58) Oblivious-Jugend

Wir hielten eine Versammlung ab. In Harrys Zimmer, direkt an seinem Bett, damit er daran teilhaben konnte. Die Oblivious-Jugend, wie Louis uns humorvoll bezeichnete, auch wenn das Ganze durchaus einen bitteren Beigeschmack hatte. Es fehlten ein paar Leute, die definitiv mit von der Partie sein sollten. Liam. Und Zayn.

Liam war natürlich nicht über die neueste Entwicklung der Situation informiert worden, immerhin war sein Vater Geoff Payne derjenige, der Informationen an die Cognizant weitergegeben hatte. Bisher ohne großen Schaden, aber sollte Ken jemals Wind davon bekommen, dass seine Schwester entgegen seiner Annahme unter den Lebenden verweilte, würde das im Krieg enden.

Es fiel mir zwar schwer, anzunehmen, dass Liam mit seinem Vater unter einer Decke stecken sollte, aber natürlich wäre es unfassbar naiv, ihn einfach einzuweihen. Die beiden pflegten zwar nicht das vertrauteste Familienverhältnis, waren und blieben jedoch Vater und Sohn. Geoff Payne war sicherlich gut darin, seinem Sohn Dinge an der Nasenspitze abzulesen.

Und Zayn ... nun ja. Ich hatte zwar eingeladen, uns Gesellschaft zu leisten, aber er weigerte sich standhaft.

Er hatte unsere kleine Versammlung nur eines flüchtigen Blickes gewürdigt, um den Raum dann mit einem kühlen „Viel Spaß" gleich wieder zu verlassen. Eine sehr eindeutige Botschaft, dass er von uns nichts wissen wollte.

„Er scheint sich mit uns nicht sonderlich wohlzufühlen", kommentierte Gemma, nachdem die Tür hinter Zayn ins Schloss gefallen war. „Wahrscheinlich hält uns alle für Mutationsfanatiker."

„Tut er nicht", rutschte es aus mir heraus, ehe ich mich zurückhalten konnte. „Er ist nur vorsichtig. Oder ist das verboten?"

Im nächsten Moment wäre ich am liebsten im Boden versunken. Hätte ich das Ganze vielleicht noch ein wenig offensiver formulieren können? Vermutlich nicht.

Gemma starrte mich an, dann begann sie zu lachen. „Keine Panik, Blondie. Ich sag deinem Freund schon nichts Böses nach."

„Freund?" Nun schien auch Louis hellhörig geworden zu sein. „Wie in ... Freund-Freund?"

Oh nein.

„Nein!", gab ich pampig zurück, während Gemma mit einem „Noch nicht ganz" abwinkte.

Louis runzelte die Stirn, während sein Blick wie ferngesteuert in Harrys Richtung wanderte. „Aber ich dachte ..."

„Ach, hört doch auf!" Zum Glück ließ Demi ein wenig Gnade walten und erstickte die aufkeimende Diskussion über Beziehungen im Keim. „Wir stehen alle auf der gleichen Seite und sind in Sicherheit. Das ist doch erst einmal genug, oder? Wir müssen nicht über alles und jeden diskutieren."

Schweigen trat ein.

Irgendwann räusperte sich Harry und zog sich die Bettdecke bis ganz unters Kinn. Seit er aufgewacht war, hatten wir nur ein paar wenige Worte gewechselt, sehr zu meinem Leidwesen. Ich konnte nicht so recht einschätzen, ob wir einfach noch keine Gelegenheit dazu gehabt hatten, oder ob er es bewusst darauf anlegte, ein Gespräch zwischen uns zu vermeiden.

„Es ist wirklich toll, euch alle wieder auf einem Haufen zu sehen." Sein Grinsen war schwach, aber besser als nichts. „Zwischendurch habe ich schon daran gezweifelt, ob es das jemals wieder geben wird. Wie geht es Liam?"

Unschlüssig hob Louis die Schultern. Er saß auf dem Stuhl, der Harrys Kopf am nächsten war, schien jedoch Acht darauf zu geben, nicht zu nahe ans Bett heranzurücken.

„Ziemlich verwirrt." Unruhig wippte er mit beiden Füßen auf und ab. „Und völlig von der Rolle. Ich meine, er weiß ja von absolut nichts. Sein Stand ist der, dass ihr zwei ..." Er zeigte auf Harry, dann auf mich. „... und Anne immer noch bei den Cognizant seid. Dass die OOA über Kens Lager hergefallen ist, ist offiziell ja gar nicht bekannt. Und Geoff Payne könnte diese Info gar nicht weitergeben, ohne sich dabei selbst als Kens Handlanger zu enttarnen."

