18

Der Test hatte selbstverständlich nicht funktioniert, aber immerhin nicht ausgereicht, um mich umzubringen. Somit hatte ich nun nur noch mit dem Nachgeschmack von Käse und Zimt zu kämpfen, der sich traumatisierend in mir festgesetzt hatte, sodass ich wahrscheinlich nie wieder Limonade würde trinken können.

Ich stellte mir die Frage, ob es folgenlos bleiben konnte, dem Tod durch irgendwelche Grauzonen zu entkommen. Sollte der Tod nicht unendlich, unausweichlich sein? Würde es Folgen geben? Einen Preis, den ich zahlen müsste? Würden die vergangenen Tode nachgeholt werden, sobald das Blut der Jungs nicht mehr in meinem Organismus war? Oder machte ich mir wieder mal zu viele Gedanken und die Chance auf ein halbwegs normales Leben bestand noch immer?

»Du grübelst«, stellte Travis mit schiefem Lächeln fest. Ich riss meinen Blick von den grauen Pflastersteinen des Bürgersteigs los und sah ihn fragend an. Dabei wich ich nur knapp einer Straßenlaterne aus, die ich, in meine Gedanken versunken, gar nicht bemerkt hatte.

»Immer wenn du nachdenkst, ziehst du deinen linken Mundwinkel ein«, erklärte er, ohne das Lächeln einzustellen, sodass ich es automatisch erwiderte.

»Stimmt gar nicht«, behauptete ich.

»Doch! Gerade schon wieder.«

Er lachte.

»Es ist echte Folter, deine Gedanken nicht lesen zu können«, seufzte er.

Ich verdrehte leicht die Augen und richtete meinen Blick wieder auf die Straße.

Wir waren auf dem Weg zum Tendrilstone Cemetery, einem von sechs Friedhöfen, die es in dieser Stadt gab. Ich war überzeugt, dass Gereon diesen Treffpunkt nur ausgesucht hatte, um mir Angst zu machen, oder mich zweifeln zu lassen. Wenn er wüsste, wie sehr ich bereits an mir zweifelte, hätte er vielleicht zweimal nachgedacht. Ein Ritual im Sturm auf einem Friedhof bei Anbruch der Nacht. Es war beinahe so klischeehaft, dass es nicht mehr gruselig war. Aber eben nur beinahe.

Wir erreichten das Eingangstor aus schwarzen Eisenstangen, die zu Ranken geschmiedet bestimmt zwei Meter in die Höhe reichten. Die grauen Steinmauern umschlossen das Gelände und alle paar Meter waren Statuen in den Stein eingelassen, deren Gesichter durch rote Friedhofskerzen bereits in der Dämmerung bedrohlich auf mich wirkten. Hinter dem Tor konnte ich verteilt rote und weiße Kerzen erblicken, die vor den Gräbern standen und Schatten auf die Inschriften der schlichten Grabsteine warfen.

Travis musterte mich von der Seite, bevor er mit einem »Na dann mal los« das Tor aufschob, sodass wir nebeneinander hindurchgehen konnten.

Automatisch rückte ich etwas näher an ihn, um mich zu vergewissern, dass ich nicht alleine hier war und durch die Dunkelheit lief. Travis kommentierte dies nur mit einem zufriedenen Aufblitzen seiner weißen Zähne. Schuld keimte in mir auf.

Vermutlich war es falsch, so viel Zeit mit Travis zu verbringen, ihn mit zu Zimos Treffen zu nehmen und mit ihm in der Milchshakebar zu reden, als seien wir gute Freunde. Dabei kannte ich doch seine Gefühle. Ich verschlimmerte die Situation, indem ich bei ihm war. Er könnte sich falsche Hoffnungen machen, vor allem, da wir nicht mehr darüber gesprochen hatten, was an dem Abend als er mich zum ersten Mal nach Hause gebracht hatte passiert war.

Aber es tat so gut, wie er mich mit schlechten Witzen und seinem unterhaltsamen Ego von all meinen Problemen ablenkte. Auch von Nathan. Zugegebenermaßen war es manchmal etwas nervig, wie er von sich selbst sprach, als sei er ein Gott und in der Lage, wirklich alles zu schaffen. Er ging in der Rolle des übermenschlichen Geschöpfes vollkommen auf.

Auf der anderen Seite hatte ich in der letzten Woche so viel gelacht, wie schon lange nicht mehr. Und obwohl ich mich noch immer weigerte, mich dem Alltag der Blanes anzupassen und die Vorstellungen meiner Mutter wie ein liebes Kind zu erfüllen, fand ich langsam Gefallen an meinem neuen Leben und der elektrischen Spannung in mir, die mich jeden Gegenstand so ansehen ließ, als hätte auch er eine zweite Seite, die ich mein Leben lang für Unwirklich gehalten hatte. Auch wenn es mir sehr schwer fiel, dies zuzugeben.

