12.2
»Wir rufen dich, Gott der Stürme, in dieser Gewitternacht zu uns, um endlich Klarheit über das Unerklärliche zu erlangen.«
Einer nach dem anderen, schlossen die Jungs die Augen. Aber ich konnte meinen Blick nicht vom Flackern des Kerzenscheins abwenden. Es warf unsere Schatten an die Wände und insgesamt wirkten wir nicht mehr wie fünf einfache Jugendliche, die hier saßen und vor Angst fast umkamen. Wir wirkten wie jene, die tatsächlich etwas bewirken könnten.
Plötzlich erschien es mir suspekt, einen Dämon in einem Nebengebäude der Kirche mit »Gott« anzusprechen. Generell schien es falsch, eine solch grausame Kreatur derart zu verehren.
Falls der Dämon der Gewitterstürme tatsächlich existierte. Noch konnten sie alles abblasen. Noch könnte einer aufspringen und rufen »Haha, reingelegt.« Dann wäre alles wie zuvor, nichts würde sich verändern.
Aber sie sprangen nicht auf.
»Zeige uns, ob Melissia Thess der wahre Schlüssel ist. Hilf uns, sie in den Kreis aufzunehmen, der sich verpflichtet hat, dir zu dienen und dich zu verehren.«
Gereon hob seine Hände und mit einem Mal begannen die Wände zu den Geräuschen des Gewitters zu beben.
Ich riss meine Augen noch weiter auf, beobachtete schockiert, wie alles um uns herum wackelte. Das Wasser in der Schale schwappte über und der Kelch und das Messer wurden klirrend aneinander geschlagen. Eine Kerze nach der anderen erlisch und nahm mir die Sicht auf alles außerhalb unseres Kreises.
»Er ist hier«, erklärte mir Jules leise. Ich schluckte schwer und tatsächlich waren meine Zweifel an die Wahrheit über alles Übernatürliche wie weggefegt. Ich begann, den ganzen Spuk tatsächlich zu glauben.
Ger öffnete wie in Trance die Augen und fokussierte sich auf die Flamme der roten Hauptkerze. Ich hielt den Atem an, als er gleichgültig und emotionslos seine Hand durch die Flamme fuhr. Er spielte mit ihr, ohne dass ihn das glühendheiße Feuer beschädigte. Ich war beinahe erleichtert, als er sie endlich von der Kerze wegnahm und in die Wasserschale legte. Dichter Qualm stieg auf und hüllte uns ein, viel zu viel, als dass es natürlich hätte sein können.
»Wir sind von dir gebrannte Kinder und doch scheuen wir das Feuer nicht. Du gibst uns die Kraft, die Grenzen zur Unendlichkeit zu überschreiten.«
Wir nahmen uns an die Hände und plötzlich fühlte ich mich stark, geborgen, sicher. Ein gutes Gefühl, das beinahe meine Angst besiegte. Die Jungs begannen, irgendwelche Worte zu murmeln, wie ein Zauberspruch oder ein Gebet und weil ich ihre genuschelten lateinischen Worte nicht verstehen konnte, driftete ich in Gedanken wieder einmal ab.
Von dir gebrannte Kinder... Sie sollten das Feuer scheuen. Und sie taten dies bloß nicht, weil sie auf den Dämon hörten, ihm vielleicht sogar vertrauten. Und Ger hatte sich nur nicht vor der Kerzenflamme gefürchtet, weil sie alle wussten, wozu das große Feuer imstande war. Und wenn sie sich vor den kleinen Dingen fürchten würden, sie anzweifeln würden, dann wäre wohl alles noch Unerklärlichere zu viel für sie. Aber ich hatte das Gefühl, sie wussten, was sie taten.
Es faszinierte mich, mit welcher Selbstverständlichkeit sie das Ritual durchführten. Als sei es für sie zur Routine geworden.
Die Flamme der roten Kerze wuchs stetig höher, als würde der Dämon persönlich sie nach oben ziehen. Eine nicht auszuhaltende Spannung hatte sich im ganzen Raum aufgebaut, die plötzlich verpuffte, als die Flamme bis zur Decke reichte. Und der Schein der Kerze fiel herunter, war wieder so unbedeutend, wie gewöhnlich. Der Nebel hatte sich gelichtet, die Jungs hatten aufgehört zu murmeln und ich konnte endlich wieder frei Atmen.
Die Jungs öffneten ihre Augen wieder und richteten ihre Blicke auf die Kerze.
»Wir danken dir«, sagte Gereon. Er nickte der Flamme zu, die daraufhin erlosch. Nur noch die Feuerfackeln spendeten uns etwas Licht
»Schließet den Kreis und neue Hoffnung wird walten.«
»Schließet den Kreis und neue Hoffnung wird walten«, wiederholten die anderen.
Gereon griff nach dem Messer und Nathan hielt den goldenen Kelch unter Gereons Hand fest. Ohne sein Gesicht zu verziehen, zog Ger den Dolch über seine Handfläche und sein Blut tropfte mit leisem Widerhallen in den Kelch.
Nathan tat es ihm gleich und schnitt sich ebenfalls in die Hand, ließ sein Blut zu Gereons fließen. Als ich an der Reihe war, zögerte ich und betrachtete die scharfe Klinge.
Der Griff des Dolches war vergoldet und einige bunte Edelsteine waren eingearbeitet. Es schien zu kostbar, um für solch eine Zeremonie missbraucht zu werden. Wo es besser aufgehoben wäre, fiel mir aber auch nicht ein. In eine Küchenschublade hätte es nun wirklich nicht gepasst.
