sind etwas viel komplexeres. Sie sind nicht einfach in Worte zu fassen oder erklärbar. Eine genaue Definition darf es dazu gar nicht geben. Das Wort steht für verschiedene Interpretationsweisen.« Zimo sah mich enttäuscht an. Genau diese Worte hatte er schon einmal zu mir gesagt. Und ich hatte sie nicht behalten. Er sah mich traurig an. »Deine erste Chance ist vertan«, sagte er leise und verpuffte. Ich riss die Augen auf. Was hatte das zu bedeuten? Welche Chance? Und warum konnte sich Zimo in Luft auflösen? »Es musste ein Traum sein«, schoss es mir wieder durch den Kopf. Aber selbst wenn. Zimo meinte, dass Träume unerklärlich sind. Vielleicht real, vielleicht auch nicht. Das musste ich begreifen. Als hätte die Erkenntnis etwas ausgelöst, projizierte etwas einen Film an die weißen Wände. Oder viel mehr, die Wände wurden zu diesem Film. Es sah so echt aus, als stände ich plötzlich wirklich neben Zimo in der Praxis und legte meine Hand in seine. Und Travis an der anderen Seite. Der Film verschwand und damit kam der Instinkt zurück, dass ich sofort wieder rennen musste. Und das tat ich. Dieser Film musste eine Erinnerung gewesen sein. Ich musste sie irgendwie freigeschaltet haben. Dadurch, dass ich auf Zimos Worte eingegangen bin. Vielleicht würde ich so auch noch andere Erinnerungen freischalten. Freischalten...

Ich dachte an Inga, die seit wir bei den Blanes eingezogen waren, ein Spiel auf Richards Tablet spielte. In dem es darum ging, Wege aus einem Labyrinth herauszufinden und damit neue Levels freischaltete. Und dann stand meine kleine Schwester auch schon vor mir. Weinend. In einem Kleid, das dem meiner Traumwarnung zum Verwechseln ähnlich war. Nur ohne die Blutflecken. Ich blieb stehen und wollte ihr meine Hand auf die Schulter legen, doch sie zuckte zurück. »Du hast mir alles verheimlicht. Ich wäre fast wegen dir gestorben. Du weißt nicht, was Realität und was Traum ist. Ich hätte sterben können! « Sie schrie mich an, aber im Innern war sie einfach nur traurig. Enttäuscht. Verraten. Ich hatte sie verraten. »Es tut mir leid, Inga. Ich... ich wollte dich und Mum aus allem raushalten.« Inga schüttelte den Kopf und verpuffte, so wie Zimo vor ihr. Und dann erschien meine Mutter. »Ja, natürlich. Du hattest doch nur Angst, dass dir niemand glauben würde und ich dich vielleicht in eine Anstalt stecke. Würde doch zu mir passen, oder? Die strenge Mutter, die ihren Kindern nicht zuhört und sie wahrscheinlich gar nicht liebt. Ja, ich weiß was du denkst Lissa. « Ich spürte, wie sich alles in mir zusammenzog. Es war meine Mutter, die dort gerade zu mir sprach. Die davon redete, dass ich ihr Liebe zu Inga und mir anzweifelte. »Das stimmt nicht«, sagte ich.

Es stimmte wirklich nicht. So nervig und ignorant meine Mutter manchmal auch sein mochte, sie war dennoch meine Mum. Die Frau, die mich geboren hatte und die mich zu dem Menschen gemacht hat, der ich nun bin. »Ich weiß, dass du alles für Inga und mich tun würdest, wenn es wichtig wäre. Du würdest mir sogar diese ganze Gutenachtgeschichte über Dämonen und Flüche glauben, solange du mich dadurch beschützen könntest. Du würdest mich nie im Stich lassen...« Nun lief mir eine Träne das Gesicht hinunter und ich schluckte. Meine Mutter lächelte traurig. »Du hast deine zweite Aufgabe bestanden. « Und damit löste auch sie sich in Luft auf. Ich atmete zittrig durch. Das alles war ein Test, den ich bestehen musste. Wie von selbst begann ich wieder zu rennen. Dieses Gefühl, verfolgt zu werden, jede Sekunde sterben zu können, sich nicht wehren zu können. Es war grausam.

