54) Omniscient

Wie immer besaß ich nicht den blassesten Schimmer, wo ich war, doch zur Abwechslung war mir das völlig egal. Zur Abwechslung strebte ich nicht danach, so viel wie möglich, wenn nicht sogar alles zu wissen.

Im Augenblick reichte mir einzig und allein die Kenntnis, dass ich hier an Harrys Bett sitzen und ihn einfach nur ansehen konnte.

Mehrmals kamen Leute vorbei. Manchmal in medizinischer Kleidung, manchmal bewaffnet und in Kampfausrüstung, manchmal in gewöhnlichen Zivilklamotten. Stimmen redeten auf mich ein, zwangen mich dazu, meine durchnässte Kleidung zu wechseln, ein Glas Wasser anzunehmen und zumindest einen Proteinriegel zu essen.

Ich ließ es zu, dass man die Platzwunde an meiner Stirn säuberte und klammerte, mir eine Schmerztablette aufschwatzte und schließlich noch eine beachtliche Menge Blut entnahm.

Was sie wohl mit Letzterem vorhatten?

Keine Ahnung. Sicherlich brauchten sie es für irgendeine Untersuchung, vielleicht sogar zur Entwicklung eines neuen Wirkstoffs – oder für die Enzymforschung.

In Anbetracht der Tatsache, dass Dr. Bernard Quinn hier seine Finger im Spiel hatte, traf die Theorie mit der Enzymforschung den Nagel wohl noch am ehesten auf den Kopf. Eine frische Blutprobe von mir war wahrscheinlich das Beste, was den Leuten hier passieren konnte.

Seufzend ließ ich die Stirn auf Harrys Matratze sinken, schloss die Augen.

Bis eben hatte mir Anne noch Gesellschaft geleistet, bevor sie zu einer Befragung vorgeladen worden war. Eine Befragung, die wichtiger zu sein schien als ursprünglich angenommen, denn ansonsten wäre sie längst zurückgekehrt – schließlich war es Harry, der hier kreidebleich und bewusstlos herumlag und per Tropf irgendwelche Elektrolytlösungen und anderen Kram injiziert bekam.

Kurz nach der Fahrt hierher hatte er sich ein paar Mal übergeben, kombiniert mit üblem Schüttelfrost, Schweißausbrüchen und Herzrasen, und es war fürchterlich gewesen. Ich fühlte mich so hilflos.

Glücklicherweise wussten Quinn und Anne im Gegensatz zu mir exakt, was zu tun war. Sie hatten Louis und mich brüsk beiseitegeschoben und dafür gesorgt, dass wir ihnen und den anderen Fachkräften nicht in die Quere kamen.

Und nun saß ich hier wie in einem klischeehaften Drama völlig zerschlagen an Harrys Bett und wartete darauf, dass er endlich aufwachte. Seit einer halben Ewigkeit müsste ich schon zur Toilette, doch ich riss mich zusammen. Auf keinen Fall wollte ich, dass Harry ausgerechnet während meiner Abwesenheit das Bewusstsein wiedererlangte – allein und verloren in der grausigen Realität, ohne vertrauten Anhaltspunkt. Ich wusste, wie furchteinflößend dieses Gefühl war.

Das leise Klicken der Tür ließ mich aufsehen – und schlagartig saß ich kerzengerade auf meinem Rollhocker, plötzlich hellwach.

Gekleidet in seinen üblichen Arztkittel und mit Kugelschreiber und Notizblock bewaffnet, betrat Bernard Quinn den Raum, verschloss sorgfältig die Tür hinter sich.

Lediglich die schmutzigen Schuhe wiesen darauf hin, dass er in den vergangenen Stunden noch etwas anderes getan hatte, als ärztlichen Dienst zu schieben. Zum Beispiel ins Lager der Rebellen vorzudringen, eine Schießerei zu überleben und mehrere Leute zu befreien.

Er wandte sich mir zu, bemerkte sofort, dass ich ihn anstarrte, und ein wohlwollendes Lächeln begann seine Lippen zu umspielen. Exakt jenes Lächeln, das ich schon von klein auf kannte. Es hatte sich über die letzten zwanzig Jahre kaum verändert.