Schmerzhaft zog sich mein Brustkorb zusammen, als ich in Nathans karamellgoldene Augen sah. Diese verband ich mittlerweile mit dem Wunsch, dass nichts mehr zwischen uns stände. Eine lächerliche Bitte und der Glaube an Hoffnung, die für uns wohl nicht existieren sollte.

Die Kerzen warfen einen gelblichen Schein auf sein Gesicht, verschärften die die Schatten seiner vollen Wimpern und der unordentlichen Haare.

Beinahe unbemerkt spannte er sich an und wandte zornig den Blick ab, als er sah, wie nah ich neben Travis lief. Leicht zitternd holte ich Luft, stellte mich aber so nah neben Travis, dass meine Schultern seine Oberarme bei den letzten Schritten streiften.

»Hat es einen besonderen Grund, dass wir uns ausgerechnet hier treffen?«, fragte Jules, als wir an ihrem Kreis ankamen. Er blickte vorahnend in den dunklen Himmel, aus dem nun die ersten Regentropfen fielen. Keine machte Anstalten, sich unterzustellen oder Schutz vor dem Wetter zu suchen. Meine Stoffjacke war bereits nach wenigen Minuten durchnässt und das Wasser lief mir vom Nacken bis zum Bund meiner Jeans, die an den Knöcheln bereits Matschflecken aufwies.

»Man muss dir echt alles tausendmal erklären«, meckerte Gereon ungeduldig und schlug den Kragen seines Mantels hoch. Er sah fremd aus, ohne seine Trainingsjacke, aber der knielange Umhang stand ihm überraschend gut. Weiße Kerzen ragten aus seinen Taschen.

»Du stellst mehr Fragen als die Kleine.«

Jules blickte schuldbewusst auf den Boden.

Ich konnte die Inschrift des Grabes nicht lesen, vor dem wir standen. Aber der Schein der Kerzen reichte aus um festzustellen, dass es ungepflegt war. Die knöchelhohe Grabmauer hielt dem Gewucher aus getrockneten Pflanzen und Efeu nur bedingt stand und Moos und Schlingpflanzen bedeckten den Stein, auf dem der goldene Kelch, das Messer und eine neue Flasche Wein standen.

»Wir haben im Gewittersturm eine bessere Verbindung zum Gott des Gewitters. Macht Sinn, oder? Ich dachte, du hättest dir das Buch durchgelesen?«, sprach Ger abwertend zu Jules. Dieser murmelte etwas, bevor er sich die Kapuze seines Pullovers über die schwarzen Haare zog.

»Warum heute?«, fragte ich und konnte förmlich sehen, wie Gereon die Augen verdrehte. »Du gehörst offiziell zum Kreis der Spielenden, hast aber eine ganz andere Verbindung zum Dämon. Wir hoffen auf neue Antworten durch dich«, erklärte Travis. Ich nickte knapp. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, ihnen die Traumvision einfach zu verheimlichen. Mir war es mehr als peinlich, darüber zu sprechen, doch auf der anderen Seite würde ich ihnen Informationen vorenthalten. Informationen, die vielleicht über Leben und Tod entschieden. Und dafür musste ich wohl oder übel mein Schamgefühl überwinden.

»Wir gehen davon aus, dass der Dämon ein sadistisches Geschöpf ist, das in Rätseln spricht und Menschen terrorisiert?«, vergewisserte ich mich. Fassungslos starrte Ger mich an. »Dir ist klar, dass er dich hören kann?« »Siehst du, das meine ich«, antwortete ich und zeigte in den dunklen Himmel. »Wenn er doch alles sieht, alles beobachtet und in unseren Gedanken mit uns kommunizieren kann, dann weiß er, was wir denken und planen.« Ich hatte ihre nachdenklichen Blicke auf mich gezogen. »Er wird uns immer einen Schritt voraus sein«, murmelte Nathan. Ger nahm ein altes Buch aus der Innentasche seines Mantels und schlug es über dem Grabstein auf. »Dazu muss hier doch was drin stehen«, überlegte er. Seite um Seite überflog er das vergilbte Papier, ohne Antworten in der schwarzen Tinte zu finden. »Verborgen, verschlossen, des Schlüssels Bedacht. Die Spieler der Schatten hört er auch bei Nacht.«

Fragend sahen wir ihn an.

»Heißt das...?«, begann ich.

»Der Dämon kann deine Gedanken nicht lesen«, deutete Nathan. »Vielleicht kann er sie nicht mal beeinflussen«, führte Jules die Theorie aufgeregt weiter. »Lissa sieht unsere Visionen, weil sie mit uns verbunden ist, nicht mit dem Dämon.« Ger nickte zustimmend. »Aber sollte sie nicht auch eigene Visionen haben?« »Vielleicht trotzdem nicht vom Dämon geschickt.«

Ich seufzte leicht. »Viel bringt uns das nicht. Ich meine, um wirklich weiter zu kommen, muss ich euch meine Gedanken trotzdem mitteilen. Und was ihr wisst, weiß auch der Dämon.« Ein Donner ertönte wie zur Zustimmung und ließ die Erde beben. Die Jungs murmelten zustimmend. »Es könnte dennoch nützlich sein«, versuchte Jules, uns wieder aufzumuntern. Ich schenkte ihm ein dankbares Lächeln.

