22
Wir saßen auf einer abgewetzten Couch in Travis' Garage, wo er mit seiner Band probte. Ich hatte dieses Nottreffen sofort nach der Schule einberufen, weil ich, nun ja, Travis aufgesaugt hatte. Und ich musste wissen, ob nur Travis diesen Ausbruch gehabt hatte, oder alle. Am Telefon hatten sie auf jeden Fall nicht sehr überrascht geklungen, dass ich sie sehen wollte. Und ich musste Travis unbedingt seine Kräfte zurückgeben. Ich konnte damit nicht umgehen. Absolut nicht, wenn man bedachte, dass ich von ihm aus dem Chemieraum getragen werden musste, weil ich nach der Manipulation von Mr. Dutchman in Ohnmacht gefallen war. Ich würde nur andere und mich selbst verletzen. Obwohl es anfangs tatsächlich Spaß gemacht hatte, so viel Macht zu besitzen. Ich wollte es nicht zugeben, aber es war ein unbeschreiblich tolles Gefühl gewesen, fremde Gedanken und Taten zu beeinflussen. Aber genau deswegen musste ich sie schleunigst zurückgeben. Allein schon, weil ich nicht die Rolle eines Auserwählten spielte. Sondern die des Schlüssels. Und nicht mal das bekam ich auf die Reihe.
Um Travis seine Kräfte wiederzugeben, fiel mir nur eine Lösung ein: Zimo. Ich würde sofort nach diesem Treffen zum alten Krankenhaus gehen. Und ihn bitten, mir zu helfen. Wahrscheinlich würde er das ganze Malheur als »äußerst interessant« beschreiben, so wie alles, was mit dem Dämonenfluch zu tun hatte. Das war es ja auch. Aber »interessant« war wohl das letzte Wort, mit dem ich all das hier beschreiben würde. Vielleicht eher: tödlich, gefährlich, übernatürlich oder gruselig.
Gruselig war auch der Blick, mit dem mich die Jungs ansahen, als ich ihnen erzählte, dass ich nun Travis' Kräfte in mir trug. Und erschrocken als sie wussten, dass ich sie weder kontrollieren konnte, noch genau wusste, wie ich das Ganze wieder geradebiegen könnte.
»Und du hast sie einfach aufgesaugt?« Ger sah mich ungläubig an. Jules schwieg, so wie immer eigentlich und Nathan hatte natürlich nur die Worte »Travis und Lissa« gehört. Typisch.
»Ich kann nichts dagegen machen. Eure Gedanken fliegen mir quasi zu.« Jetzt blickten sie wieder erschrocken drein. Ich verdrehte die Augen.
»Ich glaube ihr nicht. Reicht es ihr nicht, der Schlüssel zu sein? Muss sie sich auch noch hier in den Mittelpunkt stellen?« Ich sah Ger mit großen Augen an. Dieser schien verblüfft.
»Travis war wieder bei ihr. Travis ist immer bei ihr. Sind sie jetzt etwa sowas wie beste Freunde? Lächerlich.« Ich kniff die Augen zusammen und musterte Nathan. Dieser zuckte die Schultern. »Halt dich doch raus«, meinte er wenig hilfreich. »Glaub mir, wenn ich das könnte, würde ich das.« Aus Jules Kopf drang mir eine bekannte Melodie zu. Es war das Lied, das auch Inga bei unserer Ankunft gehört hatte.