„Niall. Hallo." Langsam trat er näher, die Hände vorm Körper gefaltet. „Tut mir leid für die verspätete, angemessene Begrüßung. Die Dinge gehen drunter und drüber, wie du sicherlich festgestellt hast. Es ist schön, dich mal wieder ordentlich zu Gesicht zu bekommen."

Darauf wusste ich nichts zu erwidern, also beschränkte ich mich auf ein stummes Nicken. Ein Teil von mir freute sich wohl auch darüber, ihn nach ungewohnt langer Zeit wieder persönlich anzutreffen, doch der Rest kämpfte noch viel zu sehr mit dem tiefsitzenden Argwohn, den die Erlebnisse der letzten Wochen mit sich gebracht hatten.

Waren es wirklich Wochen gewesen? Hatten wir immer noch Oktober? Und welchen Wochentag?

Meine Güte.

Unsicher verfolgte ich, wie mein alter Therapeut sich den zweiten Rollhocker aus der Ecke hervorzog und nur ein kleines Stück von mir entfernt darauf Platz nahm.

Es gelang mir einfach nicht, meine innere Zerrissenheit abzuschütteln.

Dieser Mann, den ich von Kindesbeinen an kannte, verkörperte einerseits ein riesiges Stück Vertrautheit, andererseits war er mir plötzlich so fremd.

„Na?" Er schlug die Knie übereinander und legte die gefalteten Hände darauf ab. „Sind deine Fähigkeiten schon zurück?"

Wieder nickte ich, räusperte mich diesmal jedoch. Ich konnte mich nicht auf Ewigkeit in Schweigen hüllen. „Ja. Ziemlich langsam, aber mittlerweile ist alles wieder da. Glaube ich jedenfalls."

Stirnrunzelnd stellte ich fest, dass ich es noch gar nicht ausgetestet hatte. Probehalber fixierte ich einen der Kugelschreiber, die in der Brusttasche von Quinns Arztkittel steckten, und grunzte zufrieden, als dieser sich vom Stoff löste und durch die Luft langsam auf mich zukam.

Quinn verfolgte aufmerksam, wie ich den Stift sicheren Griffes auffing, dann breitete sich ein Strahlen auf seinem Gesicht aus.

„Ich bin beeindruckt." Er klatschte Beifall. „Du hast ganz schön Fortschritte gemacht, hm?"

„Naja." Ich zuckte die Achseln, ärgerte mich darüber, dass mich sein Kompliment tatsächlich in Verlegenheit brachte. „War das nicht zu erwarten, wenn ich das O-Nesciol absetze?"

Angesichts des vorwurfsvollen Untertons in meiner Stimme, büßte Quinns Lächeln sofort an Intensität ein. Seufzend nahm er den Stift von mir entgegen, um ihn wieder an seinem ursprünglichen Platz zu verstauen.

„Dazu noch ein paar Sachen", begann er ruhig. „Zum genaueren Kontext muss ich dir wohl nicht mehr viel erklären, aber du hast damals viel mitbekommen. Unter anderem, wie deine Mutter versucht hat, mit dir vom Stützpunkt zu fliehen. Ken hat euch in dieser Nacht abgefangen, nachdem er von ihrer Kooperation mit uns herausgefunden hat. Du wusstest das. Du wusstest alles."

Er hielt inne, wartete offenbar auf eine Reaktion von mir, doch als ich nur schwieg, fuhr er fort.

„Dank deiner Mutation hattest du schon als Kind eine enorm schnelle Auffassungsgabe und warst dazu in der Lage, auch hochkomplexe Sachverhalte zu begreifen, wie es Gleichaltrigen ohne die Mutation niemals möglich wäre. Maura war klar, dass Ken das ebenfalls wusste und nicht nur sie, sondern auch dich töten würde. Außerdem war ihr klar, dass dir dein Wissen bei Befragungen durch die damalige OOA ebenso gefährlich werden könnte. Sie hat deine Erinnerungen manipuliert, um dich zu beschützen. OOA-Agenten haben dich bewusstlos aufgesammelt, und als man festgestellt hat, dass du dich an nichts erinnerst, nicht einmal an deine Identität, hat man auf meinen Ratschlag hin beschlossen, dich als klassischen Oblivious in eine Pflegefamilie zu schicken. Auf diese Art konnte ich dich überwachen und gleichzeitig beschützen. Unter anderem vor Ken. Der hatte dich erst mit deiner Ankunft im St. Hedwigs wieder auf dem Radar."