Demi gab ein Ächzen von ich. „Ich kann immer noch nicht fassen, dass Payne mit den Cognizant zusammenarbeitet. Seid ihr sicher, dass Liam da wirklich nicht irgendwie mit drinhängt?"

„Natürlich sind wir das", fuhr Louis ihr über den Mund, sichtlich verärgert. „Das ist Liam, über den wir hier reden. Er befürwortet keine aggressive Aktivistengruppe."

Beschwichtigend hob Demi die Hände. „Schon gut, Tomlinson. Kein Grund, aus der Haut zu fahren. Ich möchte nur nichts übersehen."

Ich verkniff mir ein Seufzen. Die Anspannung, die in der Luft hing, war auch für jemanden ohne mentale Kräfte förmlich mit den Händen zu greifen. Alle kämpfen mit Nervosität und sicherlich einer ordentlichen Portion Angst. Angst, was in den nächsten Tagen, Wochen, Monaten geschehen mochte. Oder auch schon in den nächsten Stunden.

Inzwischen wusste ich, wie unberechenbar die Dinge sein konnte. Wie schnell sie aus dem Ruder liefen. Wie schnell man kurz davor stehen konnte, einfach zu sterben.

„Gibt es schon Ergebnisse von deinen Bluttests?", erkundigte ich mich demnach, in der Hoffnung, das Gespräch auf eine unverfänglichere Schiene zu lenken. „Mein letzter Stand war, dass Quinn sich die Zähne daran ausbeißt."

Harry zuckte die Achseln, hielt die Augen jedoch auf die Bettdecke gesenkt. „Ich habe nichts Neues gehört. Wahrscheinlich laufen die Untersuchungen noch. Aber dazu solltest du besser Quinn selbst fragen. Oder Zayn. Der assistiert doch, oder?"

Mit der Art und Weise, wie er Zayns Namen aussprach, dürfte nun für jeden Einzelnen hier im Raum klar sein, dass er nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen war. Und mit ein bisschen Hintergrundwissen und Aufmerksamkeit auch, warum.

Die Atmosphäre flimmerte beinahe, und am liebsten wäre ich aufgesprungen und einfach gegangen, um mich irgendwo zu verkriechen.

Gemma fing meinen entgeisterten Blick auf, nickte mir kaum merklich zu. Eine stumme Botschaft, dass sie mit Harry reden würde, wenn sie sich unter vier Augen befanden.

„Warum haben sie dir überhaupt Blut abgenommen?", kam sie dann auf die Quintessenz des Themas zurück. „Deine DNA wurde doch schon oft genug untersucht."

Wieder hob Harry nur unbestimmt die Schultern. Seine Finger zwirbelten am Reißverschluss des Bettbezugs herum. „Keine Ahnung. Quinn hat irgendetwas von körpereigenen Mechanismen und Stilllegung gefaselt und sich seitdem nicht mehr blicken lassen."

„Körpereigene Mechanismen?" Gemmas Augen wurden schmal. „Für eine Stilllegung eines DNA-Abschnitts, meinst du?"

„Was weiß ich." Verärgert hob Harry den Kopf. „Sehe ich vielleicht aus wie ein Mediziner?"

Abwehrend hob Gemma die Hände. „Meine Fresse, krieg dich wieder ein, kleiner Bruder. Du benimmst dich, als hätte dir jemand unters Kopfkissen gekotzt."

„Keiner zwingt dich dazu, mit mir zu reden."

Demi räusperte sich. „Okay, diese Versammlung ist für den Arsch. Lasst uns nochmal eine abhalten, wenn die entsprechenden Personen ihren Bullshit auf die Reihe gekriegt haben." Sie schielte auf ihr Handy, um prompt nach ihrer Jacke zu greifen, die über der Lehne ihres Stuhls hing. „Ich würde mich langsam wieder verkrümeln. Bevor Liam sich noch fragt, wo ich mich so lange herumtreibe. Es ist echt eklig, ihn anlügen zu müssen, wisst ihr? Sowas tun wir normalerweise nicht."

Gemma sprang ebenfalls auf. „Ich bring dich noch raus. Louis?"

Der Angesprochene schrak hoch. „Was?"

„Mitkommen."

„Was? Aber..."

Gemma packte ihn wortwörtlich am Kragen und zerrte ihn auf den Gang. Sie schenkte mir noch ein aufmunterndes Lächeln, dann schloss sich schon die Tür hinter ihnen und ließ mich allein mit Harry zurück. Harry, der noch immer trotzig die Wand anstierte und so intensiv an der Bettdecke zupfte, als wollte er sie in ihre Einzelteile zerlegen.

Das Unwohlsein in meinem Magen verstärkte sich. Garantiert wurde das hier angenehmer, entspannter Tratsch.