»Ich kann es nicht kontrollieren«, sagte ich. »Deswegen muss ich auch nochmal zu Zimo. Ich schätze, er kann helfen.« Sie nickten. »Also, was ist da heute mit euch passiert?«, fragte ich. »Es ist euch doch auch passiert? Oder nur Travis?« Ger schüttelte den Kopf. »Ich war zu schnell und stark um es zu kontrollieren. Als ich beim Basketballspiel den Ball gedribbelt habe, hat er ein Metertiefes Loch in den Asphalt gebohrt. Und ich war innerhalb von Sekunden in den Umkleiden, als ich mich in Sicherheit vor mir selbst gebracht habe. Ich habe alles dort zerstört, weil ich durch das Kraftvolle Auftreten meine Beine mehrfach gebrochen habe. Zum Glück war nur Nathan bei mir. Aber was ihm passiert ist, war viel krasser.« Sein Blick wanderte zu Nathan, der nun seufzte. »Es ging bei uns beiden gleichzeitig los. Mit einem Mal, fielen alle Vögel am Himmel leblos zu Boden. Sie waren vom Blitz verbrannt. Mit ihrem Aufprallen startete meine Blindheit. Ich konnte nichts mehr sehen. Aber ich wusste, was ich getan habe. Ich habe mich zu den Vögeln vorgetastet und wollte sie heilen. Was eigentlich unmöglich war. Sie waren tiefschwarz gegrillt. Tot. Aber als ich nur daran dachte, dass sie wieder leben würden, heilten sie. Und dann sind sie wieder weggeflogen, als sei nie etwas passiert. Ich habe sie von den Toten auferstehen lassen.«
Er schien dies immer noch nicht begreifen zu können. »Und dann habe ich durch einen einzigen Gedanken Gers Bein geheilt. Dafür brauche ich sonst mehrere Minuten, in denen ich mich konzentrieren und die Verletzung berühren muss. All das konnte ich nicht sehen. Ger hat es mir erzählt. Er hat mir auch erzählt, dass meine Augen schwarz waren. In der Mitte war eine smaragdgrüne Mondsichel, statt der Pupille.« Ich schluckte. Es war bei ihnen allen gleich. »Ich habe mich im Spiegel gesehen, meine Pupillen waren rubinrote Mondsicheln«, meinte Ger. Ich nickte. »Dann war es vom Dämon gewollt, wie ich es vermutet hatte.« Alle Blicke wanderten zu Jules. Er ließ die Schultern sinken. »Ich konnte nicht mehr kontrollieren, wann ich mich unsichtbar machte. Plötzlich, wurde ich mit jedem Augenschließen unsichtbar und bin durch den Boden hindurch gefallen. Im Keller habe ich mein Spiegelbild dann in einem Gasbehälter gesehen. Violett. Meine Mondsichel, mein ich.« Sie alle hatten sich in weiß Gott was verwandelt. Und ich wusste nicht, was es zu bedeuten hatte. »Wir müssen wissen, was mit euch passiert ist«, überlegte ich. »Und wo finden wir das heraus?« Ich lächelte und mein Blick wanderte zu Travis. »In den Büchern von Zimo«, antwortete er mit breitem Grinsen.
Das leerstehende Krankenhaus befand sich am Rande der Stadt und war von Efeu und allen erdenklichen Sträuchern bewachsen. Theoretisch konnte man es nicht mal finden. Das gesamte Gelände war eingezäunt und man kam nur durch ein Loch im Draht hier rein. Die Wände des Gebäudes waren mit buntem Graffiti besprüht und fast jedes Fenster hier war entweder eingeschlagen oder mit hellen Holzplatten verdeckt. Wahrscheinlich war Zimo auch durch eines dieser Fenster hier rein gekommen. Die große Stahltür konnte man nämlich nur von innen öffnen. Daher klopfte ich und hoffte, er würde öffnen. Die Jungs standen in einem Halbkreis um mich herum und beobachteten mich.
