11
»Hey ihr Süßen«, begrüßte uns Travis. Er schenkte Maja ein arrogantes Lächeln, durch das seine makellosen Zähne zum Vorschein kamen, die durch seine dunkle Haut schon beinahe leuchteten. Er beugte sich zu uns runter und stützte sich lässig mit der Hand an unserem Tisch ab.
»Wir treffen uns morgen in der Kirche. Sei pünktlich, dann haben wir später vielleicht noch etwas Zeit.« Er zwinkerte mir zu und ich schnaubte leise. »Träum weiter«, sagte Maja an meiner Stelle. »In meinen Träumen kontrolliere ich«, warf er ein. »Also sage ich, dass du mir deine Nummer gibst, damit ich nicht jedes Mal Steine an dein Fenster werfen muss um dir etwas mitzuteilen.« Er musterte mich, während ich die Zahlenfolge in sein Handy tippte. Als er es wieder hatte, wandte er sich Maja zu und sah ihr tief in die grünen Augen.
»Du vergisst nun, worüber ich mit deiner Freundin geredet habe. Du kannst dich nur noch an mein umwerfendes Aussehen erinnern.« Er verharrte einige Sekunden in dieser durchdringenden Pose, bis Maja blinzelte und die Augen zu Schlitzen verengte.
»Was hast du gerade gesagt?«
Travis verdrehte übertrieben die Augen und sah mich an.
»Wärst du so nett und würdest für einen Moment den Raum verlassen, damit ich ihre Gedanken beeinflussen kann?« Er klang ungeduldig und gelangweilt, als wollte er nicht mehr Zeit als nötig mit mir verschwenden. Ich lachte auf und betrachtete Maja. Nach kurzem Zögern stand ich tatsächlich auf.
»Ist das deine Taktik um all die Mädchen ins Bett zu kriegen?«, fragte ich leichthin. Er lachte. »Das wollen sie ganz alleine.«
Ich verzog das Gesicht und boxte ihn leicht gegen die Schulter. Dann nahm ich meinen Rucksack. »Ich geh mal meine Schwester suchen«, log ich Maja an, die nur vollkommen verwirrt Travis anstarren konnte. Ich spürte seine Blicke noch bis zum Schulflur in meinem Rücken.
Erst jetzt realisierte ich, was ich soeben getan hatte. Ich hatte die Mensa verlassen, damit ein psychisch gestörter Idiot die Gedanken meiner besten Freundin manipulieren konnte.
Was war nur falsch mit mir?
Und jetzt würde ich mich auch noch mit diesen Typen in einer Kirche treffen und ein Ritual durchführen. Ein Ritual um herauszufinden, wie ich in das ganze reinpasste und ihnen helfen konnte. Und daher war es leider notwendig, zu diesem Treffen zu gehen. Wo Nathan auch sein würde. Ich unterdrückte ein Seufzen und blickte vom Boden auf.
Die Wände des Gangs waren von roten, gelben, grünen und blauen Schließfächern bedeckt. Natürlich war es nicht gestattet, sie mit Aufklebern zu verschönern, so wie wir es an meiner alten Schule gemacht hatten. Dafür war es hier aber überraschend sauber und obwohl mir die ganze Dämonensache gehörig den Appetit verdarb, war das Essen besser, als gedacht.
Viola hatte recht gehabt: dies hier war das weiße Haus im Gegensatz zu der Schule, auf die Inga und ich bis zu den Sommerferien gegangen waren. Auch, wenn es hier wirklich seltsam roch.
Ich blieb stehen. Es hatte doch eben noch nicht so gerochen. Verwirrt sah ich mich um, drehte meinen Kopf nach links.
Ein Streifen aus dunklem Blut zog sich über die Reihe an Schließfächern und lief an mehreren Stellen langsam auf den Boden. Langsam nährte ich mich der Wand. Es war ganz still. Als wäre ich die einzige Person in der Schule. Das einzige Geräusch war das Tropfen des Blutes.
