21
»Er will die Bohlama-Inseln als Stufenfahrtsziel vorschlagen«, sagte Travis, als ich in der Schule ankam. Nathan wollte, dass so wenig wie möglich von uns beiden wussten. Dann war es leichter. Auch wenn ich nicht verstand, warum wir nicht zusammen zur Schule gebracht werden konnten. Schließlich wohnten wir ja in einem Haus. Aber Nathan war Feuer und Flamme für sein Motorrad, mit dem Richard ihn davon überzeugt hatte, diese neue Familie zu akzeptieren. Ich fand es schrecklich, dass diese Leute glaubten, man könnte alles mit Geld regeln.
Ich runzelte die Stirn. »Das wird er niemals durchbekommen.« Travis grinste böse und deutete mit seinen Händen auf sich. Ich lächelte und verdrehte die Augen. »Was macht ihr bloß, wenn der Fluch gebrochen ist und ihr keine Kräfte mehr habt?« Travis' Grinsen verwandelte sich in ein breites Lächeln. »Solange dies noch nicht passiert ist, müssen wir es ja ausnutzen.« Ich nickte lachend. Dann versuchte ich, meinen Spind zu öffnen, doch er klemmte. Ich riss an der Tür, aber bekam sie nicht auf. Travis sah das als ultimative Chance um mir irgendwas zu beweisen. Wahrscheinlich auch, weil Nathan nicht da war. Ich wusste von Ger, dass die beiden beste Freunde gewesen waren. Und ich fand es schrecklich, dass ich das kaputt gemacht hatte.
Travis lächelte selbstüberzeugt und schob mich zur Seite. Dann zerrte er an meiner Schließfachtür und hielt sie plötzlich in den Händen. Er hatte die Tür aus den Angeln gerissen. Erschrocken über sich selbst wechselte sein Blick zwischen Tür und Schließfach, dann sah er zu mir. Auch ich war geschockt. Und plötzlich breitete sich etwas über seinen Augäpfeln aus. »Deine Augen«, flüsterte ich. Seine tiefschwarzen Pupillen waren verschwunden. Stattdessen glitzerte dort ein hellblauer Sichelmond. Ich blinzelte und hoffte, es wäre Einbildung. Aber noch immer war alles an seinen Augäpfeln schwarz und als Pupille existierte diese saphirblaue Mondsichel. Ich nahm ihm die Spindtür aus der Hand und zog ihn in einen nebenliegenden Chemieraum. Seine Stirn war in Falten gelegt und sein Mund stand auf. »Ich, ich sehe dich viel genauer als vorher.« Ich runzelte die Stirn. Was für eine Ironie. Es sah aus, als hätte er bemalte Plättchen über seine Augen gelegt. »Es ist... Wie eine Lupe, wenn ich das möchte. Als wäre ich ein Roboter oder so!« Er streckte die Hände aus und tastete meine Schultern ab. »Ich kann sogar die Fasern deines T-Shirts sehen.« Er zuckte einen Schritt zurück und stoß dabei gegen das Lehrerpult. Dieses schlitterte als sei es federleicht gegen die Tafel, die durch den Schwung von der Wand abfiel. Schweratmend betrachtete Travis sein Werk. Er nahm sich ein Stück Kreide, die auf dem Boden lag und lief ans andere Ende des Raumes. Dann holte er mit aller Kraft aus und schleuderte das weiße Stückchen gegen die bereits eingestürzte Tafel. Beim Aufprall bohrte sie wie eine Pistolenkugel ein Einschlagloch in das grüne Holz. »Was passiert mit mir?« Es war ein verzweifelter Schrei. Ich kam mir mehr als hilflos vor. Mit einem Jungen, der genauso gut der Terminator sein könnte, in einem Raum und ich selbst konnte gerademal zwei Bierkästen halten. Ich atmete tief durch. »Beruhige dich«, sagte ich zu Travis, aber er war sichtlich angespannt. Er hatte Angst. Angst vor sich selbst.