Die Sache, auf die ich mich eingelassen hatte war grausam. Die Dinge, die die Jungs tun konnten, waren grausam. Wieder blieb ich stehen. Vor mir stand Viola. Ich schüttelte schnell den Kopf. Egal was es war, ich war nicht in der Lage, Viola irgendwas zu erklären oder nachzuvollziehen, was sie sagte. Obwohl ihr Lächeln nun nicht mehr falsch, sondern beinahe friedlich aussah. »Ich möchte wissen, was du über mich denkst, Lissa«, sagte sie. Wieder schüttelte ich den Kopf. »Ich kann dir nicht sagen, dass ich dich mag oder es gut finde, wie du lebst. Aber all das kannst du mir auch nicht zurücksagen. « Sie nickte und ihr Lächeln verschwand. Ich kniff die Augen zusammen und überlegte. »Aber darum geht es doch, oder?« Sie hob den Kopf. »Ich muss nicht jeden mögen. Es wird immer Leute geben, die man nicht wirklich ausstehen kann. Aber ich komme damit klar. Ich akzeptiere dich, so wie du bist und kann zugeben, dass ich dich um manche Dinge beneide. « Nun war ihr Blick überrascht. Aber ich würde ihr nicht den Gefallen tun, ihr zu sagen, wie toll sie war, obwohl sie eine hinterlistige Schlange zu sein schien. Sie lächelte, beinahe schon grinsend. »Damit bist du eine Runde weiter«, sagte sie und verpuffte. Ich bildete mir ein, dass die Luft, zu der sie wurde, nach Lavendel roch.

Ich seufzte, als ich wieder losrannte. Ich wagte es, nach hinten zu blicken. Aber niemand verfolgte mich. Der gesamte Raum war menschenleer. Nur ab und zu tauchten Leute auf, denen ich irgendwas sagen musste. Ich musste Dinge geradebiegen. Aufklären. Wieder gut machen. »Es ist wichtig, dass du dich erinnerst, Lissa. Davon hängt dein Leben ab«, fielen mir Nathans Worte ein. Und damit stand er plötzlich vor mir und brachte mich zum Stehen. Ich wäre ihm am liebsten um den Hals gefallen, doch sein Blick hielt mich zurück. Seine Miene zeigte Wut und zeitgleich Trauer. Obwohl ich mir Sorgen um ihn machte, hätte ich gerne die Augen verdreht. Was hatte ich nun schon wieder falsch gemacht? Hatte ich nicht alles mit Nathan geklärt? Weshalb war er hier?

»Liebst du mich?«, fragte er ohne Umschweife, was mich etwas aus der Fassung brachte. Aber all das war wohl etwas durcheinanderbringend. Ich ging näher zu ihm. »Natürlich liebe ich dich.« Ich wollte meine Hand an Nathans Wange legen, doch er drehte sich weg. »Wie kannst du mich lieben, wenn dein Herz jemand anderem gehört?«, fragte er traurig und drehte den Kopf. Plötzlich stand Travis neben ihm. Ich atmete tief durch. Darauf wollte er also hinaus. Travis sah mich an. »Liebst du mich?«, fragte er leise, ohne Nathan dabei zu beachten. Ich schloss die Augen und sammelte mich etwas. »Travis, das haben wir doch geklärt. Du weißt, dass ich Nathan liebe.« Mein Blick wanderte zwischen den Jungs hin und her. Nathan schüttelte sich. »Du lügst«, meinte er. »Wenn du mich lieben würdest, hättest du gar nicht erst mit Travis gesprochen, du hättest ihn ignoriert. Er wäre dir egal.« Ich lachte auf. »Das heißt, ich darf keine Freunde haben? Nur dich? Soll ich mit niemandem mehr reden außer dir? Tut mir leid, das mach ich nicht.« Nathan funkelte mich böse an. Travis schien enttäuscht.