Wie zum Teufel war es möglich, dass ich Blut riechen konnte? Und wie kam es hierher? Ich atmete tief durch und entschied mich, der roten Spur zu folgen. Den Blick immer auf die Wand gerichtet, knallte ich gegen die Holztür eines Klassenzimmers.
Ein blutiger Handabdruck war auf dem Glas zu sehen, durch das man in den Raum blicken konnte. Ich presste die Lippen aufeinander. Vielleicht drehte die Theater-AG hier ja einen Film? Aber dieser Abdruck war wohl zu klischeehaft.
Ich atmete tief durch und sah mich um. Das Licht flackerte bedrohlich, der Flur war menschenleer. Nach kurzem Zögern, drückte ich die Klinke runter und öffnete langsam die Tür.
Die Rollläden ließen nur vereinzelt kleine Lichtfunken durch, die als kleine Vierecke in den dunklen Raum geworfen wurden. Mein Herz schlug mit jeder Sekunde schneller, in der ich hier stand und das ganze Blut betrachtete. Grässlich aussehende Spuren. Als hätte sich jemand mit rotbemalten Händen am Boden festgekrallt und wäre unsanft weitergezogen worden.
Es bereitete mir unbeschreibliche Angst, dass dieses Szenario viel zu echt für einen Film aussah. Dass es sich viel zu echt anfühlte.
Wie in Zeitlupe setzte ich einen Fuß vor den andern, den Blick starr auf die Blutspur gerichtet. Vor dem Pult blieb ich stehen.
Vom Boden aus zog sich hier eine breite Linie bis zur Tischplatte hinauf. Alles in mir sträubte sich, den Kopf anzuheben, aber ich tat es trotzdem. Mein Herz setzte in dem Moment aus, in dem ich sie dort liegen sah.
Mit weit aufgerissenen Augen und angstverzogenem Mund lag Viola da, ihre weiße Ärztinnenbluse in Blut getränkt. Von ihrem gespreizten Finger lösten sich immer wieder kleine Blutstropfen, die eine Pfütze vor der Tafel bildeten. Und die Tafel bedeckte in weißer Kreide ein Schriftzug: »Ich hatte euch gewarnt«.
Ein schrecklich hoher Schrei entfuhr meiner Kehle und ich stolperte zurück.
Was machte ich hier? Wieso war ich dem Blut gefolgt? Was machte Viola hier?
Die Fragen hämmerten gegen das Innere meines Kopfes und es kristallisierte sich ein Gedanke heraus: Ich musste Hilfe holen.
Plötzlich spürte ich, wie mich zwei kräftige Arme an den Schultern packten und von der Leiche wegzogen.
Eine warme Hand legte sich über meinen Mund und hinderte mich somit daran erneut zu schreien, was nicht hieß, dass ich es nicht trotzdem versuchte. Ich wurde in den Nebenraum des Klassenzimmers geschleift, in dem all die Utensilien für den Biologieunterricht gelagert wurden.
Mein Atem ging viel zu schnell dafür, dass ich durch die Hand nur bedingt Luft bekam. Ich wollte nicht sterben. Ich war nicht vorbereitet.
Das Gesicht angstverzerrt wurde ich umgedreht und blickte meinem Entführer in die wunderschönen goldbraunen Augen.
Nathan.
Sobald er mich losließ, stolperte von ihm weg. Seufzend lehnte er sich gegen eine Skulptur des menschlichen Körpers und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Was?«, brachte ich stotternd heraus. »Wie?« Ich holte tief Luft und versuchte, mich zu beruhigen. »Viola«, keuchte ich und sah Nathan erschrocken an. Ich schloss für einen Moment die Augen und fiel dabei nach hinten. Aus dem Regal kullerte ein übergroßes Ohr und zerfiel auf dem Boden in seine Einzelteile. Den Steigbügel würde ich wohl nie finden.
Ich seufzte leise und stellte mich wieder aufrecht hin. Dabei riss ich ein Skelett zu Boden. Um nicht wieder zu fallen, hielt ich mich an dessen Hand fest, ließ sie aber wieder schreiend los, weil ich mir vorstellte, dass dies Violas Skelett war.