Vorwurfsvoll drehte ich mich um. »Möchte mir vielleicht einer von euch mit seinen Superkräften, die ich seit heute Morgen nicht mehr blockieren kann, helfen?« Sie schienen aus einer Art Trance zu erwachen und Ger lief zur Tür. »Wir können es nicht kontrollieren«, meinte er. »Es geht nicht mehr.« Ich verzog das Gesicht und Ger begann zu klopfen. Die Anderen beobachteten wieder still. Ich verdrehte die Augen und lief eine Wand des Gebäudes entlang, bis ich ein eingeschlagenes Fenster fand. Ich brach die letzten Glasscherben heraus und steckte meinen Kopf hindurch. Ein paar alte Stahlbetten, die verrostet und verstaubt in einem Raum standen. Das Gebäude war vor einigen Jahren abgebrannt worden. Zumindest hatte man dies versucht, wie man an den abgeblätterten Wänden und der Asche auf dem Boden sehen konnte. Der hintere Teil existierte nicht mehr, dafür sah es hier noch harmlos aus. Ich kletterte hindurch und öffnete die Eingangstür. Verwundert blickten mich vier Augenpaare an. »Was ist nur los mit euch?«, fragte ich, als sie schläfrig hinter mir her in den Keller trotteten. Hier unten war alles renoviert und sah aus wie in einem richtigen Krankenhaus. Ich entdeckte Zimo an einem Tisch mit Reagenzgläsern, wo er gerade etwas in ein Buch schrieb. »Zimo«, begrüßte ich ihn erleichtert. Er erschreckte sich so, dass ihm die runde Brille von der Nasenspitze fiel. »Wie ich mich immer freue, dich zu sehen.«
Nachdem wir ihm alles geschildert hatten und er mindestens drei Tassen Tee getrunken hatte, führte uns Zimo in einen Nebenraum, dessen Wände nur aus Bücherregalen bestanden. In der Mitte stand ein Tisch, auf dem sich bereits einige Bücher stapelten. Sie alle sahen so aus, als seien sie mindestens hundert Jahre alt und wahrscheinlich waren sie das auch. Ich hätte nicht gedacht, dass Zimo sein Erbe hier lagerte. Wo ja theoretisch jeder hinkommen konnte, der von diesem Ort wusste. Ob er dies nicht bedacht hatte? Doch die siebenfache Verriegelung der Tür ließ auf etwas anderes schließen.
»Ich habe schon davon gehört«, begann Zimo. »Man könnte es als Kern des ganzen Fluchs ansehen. Wobei die Grenzen zwischen Fluch und Gabe verschwimmen. Eure Fähigkeiten und diese neue Mutation gehören meiner Meinung nach zur Gabe. Alle Visionen, Warnungen etc. schreibe ich dem Fluch zu. Der Dämon will euch in dieser Phase, der Zeichnung, davon überzeugen, eure eigentliche Aufgabe weiterzuführen. Denn wenn ihr seine anfänglichen Aufgaben erfüllt hättet, hätte es keinen Fluch gegeben. Er möchte, dass ihr ihm gebt, was er will, und bietet euch dafür beinahe allmächtige Kräfte an.« Er zeigte auf die Überschrift eines Kapitels: Zeichnung.
»Moment, das heißt es gibt eine andere Möglichkeit als den Stein zu finden und den Fluch damit zu brechen? Wenn ihr dem Dämon einfach seinen Wunsch erfüllt, behaltet ihr eure Kräfte und die Warnungen hören aus?« Ich verstand gar nichts mehr. Während Zimo vorwurfsvoll seine Hände in die Hüften stemmte, sahen die Jungs zu Boden. Dann ergriff Ger das Wort. »Es steht nicht zur Debatte, seine Wünsche zu erfüllen. Das geht nicht«, meinte er. Aha, sie wollten es also nicht. »Warum?«, fragte ich und sah Nathan dabei etwas fassungslos an. Wieso hatte er mir nichts erzählt? Verheimlichten sie mir etwa noch mehr?
»Es geht nicht!«, sagte Travis nun scharf. »Find dich damit ab«, sagte Nathan leise. Ich funkelte sie an. »Ich soll also für eine Sache kämpfen, über die ich nicht alles weiß, weil ihr es mir verheimlicht? Fein, dann findet euren Stein halt selbst! « Ich drehte mich um und wollte nach oben gehen. Wollte nicht. Aber ich hoffte, dass ich sie damit genug unter Druck setzten konnte, dass sie es mir erzählten. »Lissa, warte«, meinte Travis und sah seine Mitstreiter an. »Sagen wir, unsere schlimmsten Ängste werden wahr gemacht sobald wir ihm das geben, was er will.« Wieder schien der Boden interessanter zu sein als ich. Ich seufzte. »Na gut.« Dann würde ich halt in Zimos Büchern danach forschen.