Jules nickte mir aufmunternd zu, umschloss den Kelch mit seinen Händen. Ich atmete durch und zog die Klinge mit leichtem Druck über meine Hand. Sofort bildete sich eine rote Linie, die an meinem Handballen in den Kelch tropfte. Der Schmerz war auszuhalten. Etwas unangenehm, wie ein penetrantes Kribbeln, aber es schmerzte nicht wirklich. Und dennoch war da die Gewissheit, dass ich mir für diesen Dämon gerade die Hand aufgeschlitzt hatte.
Jules reichte mir das weiße Tuch und band es lächelnd um meine Hand, bevor wir tauschten.
Im Gegensatz zu den anderen zog Jules eine schmerzerfüllte Grimasse, als das Messer über seine Haut glitt.
Er reichte den Krug Gereon, der ihn mit dunklem Wein auffüllte. Jeder nahm einen Schluck. Auch hier zögerte ich erst und rief mir ins Gedächtnis, was ich hier gerade tat. Und dann dachte ich daran, dass ich einen Grund hatte.
Zwar war das Blut bis auf einen metallischen Nachgeschmack nicht zu merken, aber mein Kopf wollte nicht schweigen.
Ich hatte soeben Blut getrunken. Wie ein Vampir. Und ich würde noch mehr Blut trinken müssen. Und noch viel mehr vergießen.
»Ceremonia perficit«, beendete Gereon das Ritual und wir nickten. Erleichtert atmete ich auf und löste mich von Jules und Travis' Händen.
»Um aufzuatmen ist es etwas früh, Kleine. Wenn du glaubst, das war ein schwerer Teil, bist du wohl doch nicht allzu pfiffig«, raunte Ger mir zu und nahm einen großen Schluck aus der Weinflasche. »Bist du eigentlich irgendwann gänzlich nüchtern?«, fragte ich leicht angewidert und stand auf. »Der Schmerz wird betäubt«, erwiderte er schulterzuckend und ich glaubte, er würde von seelischen Schmerzen sprechen.
»Soll ich dich nach Hause bringen?«, bot Travis an. Wahrscheinlich war es nett gemeint, aber ehrlich gesagt vertraute ich ihnen dafür noch nicht gut genug. Jedoch belustigte mich die Tatsache, dass Travis mich nach Hause bringen wollte, obwohl Nathan den selben Weg hatte. Nur, dass er zu ignorant war, um mich mitzunehmen.
»Ich nehm den Bus«, sagte ich also extra laut, sodass Nathan es hoffentlich hören und ein schlechtes Gewissen bekommen würde.
»Was hat das Ritual ergeben?«, fragte ich Ger, der daraufhin endlich die Flasche abstellte. Lässig verschränkte er die Arme.
»Natürlich ist er nicht begeistert, dass wir die Notbremse ziehen, aber komischerweise will er uns nicht umbringen, also ist es ganz gut gelaufen«, meinte er schulterzuckend. »Und bin ich die richtige, um den Stein zu finden?«, fragte ich. »Du bist der Schlüssel. « »Und habe ich den Stein schon oder gibt's ne Schatzkarte oder so?« »Das hier ist kein Film«, erklärte Travis. »Wobei eine Schatzsuche bestimmt spaßig wäre«, meinte Jules. Ger verdrehte die Augen, als ich ihn wartend ansah. »Glaubst du, der Dämon des Sturms spricht klar und deutlich?«, blaffte er mich an. »Tut mir leid, dass ich nicht genauer nachfragen konnte, als ich meine Hand für dich ins Feuer gelegt habe.« Travis lachte viel zu sehr über den schlechten Wortwitz.
»Wir werden nächstes Mal bestimmt mehr erfahren«, meinte er.
Ich schnappte mir meine Tasche und verließ den Keller. Es hatte aufgehört zu regnen und die Laternen spendeten zu wenig Licht, als dass ich mich an diesem Ort, nach dem Ritual, auch nur ansatzweise wohl fühlen konnte.
Ich dachte darüber nach, welche der Optionen ich wohl wählen würde. Ob ich die Wünsche des Dämons erfüllen und somit übernatürliche Fähigkeiten behalten würde. Oder ob ich den Fluch brechen und sie verlieren würde. Ohne zu wissen, was der Dämon verlangte, konnte ich mich nicht richtig festlegen. An ihrer Stelle wäre ich wahrscheinlich gar nicht in solch eine Situation gekommen. Und trotzdem war ich jetzt ein Teil dieser Gruppe. Müsste ich dann nicht theoretisch auch eine Superkraft bekommen? Oder lief das mit dem »Schlüssel« irgendwie anders? Und wenn Gereon in Gedanken zum Dämon gesprochen hatte, konnte der Dämon ihre Gedanken dann vielleicht auch lesen? Wie konnten sie solch einem Geschöpf vertrauen? Und ich sollte die Naive sein?
Ich hatte keine Ahnung, was für Entscheidungen man treffen konnte, wenn man betrunken war, aber gehört hatte ich meist nur von amüsanten Geschichten. Wenn man ein Baustellenschild mitnimmt, weil einem die Farbe so gut gefällt, oder man seinem Kaktus die Stacheln abschneidet, damit er nicht mehr so furchteinflößend aussieht. Dass man sein Leben an einen Dämon verkauft, passte irgendwie nicht ins Schema. Und dass man Entscheidungen treffen musste, die über Leben und Tod entschieden, ebenfalls nicht.
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