»Ich bin in den letzten Tagen zu einigen Theorien gekommen«, setzte ich an. »Ich denke, dass man die Rätsel, in denen der Dämon spricht, metaphorisch deuten kann, ebenso wie die Bücher, die über den Fluch existieren.« Leicht skeptisch hielt Ger in der Bewegung inne, die Weinflasche mit dem weißen Tuch trocken zu reiben. »Inwiefern wäre das dem Dämon von Nutzen?«, fragte Nathan, sichtlich bemüht, die Abscheu in seiner Stimme zu unterdrücken. »Er will unseren Tod«, schob Ger hinterher. »Will er das wirklich?«, fragte ich. »Er will geheimnisvoll und unverständlich wirken, gibt uns aber ununterbrochen Hinweise, damit wir weiter kommen. Ihm gefällt, zu sehen, wie wir scheitern, das Offensichtliche nicht sehen. Er will Spaß.« Die Jungs waren nicht überzeugt von meinen Vermutungen. Ihr Schweigen war da ein eindeutiges Zeichen. »Sonst hätte er euch nicht eure Kräfte gegeben, um euch zu verteidigen, sofern es zu einem Kampf kommen sollte. Er macht euch Mut, schenkt euch durch neue Texte Hoffnungen, erfindet Lösungen aus dem Unlösbaren.« Travis kniff nachdenklich die Augen zusammen. »Ihm gefällt es, dieses Spiel zu spielen. ‚Dämon der Gewitterstürme' genannt zu werden. Weil er sich an der Angst ergötzt, die damit zusammenhängt!« Den letzten Satz hatte ich so laut, mit so viel Nachdruck und Überzeugung gesagt, dass er in meinen eigenen Ohren widerhallte und mich nur noch mehr bestärkte.

»Ich hatte vor einigen Tagen einen Traum, der mir nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Ich glaube, es war eine Vision.«

Nathan sah mich gespannt und vorahnend an, die anderen hörten gespannt zu. Es war ein gutes Gefühl, wie sie mir zuhörten, Hoffnung durch mich schöpften, andere Denkweisen und Blickwinkel erkannten. Ich fühlte mich wichtig, gebraucht und auf eine seltsame Weise geborgen und sicher.

»Ich möchte, dass ihr mir helft, ihn zu deuten. Vielleicht übersehe ich sonst Hinweise oder Spuren, weil ich mich mit dem theoretischen Kram ja nicht wirklich auskenne.«

Ger grinste stolz, als wüsste er tatsächlich etwas über den Fluch und müsste nicht immer wieder nachlesen und sich hinter den Schriften verstecken. Aber immerhin bemühte er sich, vorbereitet zu wirken. Das war mehr, als ich von ihm erwartet hätte und von Travis wohl erwarten durfte. Nathan und Jules schienen zumindest ab und zu über die Zukunft nachzudenken.

»Und erzählst du uns jetzt von dem Traum, oder willst du ihn noch länger für dich behalten?«, fragte Jules und spielte anzüglich mit den Augenbrauen. Ich unterdrückte nur schwer voreilige Gedanken über ihre Denkweise. »Es ging um Nathan«, malte ich ihre realitätsfernen Fantasien noch etwas weiter aus. Nun war es Ger, der das Gesicht verzog und Nathan einen vielsagenden Blick zuwarf. Dieser jedoch starrte nur auf die Flamme einer roten Kerze.

»Ich habe versucht, Nathan vor dem Tod zu bewahren.«

Meine Worte waren monoton und gezwungen emotionslos, weil sich alles in mir zusammenzog, sobald ich an diesen Traum dachte.

Jules hörte abrupt auf, die Schnüre seines Pullis auszuwringen und Ger stand vom Boden auf und musterte mich eingehend. Sie wussten, was es bedeutete.

»In jeder Vision wird uns jemand weggenommen, den wir lieben.«

»Hat der Dämon zu dir gesprochen?«, fragte Travis, seine Stimme war verständnisvoll. »Ja, aber nicht besonders viel. Ich habe ihn angeschrien und er fragte mich, was ich getan hätte. Er sagte, ich stecke zu tief drin und als ich wollte, dass er sich zeigt, sagte er, dass er mir diesen Gefallen nicht tue.«

»Wir helfen. Natürlich«, sagte Ger.

Er lächelte aufmunternd. Ein weiterer Strohhalm, eine mögliche Chance. Aber es waren alles nur Vermutungen und Theorien.

Ich fragte mich, ob ich es wohl verkraften könnte, wenn ich in jedem Punkt falsch läge.

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