»Kommen wir zurück zu euren unkontrollierbaren und unbeschreiblich gefährlichen Superkräften«, wechselte Zimo lächelnd das Thema. »Wie gesagt, man nennt es Zeichnung und es ist Teil der Gabe. Ihr bekommt eure Wunschkräfte und zusätzlich macht euch der Dämon zu Söhnen des Sturms. Oder auch die gezeichneten des Sturms. Ihr bekommt unglaubliche Fähigkeiten aber könnt sie nicht kontrollieren. Das bedarf eine Menge Training und den Willen des Dämons. Nicht nur eure Fähigkeiten haben sich vermehrt und verstärkt, sondern auch die Warnungen und Visionen werden sich verändern. Der Dämon wird viel Nachdruck produzieren, um euch zu überzeugen.« Das Buch zeigte ein Bild eines Auges: es sah so aus, wie die der Jungs, also mit dunklen Augäpfeln und einer farbigen Mondsichel als Pupille. Diese hier war weiß, wie ein Diamant. Ich fuhr über die Zeichnung. »Wer hat diese Bücher geschrieben?«, fragte ich fasziniert von den handgeschriebenen Texten. Zimo lächelte stolz. »Das müsste wohl mein Ururururgroßvater gewesen sein.« »Wer ist das«, hörte ich Nathan fragen. Auch sein Blick ruhte auf dem diamantenen Beispielbild.
»Mein Ururururgroßvater, Michael, hat sich selbst auf das Spiel mit dem Dämon eingelassen. Er hat es zu seinem Lebensexperiment gemacht und alle Geschehnisse dokumentiert.« Zimo fasste in seine Handbewegung die gesamte Bibliothek ein. »Er hat letztendlich sein Leben für seine Forschungen geopfert und seither wird uns das Wissen vererbt. Nun ist es meine Aufgabe, den Gezeichneten dieser Generation beim Brechen des Fluchs oder der Erfüllung der Wünsche des Dämons zu helfen. Und nach mir, die meines Sohnes. Und nach ihm, die seines Sohnes und so weiter.« »Du hast einen Sohn?«, fragte ich überrascht. »Hättest du mir das etwa nicht zugetraut?« Beleidigt verschränkte er die Arme vor der Brust. »Ähm, doch. Aber ich dachte, du bist deine ganze Zeit hier. Alleine. Und forschst irgendwas.« Zimo schmollte. »Ich habe meine Familie, Lissa. Und es ist auch nicht meine Hauptbeschäftigung, nervigen Teenagern wie euch dabei zu helfen, ihr Leben zu retten. Und ich forsche schon mal gar nicht irgendwas, sondern immer sehr bedeutsame und weltverändernde Dinge!« Ich nickte und verzog den Mund, was er als Entschuldigung sehen sollte.
»Heißt das, es gibt noch andere als uns?«, fragte Ger und las den Text auf der vergilbten Seite. »Natürlich gibt es andere. Glaubt ihr, ihr seid die ersten, die dieses Spiel gespielt haben? Man kann eine Spielanleitung dazu im Internet finden.« Ich lachte als Ger überrascht die Augenbrauen hochzog.
»Ich lass euch jetzt hier alleine und werde nach Hause gehen. Zu meinerFamilie. Zu meiner Frau und meinem Sohn!« Dabei sah er mich provozierend an undbetonte quasi alles. Ich nickte und lächelte. »Macht nichts kaputt, wir kümmernuns morgen darum, wie wir eure Kontrolle wiederherstellen.« Dann verließ er denRaum.
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