»Bleib weg von mir!«, brüllte er warnend. Er fuhr sich keuchend durch seine kurzgeschorenen schwarzen Haare. Ich ging noch einen Schritt näher zu ihm. »Es ist ok. Du kannst es kontrollieren.« Ich hatte keine Ahnung, wovon ich redete, aber es schien zu wirken. Sein Atem beruhigte sich etwas. »Ich kann dein Herz schlagen hören«, meinte er. »Ich höre, wie viel Angst du hast.« Das war jetzt mehr als beängstigend. »Irgendetwas stimmt nicht mit mir«, flüsterte Travis leise. In jeder anderen Situation hätte ich vermutlich einen blöden Spruch gelassen wie »Ach echt?« aber jetzt ging das nicht. Diese Sache hier war ernst. »Warum funktionieren deine Kräfte in meiner Anwesenheit?«, überlegte ich laut. »Keine Ahnung.« Travis rieb sich mit seiner Hand übers Gesicht. »Aber das sind nicht meine Kräfte«, meinte er. »Ich kann Gedanken lesen und manipulieren. Nicht mehr und nicht weniger.« Ich schüttelte den Kopf. »Was, wenn der Dämon dir zeigt, welche Macht du bekommen kannst, falls du den Fluch bestehen lässt und ihm stattdessen gibst, was er will. Wenn es ein Vorgeschmack auf das ist, was kommen kann.« Als wäre es eine Antwort des Dämons persönlich, zuckte ein Blitz über den Wolkenverhangenen Himmel. Travis schrie schmerzverzerrt auf. Er hielt sich den Kopf, als würde er ein hohes Piepsen hören, das nur für seine Ohren bestimmt war. Schnell rannte ich zu ihm. »Travis, was ist los?« Nun kniete er am Boden und ich kam zu ihm runter. Seine Augen waren zusammengekniffen, sein ganzer Körper angespannt. »Ich, aahh...« Wieder ein Schrei. »Es sind zu viele...«, brachte Travis raus. Er kniff die Augen noch stärker zusammen und baute solch einen Druck auf seinen Kopf aus, dass ich befürchtete, er würde ihn zerbrechen. »So viele Stimmen...« Ich runzelte die Stirn. »Hör nicht hin«, sagte ich leise. Er schüttelte den Kopf. »Ich...kann...nicht.« Ich holte zittrig Luft. »Mit genügend Training kann Lissa eure Kräfte absorbieren«, schossen mir Zimos Worte durch den Kopf. Ich verzog das Gesicht zu einer hilflosen Grimasse. Dann atmete ich durch und blendete Travis' Schmerzensschreie aus. Ich vergaß die Dinge, die er zerstört hatte. Dachte nicht daran, was er mir antun könnte, indem er mich nur berührte. Alles, worauf ich mich konzentrierte, war die leise Stimme in meinem Kopf, die mir Mut zusprach. Ich konnte es schaffen. Selbst ohne Training. »Sei stark, Lissa«, das hatte Ger bei unserer ersten Begegnung auf der Party gesagt. Schon ironisch, dass ich ausgerechnet jetzt daran denken musste. Aber es machte mich stark. Es musste mich einfach stark machen. Vier Jungs hatten mir ihr Leben anvertraut und ich musste ihnen helfen. Ich musste dafür sorgen, dass sie es schafften.
Ich legte meine Hand auf Travis' Schulter und stellte mir vor, wie all seine Schmerzen in mich übergingen. Dachte an eine saphirblaue Linie aus Macht, die von ihm in mich floss und seine Schmerzen auflöste.
Das Licht flackerte und eine Glühbirne nach der anderen zersprang und ließ gelben Funkenregen auf uns hinab fallen. Noch ein Blitz am Himmel. Donner. Die blaue Linie in meinem Kopf. Ich spürte, wie Travis Schmerz in mich überging. Es funktionierte! Ich kniff die Augen zusammen. Tausende Stimmen redeten in meinem Kopf durcheinander. Ich hörte alles. Jedes Wort, das in den Mauern der Schule gesprochen oder sogar gedacht wurde. Die Trillerpfeife unseres Sportlehrers, eine Toilettenspülung nach der anderen, den Regen, der gegen die Fensterscheiben prasselte und ein leises Knirschen, als würde jemand hohen Druck auf Glas ausüben. Ich riss die Augen auf und spürte, wie mich unausweichliche Atemnot packte. Ich konnte nicht mehr atmen. Stattdessen hörte ich, wie Travis' Atmen sich langsam beruhigte. Dann schrie ich auf. Mein Kopf drohte zu platzen. Ich sah alles verschärft. Dann versuchte ich mich, auf die Reagenzgläser vor mir auf dem Tisch zu konzentrieren. Aber ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Dafür herrschten in meinem Kopf viel zu viele chaotische Stimmen. Ich nahm meine Hand von seiner Schulter und ächzte nach Luft. Es war, als schnürten mir die Stimmen die Kehle ab. Und dann verließ mich meine Kraft. Und während mein Kopf auf dem kalten Laminat aufprallte, zersprangen die Gläser auf dem Tisch in mikroskopisch kleine Glassplitter.