»Freunde?«, fragte er leise. Ich ließ die Schultern hängen. Die zwei machten mich fertig. »Ja Travis, Freunde. Wir haben das Ganze schon mal ausdiskutiert und du warst einverstanden. Du hast dich auf die Freundschaft eingelassen und du bist mir wirklich sehr wichtig. Freundschaftlich gesehen. Aber ich könnte dich niemals so lieben, wie ich Nathan liebe. Ich bin froh, dass ich dich habe. Und ich liebe dich in gewisser Weise auch. Aber eben nicht so, wie ich Nathan liebe.« »Du hast gesagt, du liebst ihn!«, sagte Nathan laut, beinahe drohend. Ich holte zittrig Luft. »So hab ich das nicht gemeint«, fing ich an, doch Nathan unterbrach mich mit einer Handbewegung. »Du lügst. Du lügst schon immer. Du bist eine falsche Schlange, die sich ihr ganzes Leben so zurechtbiegt, wie sie will. Aber ich mache da nicht mit. Du musst dich entscheiden. Er oder ich. « Seine Worte waren schneidend und bereiteten mir Bauchschmerzen. Es schien, als schnürte mir jemand nach und nach die Luft ab. »Ich biege mir gar nichts zurecht«, sagte ich zischend und funkelte Nathan einen Moment lang an. Dann riss ich mich zusammen. »Ich werde mich nicht für einen von euch entscheiden«, beschloss ich fest.

»Ich kann mit Travis befreundet sein, wenn ich das will und ich kann dich lieben, wenn ich das will. « Nathan schnaufte. Ich biss die Zähne zusammen und konnte meine folgenden Worte kaum fassen. »Und wenn du mich wirklich liebst, dann kommst du damit klar. « Ich vergaß zu atmen, als die Worte raus waren. Travis sah mich mit großen Augen an. Nathan sah mir in die Augen. Lange. Doch ich hielt seinem Blick stand. Erst, als ich zu keuchen anfing, regte sich etwas in Nathans Miene. Ich bekam keine Luft. Das Gefühl zu ersticken nahm die Überhand und ich sank zusammen. Die beiden Jungs stürmten zu mir auf den Boden und legten ihre Hand auf meine Schultern. Ich blickte in Travis dunkle Augen und dann in Nathans. Dann schloss ich meine Augen und öffnete sie wieder. Damit kam meine Luft zurück. Schweratmend hielt ich mir meinen Hals. Die Jungs entspannten sich etwas. »Du hast die letzte Aufgabe bestanden«, sagten sie beide monoton. Dann verpufften sie.

Damit herrschte in dem suspekten Raum wieder die Stille, die mich umhüllte. Eine schreckliche Stille. Ich war allein. Ganz allein. Und im Innern wusste ich, dass niemand mehr kommen würde. Was würde jetzt passieren, wo ich die letzte Aufgabe bestanden hatte? Was würde sich ändern? Wie würde ich hier rauskommen? Das Gefühl, verfolgt zu werden war weg. Ich war alleine. Und dieses Gefühl war sogar noch schlimmer. Ich drehte mich um und suchte nach Anhaltspunkten. Weiße Wände, schwarzer Boden. Tiefer als alles, was ich bisher gesehen hatte. Ich konnte nicht entkommen. Ich war gefangen. Jemand hielt mich gefangen. Und ich verwettete mein Schlüsseldasein, dass es der Dämon war.

Ich hörte ein Klacken. Als würde jemand eine Pistole laden, doch ich sah niemanden. Nur weiße Wände und schwarze Böden. Dann drückte jemand den imaginären Abzug und unbeschreibliche Schmerzen schnellten zu meinem Bein.

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