„Na gut, Blondie." Zu meiner Verblüffung meldete sich Harry als Erster zu Wort. „Du bist nicht tot. Oder so. Und ganz bist du auch noch. Respekt."

Ich rang mir ein schiefes Grinsen ab. „Sieht ganz so aus." Ein wenig ungeschickt tauschte ich meinen Platz an der Tür mit dem am Kopfende des Betts ein, den zuvor noch Louis besetzt hatte. „Wie beschissen fühlst du dich?"

Harry hob die Augenbrauen. „Welch optimistische Ausdrucksweise soll das denn sein?"

Nun musste ich wirklich grinsen. „Nicht optimistisch. Realistisch."

„Schön." Er überlegte kurz. „Auf einer Skala von eins bis fünf ist es wohl eine Zwei."

„Echt?" Erstaunt sah ich ihn an. „Nur eine Zwei? Nimm's mir nicht übel, aber nachdem, was ich gestern von dir gesehen habe, hätte ich eher gedacht, du dein Zustand bleibt tagelang noch bei fünf."

„Wäre dir das lieber gewesen?"

„Was? Nein! Harry, du..."

Lachend winkte er ab. „Das war ein Witz, Blondie! Seit wann lässt du dich denn so gut verkacken?"

Grummelnd lehnte ich mich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust. Das weiße T-Shirt, das man mir geliehen hatte, war ein wenig zu groß und kratzte noch dazu unangenehm. Es ging einfach nichts über eigene Klamotten, die man selbst gekauft und gewaschen hatte.

„Ich traue einfach niemandem mehr", erwiderte ich wahrheitsgemäß. Je länger ich ihn anstarrte, die Schrammen in seinem Gesicht und die dunklen Ringe unter seinen Augen, desto mehr begann es in mir zu brodeln, und irgendwann musste ich zittrig ausatmen. „Fuck, Harry, ich dachte wirklich kurz, wir verlieren dich. Ich dachte, sie hätten dich erschossen. Oder was auch immer."

Dass mir Tränen in die Augen geschossen waren, bemerkte ich erst, als eine davon sich ihren Weg über meine Wange bahnte. Irritiert wischte ich sie mit dem Handrücken weg, doch natürlich folgten neue.

„Sorry." Verlegen sah ich mich nach Taschentüchern um. „Ich will dich nicht vollheulen."

„Hier." Harry hielt mir eine Packung hin, die er wohl unter seinem Kopfkissen verborgen hatte – eine seltsame Angewohnheit von ihm. „Wenn du mich ansteckst, musst du sie mir halt wieder geben."

Ich beugte mich vor und wollte die Packung dankend entgegennehmen, doch dann ließ mich eine Berührung an meiner Wange schlagartig innehalten – Harrys Daumen, der eine einzelne Träne auffing.

Mehrere Sekunden lang starrten wir einander nur an, Harrys Hand an meiner Wange ruhend.

Dann schien Harry schließlich aufzugehen, was er da gerade tat, und er zog seine Hand so hektisch zurück, als hätte ich ihm einen Stromschlag versetzt.

„Tut mir leid." Es klang ehrlich und unehrlich zugleich. „Das hätte ich nicht tun sollen."

„Schon gut." Endlich schnappte ich mir die blöden Taschentücher, um sofort eins davon aus der Packung zu zerren. „Danke."

Wieder trat Stille ein, als ich mir ein wenig zu ausgiebig die Nase putzte.

Irgendwann ließ ich das Taschentuch sinken, knüllte es zu einem Ball zusammen und zielte damit nach dem Mülleimer, der in der Ecke stand. Erstaunlicherweise traf ich sogar.

Harry applaudierte beeindruckt. „Respekt."

Ich verdrehte die Augen. „Das Ding ist zwei Meter entfernt."

„Entfernt genug, um nicht zu treffen."

„Wohl wahr." Lächelnd wandte ich mich ihm wieder zu, fing seinen Blick auf. Ich seufzte. „Harry, wir sollten wahrscheinlich immer noch reden. Oder schon wieder. Was weiß ich. Ich habe das Gefühl, dass absolut nichts in Ordnung ist."

„Ich weiß." Harrys Finger verkrampften sich um einen Zipfel der Bettdecke. „Und ich weiß auch, dass es an mir liegt. Das tut mir leid. Wirklich. Ich muss mich einfach auf die Reihe kriegen und aufhören, Zayn als den Teufel zu sehen, aber fällt mir so verdammt schwer. Ich mag dich einfach, Niall. Und du magst Zayn. So ist es eben."

Den letzten Teil fügte er beinahe kleinlaut hinzu.

„Tut mir leid." Mein Herz wog schwer in meiner Brust. „Ich wünschte, es wäre anders."

Ich hielt inne.