Mein Verständnis blieb an überwachen hängen.

„Überwachen", wiederholte ich, wobei es mir nicht gelang, den bitteren Unterton aus meiner Stimme zu verbannen. „Indem Sie mich glauben lassen, unheilbar psychisch erkrankt zu sein und nach und nach meinen Verstand einzubüßen, wenn ich mich nicht mit Medikamenten vollstopfe. Diese Tabletten haben mich zerstört."

Innerlich wand ich mich bei so viel Selbstmitleid, doch ich konnte es nicht im Zaum halten.

Quinn hielt meinen Blick fest. „Wäre es dir lieber gewesen, dein ganzes Leben lang von Ken gehirngewaschen zu werden? Oder dich jetzt schon mit Ausfallerscheinungen herumzuschlagen?" Erregt beugte er sich vor, stemmte die Ellbogen auf die Knie. „Niall, ich hatte die Möglichkeit, dein Erbgut zu untersuchen. Deine Mutation hat sich schon damals rasend schnell weiterentwickelt, noch viel schneller als bei deiner Mutter. Ohne die langjährige, medikamentöse Behandlung wärst du jetzt mit Anfang zwanzig schon an exakt dem Punkt, an dem deine Mutter erst mit fünfunddreißig gewesen ist."

Ich kniff die Augen zusammen. „Was soll das O-Nesciol denn überhaupt gebracht haben? Der Wirkstoff dämpft doch nur die Ausprägung der Fähigkeiten, kommt an das Erbgut selbst gar nicht heran. Wie soll er die fortlaufenden DNA-Veränderungen aufhalten?"

„Nun ja." Quinn räusperte sich. „Gewissermaßen habe ich dir nicht die herkömmlichen Tabletten gegeben, sondern eine etwas ... persönlichere Variante. Von deinem fünfzehnten Lebensjahr an, um genau zu sein." Plötzlich wirkte er sehr zufrieden mit sich selbst, fast spitzbübisch. „Hast du dich nie gewundert, warum ich dir deine Medikamente immer persönlich gegeben habe, statt dir nur ein Apothekenrezept in die Hand zu drücken?"

Ich war wie vom Donner gerührt. „Was? Nein? Was?"

Quinn kratzte sich am Hinterkopf. „Deine Tabletten waren eine Mischung aus dem klassischen O-Nesciol und meinem eigens entwickelten Enzympräparat. Der temporären Lösung, wie Zayn es so schön nennt. Deine Mutter hat mich bei der Entwicklung unterstützt. Abgerundet wurde es erst im Laufe der Jahre, irgendwann auch mit der Hilfe von Zayn. Er hat mehr oder weniger darum gebettelt, den Stoff an sich austesten zu dürfen. Du kennst seine Familiengeschichte, nehme ich an?"

Ich nickte knapp. „Sein Vater hatte die gleichen Symptome wie meine Mutter."

„Richtig", bestätigte Quinn. „Zayn besitzt ebenfalls die Mutation der zweiten Generation, wenn auch bei Weitem nicht so ausgeprägt wie sein Vater. Oder wie du. Vermutlich würde sie ihm nie ernsthafte Schwierigkeiten machen, aber verständlicherweise möchte er sie nach all seinen negativen Erfahrungen nur noch loswerden. Vollständig."

Nur langsam begriff ich, was all das für mich bedeutete.

„Das heißt also ...", begann ich schwerfällig. „Das heißt also, dass ich ohnehin keine Chance habe, ohne Komplikationen mit meiner Mutation zu leben? Früher oder später werde ich die Kontrolle verlieren. Mehr früher als später."

Quinn musterte mich aufmerksam, nahm meine nervös friemelnden Finger zur Kenntnis, das unruhige Wippen meines Beins.

„Es hat schon begonnen." Seine Stimme war so sanft und verständnisvoll, dass ich am liebsten geheult hätte. „Richtig?"

Nutzte es noch etwas, dieses Statement zu leugnen? Nein.

Ich schluckte schwer. „Nur ein klein wenig."

Prompt musste ich die Augen schließen, als mein Gehirn zuverlässig diese eine Szene projizierte, die sich während der Flucht aus dem OOA-Labor abgespielt hatte und meine Aussage Lügen strafte. Ich hatte jemanden getötet. Ohne es zu wollen.