Ich schreckte hoch und holte tief Luft. Ich konnte wieder atmen. Die Stimmen in meinem Kopf waren verstummt und stattdessen hörte ich nichts mehr außer eines dumpfen Fiep Tons. Ich lag noch immer auf dem Boden des Chemiesaals. In meinen Armen und Beinen steckten Glasscherben, die auch mein Gesicht zerschnitten hatten. Travis kniete vor mir. Seine Augen waren wieder normal und blickten mich angsterfüllt an. Er schien mit mir zu sprechen, aber ich hörte nichts. Nichts außer diesem Ton, den ich nicht greifen konnte. »Du musst sie rufen«, drang seine Stimme zu mir durch. »Du musst nach ihnen suchen.« Ich drehte meinen Kopf zur Seite. Ich wollte niemanden rufen. Ich wollte einfach nur hier liegen und mich von dieser komischen Situation erholen. »Lissa, du stirbst«, sagte Travis leise. Ich brachte die Kraft auf, meine Augen zu verdrehen. »Ich kann nicht sterben, Dummerchen.« Ich lächelte. Diese Ruhe tat gut. Endlich war es still. Es war nie so schön still. »Sei stark, Lissa«, sagte Travis und sah mir dabei in die Augen. Ich lachte. Das gleiche hatte mich eben stark gemacht, als ich Travis' Kräfte absorbiert hatte. Moment mal, ich hatte seine Kräfte absorbiert. Das heißt, ich konnte sie jetzt nutzen. Ich versuchte mich anzustrengen, ich wollte Travis' Gedanken lesen. Aber ich schaffte es nicht. Ich war nicht stark genug. Nicht mehr. Obwohl ich durch seine Macht stärker geworden sein musste. Ich war schwach. Zu schwach, um mich in meinen Gedanken mit Nathan, Gereon oder Jules zu verbinden. Obwohl dies eine der leichtesten Übungen der Jungs war. Ich seufzte und setzte mich auf. Dann rieb ich mir den Kopf und das Piepen verschwand. Aber zu meiner Erleichterung blieben auch die Stimmen aus. Ich sah Travis an. Ein Glassplitter steckte in seiner Wange. Ich verzog das Gesicht und befreite ihn vorsichtig davon. »Mir geht es gut«, sagte ich dann und rappelte mich auf. Ich klopfte mir den Staub von der Jeans, der über dem Raum lag, wie ein weißlicher Filter. Die Lampen waren durchgebrannt, das Pult und die Tafel zerstört, das Glas der Behälter zersprungen, sodass undefinierbare Chemikalien auf den Boden tropften. »Alles ok? «, fragte ich Travis. Dieser sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Du fragst, ob bei mir alles ok ist? Du hast soeben meine gesamten Fähigkeiten in dich aufgenommen und lagst bewusstlos auf dem Boden! « In seiner Stimme schwang sowohl Angst als auch Ironie mit. »Mir geht es gut«, sagte ich mit Nachdruck und Travis entspannte sich etwas. Dann nickte er. »Wir müssen hier raus, bevor jemand uns dafür verantworten kann.« Sein Blick fiel auf das Chaos, das wir hier angerichtet hatten. Dann nahm er meine Hand und wollte mich aus dem Raum ziehen, aber jemand stand in der Tür. »Zu spät, würde ich sagen.«
Es war mein Chemielehrer – Mr. Dutchen. Ich seufzte und Travis sah mich an.
»Du musst ihn manipulieren«, flüsterte er.
»Er muss vergessen, dass wir das hier waren. Ich werde Zuhause dafür umgebracht!«
Ich schluckte.
»Ich kann nicht«, murmelte ich. »Ich weiß nicht wie...«
»Das hat dich eben auch nicht abgehalten!«
»Das war eine ganz andere Situation!«
Mr. Dutchen sah uns wartend an. Ich grinste entschuldigend. Ich hatte noch nie gesehen, wie Travis seine Kräfte benutzt hatte, weil sie in meiner Gegenwart ja nicht funktionierten. Müsste das dann nicht heißen, dass sie bei mir gar nicht funktionieren konnten? Müsste sich mein Mechanismus nicht dagegen sträuben, Magie aufzunehmen? Als Schlüssel?
»Das alles ist viel komplizierter.«
Wohl wahr, Zimo.
Ich stellte mich vor Mr. Dutchen und sah ihm tief in die Augen. Dann konzentrierte ich mich auf seinen gelangweilten grauen Blick, mit dem er mich ansah. »Mrs. Thess ich verlange, dass sie mir umgehend mitteilen, was hier vorgegangen ist!« Er schob seine runde Brille hoch, die ihm immer wieder auf die Nasenspitze rutschte, weil er so abgemagert war. »Travis uns ich haben damit nichts zu tun«, fing ich an und stellte mir vor, wie ich in seinem Kopf eine Uhr zurückstellte. »Wir waren gar nicht hier«, sprach ich weiter. Mr. Dutchens Blick wurde immer müder. Er starrte mich an, doch er sah mich nicht. »Sie werden nun vergessen, was sie in den letzten zehn Minuten gesehen haben. Sie wollten sich auf ihren Unterricht vorbereiten und haben das Zimmer verwüstet und zerstört vorgefunden. Sie haben keine Ahnung, was hier passiert sein könnte.«
Bitte, bitte, bitte!
Ich spürte, wie Travis die Luft anhielt. Und plötzlich drehten sichmeine Augen in Sekundenschnelle nach oben, sodass ich wie bei dem Ritual inmeinen eigenen Kopf sah. Nur, dass sich diesmal ein Film abspielte, der dieletzten zehn Minuten zeigte, die Mr. Dutchen erlebt hatte. Ich sah, wie errückwärts den Chemieraum verlässt und durch die Flure bis zum Lehrerzimmerläuft, wo er scheinbar vor unserem Zusammentreffen gewesen war. Der Filmzeigte, wie er mit meiner Physiklehrerin spricht und wahrscheinlich versucht,mit ihr zu flirten. Dann endete die Vorstellung und ich spürte, wie meineKräfte schwanden und ich müde wurde.
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