Tat ich das wirklich?

„Nein, tust du nicht." Trotz allem schenkte Harry mir ein Grinsen, zwar ziemlich traurig, aber immerhin. „Du bist völlig hin und weg von diesem Trottel."

„Meintest du nicht vorhin noch, du willst aufhören, ihn ständig zu roasten?"

Er zuckte die Achseln. „Klappt nicht immer."

„Gut zu wissen." Belustigt stieß ich ihn an. „Ich werde Zayn ausrichten, dass er dir aus dem Weg geht."

„Mach das." Er schmälerte die Augen. „Sag mal, wie war es eigentlich, deine Mum zu treffen? Also, deine leibliche Mum. Maura."

„Seltsam. Irgendwie." Unschlüssig rutschte ich auf dem Stuhl umher. „Es war auf jeden Fall nicht so, als hätte mein Unterbewusstsein gewusst, dass das meine Mutter ist. Sie ist mehr oder weniger eine Fremde für mich. Natürlich war es auffallend, wie schnell wir auf einer Wellenlänge waren und wie gut wir uns unterhalten konnten, aber ansonsten ... hm. Für sie muss es schrecklich sein."

„Ja." Harry musterte mich aufmerksam. „Definitiv. Vielleicht schafft ihr es ja im Laufe der Zeit, wieder eine Beziehung aufzubauen."

Unsicher kaute ich auf meiner Unterlippe. „Ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich es jemals schaffe, ihn ihr eine Mum zu sehen, weißt du? Ich meine, ich habe ja meine Mum. Natürlich nicht meine leibliche, und das wusste ich auch schon immer, aber sie war trotzdem immer meine Mum. Ist sie immer noch. Ich bin mir auch nicht sicher, was Maura sich von mir erwartet?"

„Ich glaube nicht, dass sie irgendetwas von dir erwartet." Harry klang überzeugt. „Meiner Einschätzung nach ist sie in allererster Linie heilfroh darüber, dich zurückzuhaben. Ganz sicher erwartet sie nicht von dir, dass du dich spontan an sie erinnerst und sich ihr um den Hals wirfst. Wie auch? Immerhin ist sie diejenige, die deine dauerhafte Amnesie verursacht hat. Es wäre abartig von ihr, dir deshalb einen Vorwurf zu machen."

Ächzend ließ ich den Kopf auf die Matratze des Betts sinken. „Wahrscheinlich hast du Recht. Ich mache mir nur viel zu gern viel zu viele Gedanken."

Amüsiert tätschelte er mir den Kopf. „Das weiß ich doch. Dein Blondschopf qualmt beinahe. Pass auf, sonst wird er noch grau."

Verärgert schlug ich nach ihm. „Sag mal, hast du eigentlich irgendein Problem mit meiner Haarfarbe?"

„Nein. Absolut nicht." Ich spürte, wie er an seiner einzelnen Strähne zupfte. „Im Gegenteil, ich mag deine Haare. Sie sind schön fluffig und einfach so blond. Richtig süß. Passt zu dir."

Zum Glück hielt ich mein Gesicht nach wie vor in die Matratze gedrückt, sodass er nicht sah, wie meine Wangen an Farbe gewannen.

„Hör doch auf. Oder soll ich dir einen Vortrag über deine Hexenfrisur halten?"

„Hey!" Empört stach er mich in die Seite. „Ich habe dir nur Komplimente gemacht! Hexenfrisur ist kein Kompliment!"

„Stimmt. Sorry." Ich rutschte ein Stück von ihm ab, um außer Reichweite zu sein. „Es ist die Wahrheit."

„Du bist so ein kleiner Idiot."

„Danke. Und du ein großer."

Mit diesen liebenswerten Worten beendeten wir unsere Unterhaltung, und ich musste im Gang erst einmal ein paar Sekunden lang verharren und durchatmen, um alles zu verarbeiten.

Ich war so verloren.

Das große Ganze um mich herum drohte zu explodieren, und ich hatte nichts Besseres zu tun, als meine Beziehungsprobleme zu klären. In jeglicher Hinsicht.

Und der Rest stand in den Sternen.

Mutlos schob ich mich in meinem Gästezimmer unter die Bettdecke, dankbar dafür, auf dem Weg hierhin nicht zufällig auch noch Maura Gallagher über den Weg gelaufen zu sein.

Ich wollte einfach nur für ein paar Stunden die Welt und ihre blöden Sterne ausblenden.

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Es sind gar nicht mehr sooooo viele Kapitel, actually🤔

Dann kommt die supernaturalmäßige Story, die schon seit Monaten fertig wäre & darauf wartet, in die Öffentlichkeit entlassen zu werden😏

Lieben Dank für alles und viele Grüße!
Andi💕

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