„Okay, fuck. Nicht nur ein wenig." Zittrig holte ich Luft. „Ich..."

Eine Berührung an meinem Knie brachte mich zum Schweigen. „Schon gut. Ich weiß, wovon zu sprichst. Als mir davon berichtet wurde, wusste ich sofort, was Sache ist. Es ist traumatisierend und schrecklich. Ich verstehe das. Aber du darfst dir nicht selbst die Verantwortung zuschieben und in Schuldgefühlen versinken. Wenn du wüsstest, welche Taten andere Oblivious begehen, ohne es zu wollen. Taten, die sie vor Verzweiflung und Schuld in den Suizid treiben. Ich habe Zayns Vater nie kennengelernt, aber nach allem, was ich von Zayn über ihn erfahren habe, bin ich mir sicher, dass er seine Familie niemals derartig misshandeln wollte. Für ihn erschien der Freitod der letzte Ausweg, um Schlimmeres zu verhindern. Für sich und für andere."

Während ich mich in Schwiegen hüllte, unfähig zu sprechen, lehnte er sich zurück, ließ die Hand von meinem Bein gleiten.

„Exakt das ist der Grund, warum wir einen Weg brauchen, die Mutation zu reparieren", schloss er im Brustton der Überzeugung. „Natürlich ist die Mutation nicht für jeden Oblivious eine Gefährdung. Für den Großteil ist sie eine Bereicherung, ein wundersamer Fortschritt, der keiner Reparatur bedarf. Aber heißt das wirklich, dass man der Minderheit, für die diese Genveränderung unter Umständen den Tod bedeutet, nicht die Möglichkeit geben sollte, sich davon zu befreien?"

„Ken befürchtet, dass diese Möglichkeit am Ende als Waffe benutzt wird." Meine Stimme bebte. „Um die Mutation völlig auszulöschen, ganz ungeachtet dessen, ob sie für den Einzelnen ein Risiko darstellt oder nicht."

„Typisch." Quinn schnaubte so laut, dass ich zusammenzuckte. „Ken Gallagher fühlt sich grundsätzlich in seiner Existenz bedroht und benachteiligt. Er sollte sich zur Abwechslung mal die Frage stellen, warum der radikale, mutationsabgeneigte Teil der OOA über die Jahre so viel Zulauf bekommen hat. Natürlich gab es schon immer Leute, für die die Oblivious-Mutanten eine Gefahr für die Menschheit sind. Einfach, weil Menschen grundsätzlich alles fürchten, was anders und neu ist. Allerdings wird diese Furcht nicht besser, wenn es unter den Oblivious ein paar schwarze Schafe gibt, die diesen Vorurteilen und Ängsten perfekt in die Karten spielen. Das größte dieser Schafe ist definitiv Ken Gallagher, dieser Selektionsfreak. Je öfter OOA-Agenten aktive Attacken von Mutanten abwehren müssen, desto tiefsitzender werden Abneigung und die Angst. Eine logische Konsequenz."

Wieso ergab das alles nur so entsetzlich viel Sinn? Und konnte es für einen Konflikt von dieser Rangordnung überhaupt eine Lösung geben?

„Die damalige OOA." Die Formulierung, die Quinn vorhin verwendet hatte, poppte wie aus dem Nichts in meinem Kopf auf. „Was meinen Sie damit?"

„Du kannst mich gerne duzen. Ich denke, inzwischen ist das angemessen."

Ich verzog das Gesicht. „Vielen Dank für das Angebot, aber ich befürchte, das schaffe ich nicht."

Quinn lachte leise. „Na gut. Einen Versuch war es wert." Er hielt inne, um sich auf das eigentliche Thema zurückzubesinnen. „Die damalige OOA, ja. So viel gibt es nicht zu erklären. Auch die OOA hat in der Zwischenzeit ihre Leitung gewechselt und somit ihre Werte."

Irgendetwas an seinem Tonfall irritierte mich.

„Okay." Argwöhnisch beäugte ich ihn. „Was soll das heißen?"

Mein ehemaliger Therapeut setzte sich gerader hin. „Um exakt zu sein ... um exakt zu sein, bin ich die Leitung der OOA. Seit knapp drei Jahren, mit einer ehrenvollen Beraterin neben mir."