Nathan kam auf mich zu und legte seine Hände an meine Schultern.
»Hey, es ist alles gut. Beruhige dich«, sagte er in einem Ton, der mir sofort das Gefühl von Sicherheit wiederbrachte.
Er sah mir tief in die Augen. »Ihr geht es gut. Es fängt bereits an.« Er sah die Verwirrung in meinen Augen. »Du halluzinierst«, erklärte er, was mich aber nur noch mehr aufwühlte.
»Ich...was?«, fragte ich atemlos.
Ich atmete durch. Nathan ließ mich los, trat etwas zurück um Abstand zwischen uns zu bringen.
»Das ist komisch«, überlegte er. »Eigentlich bist du erst mit uns verbunden, sobald du unser Blut getrunken hast.«
Vollkommen entgeistert sah ich ihn an.
»Euer Blut trinken?!« In meinen Kopf schossen Bilder von kontrolllosen Vampiren und Meeren an blutleeren Leichen.
Nathan zuckte gleichgültig die Schultern.
»Wichtigster Inhalt der Zeremonien. Es dient als Bindemittel.« Ich setzte eine nachdenkliche Miene auf.
»Bei ‚Bindemittel' muss ich immer an Kartoffeln für eine Suppe denken.« Nathan schmunzele, verkniff sich augenscheinlich ein Lachen. »Da werden mal wieder die Differenzen zwischen dir und uns deutlich.« Ich verdrehte übertrieben die Augen.
»Du hast Viola gesehen?«, fragte er nun leise, sofort wieder ernst.
Ich nickte zögerlich.
»Dann hast du die Warnung des Dämons an mich gesehen. Sein Druckmittel um mich an meine Aufgabe zu erinnern und bla, bla, bla.« Er lehnte sich wieder gegen einen Schrank und ich fragte mich, ob er das übte, weil bei mir der ganze Schrank umkippen und ein Loch bis in die unterste Etage reißen würde.
»Den Rest kennst du ja«, riss er mich aus den Gedanken.
»Das heißt, ich sehe jetzt eure Visionen oder Halluzinationen oder Warnungen oder Erinnerungen?« Nathan nickte. Ich verdrehte die Augen. »Na super.«
Er lächelte schief. Anscheinend schien ihn meine Art mit der ganzen Sache umzugehen zu belustigen. Sein Lächeln verschwand in dem Moment, in dem ich ihn ansah und machte einer drückenden Stille zwischen uns Platz.
Ich würde ganz sicher nicht damit anfangen, ihn nach unserer Zukunft zu fragen. Was wir nun machen würden, wo wir doch Geschwister sein sollten, aber jetzt schon mehr empfanden, als dafür üblich war. Wie wir damit umgehen sollten. Ich würde ihm ganz sicher nicht sagen, wie sehr mich dieser Zustand fertig machte. Nein, er konnte anfangen. Schließlich hatte ich ihm keine Glasscherben ins Gesicht geworfen, die letztlich nicht nur meine Haut verletzt hatten.
Nathan blickte zu Boden. Schien genau zu wissen, was ich dachte. Und doch konnte er es nicht. Er konnte mich nicht ansehen und mit mir lachen. Oder mit mir über andere Sachen als den Dämon sprechen.
Vielleicht dachte er ja, dass ich einen Filmriss hatte und mich nicht mehr an Details des Abends erinnerte. Vielleicht hoffte er es ja.
Der Schulgong erlöste mich von meinen deprimierenden Gedanken. Nathan hob den Kopf und sah mir in die Augen. Ich bildete mir ein, dass sie glasig waren.
»Das wird noch öfter vorkommen, lass dich nicht täuschen«, riet er mir leise. Dann verließ er den Raum. Ich seufzte leise und trat mit dem Fuß gegen das Gleichgewichtsorgan.
Tatsächlich musste ich halluziniert haben. Auf dem Pult lag keine tote Viola mehr.
Schade eigentlich.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top