Ich starrte ihn an. Fassungslosigkeit rumorte tief in mir.

„Soll das ein Witz sein?"

Quinn hob die Augenbrauen. „So viel Begeisterung."

Kurz herrschte Stille.

„Ihre Leute wollten mich umbringen!", brach es dann aus mir hervor. Mein Geist wandelte sich in einen Orkan. „Kurz bevor ich im St. Hedwigs untertauchen konnte. Und kurz davor war ich noch bei Ihnen in der Praxis! Wieso haben Sie mich nicht einfach direkt eingeweiht? Es hätte uns allen einen riesigen Berg an Schwierigkeiten erspart. Mal abgesehen davon, wie ekelhaft es ist, mitten in der Nacht überfallen mit Spritzen und Messern attackiert zu werden."

„Das waren nicht meine Leute", erwiderte Quinn ruhig. „Nicht einmal die hassgetriebenen Idioten unter ihnen. Das dachte ich zu Beginn noch, aber tatsächlich waren es Leute von Ken. Er musste doch gleich von Beginn an deine Wut auf die OOA schüren, in der Hoffnung, dich von Anfang an auf seine Seite zu bringen. Ich bin mir ziemlich sicher, die Angreifer hätten dich niemals getötet."

Ich schluckte, als die Erinnerungen an die Todesangst in mir hochstiegen. „Angefühlt hat es sich aber so."

Quinn schürzte die Lippen. „Ken ist Meister der Manipulation und Projektion. Ich bin Dr. Twist und ihrem Sohn dankbar dafür, dein Misstrauen ihm gegenüber geweckt zu haben."

„Das wäre gleich mein nächster Punkt", fuhr ich ihm über den Mund, als er zu einer weiteren Erwiderung ansetzen wollte. „Warum haben sie nicht einfach mit Anne und dem St. Hedwig kooperiert?"

Zum ersten Mal schien er unsicher zu sein, wie er sich ausdrücken sollte.

„Es gibt mehrere Gründe", verkündete er schließlich. „Erstens weiß nur der engste, vertrauteste Kreis der OOA von der wahren Natur des St. Hedwig, der Rest hält es für ein gewöhnliches Krankenhaus. Du musst wissen, die OOA wurde viel zu lange von einer mutationsabgeneigten Person geleitet, um nun vorschnell mit Kooperationsvorschlägen die Tür einzulaufen."

„Okay. Zweitens?"

Er warf mir einen amüsierten Blick zu. „Deine Ungeduld ist der deiner Mutter wirklich ähnlich. Schön, zweitens. Zweitens hat Ken einen hochrangigen Spitzel im St. Hedwig. Du hast ihn sicherlich kennengelernt. Geoff Payne? Er ist ein dicker Kumpel von Ken."

Oh.

Ich musste mich zusammenreißen, um meinen Mund geschlossen zu halten. Natürlich hatte ich Geoff Payne, Liams Vater, kennengelernt. Anne hatte ihn mir gleich zu Beginn meines Aufenthalts im St. Hedwig vorgestellt.

„Interessant." Unruhig kaute ich auf meiner Unterlippe. „Das klingt aber ganz so, als gäbe es noch ein drittens."

„Moment, ich bin mit zweitens noch nicht fertig", bremste er mich. „Das St. Hedwig ist eine Anlaufstelle für friedlich gesinnte Oblivious, die ich in der jetzigen Form erhalten wollte. Hätte ich Kontakt aufgenommen und eine Zusammenarbeit initiiert, sofern Anne auf diese eingegangen wäre, hätte Ken binnen weniger Minuten davon erfahren und sich auf das Krankenhaus gestürzt. Zumal Anne davon ausgegangen ist, die OOA hätte Maura auf dem Gewissen. Niemals hätte sie sich auf eine Zusammenarbeit eingelassen. Aber inzwischen sind wir zum Glück ja alle darüber informiert, wie die Dinge damals tatsächlich gelaufen sind."

Meine Irritation stieg ins Unermessliche. „Sie wissen davon?"

Seine Mundwinkel zuckten in einem Anflug von unmissverständlichem Frust. Offenbar hatte er nun mehr von sich gegeben, als er eigentlich wollte.

„Ja", bestätigte er schließlich, wenn auch mit sichtlichem Widerwillen. „Und du hast Recht. Es gibt noch einen dritten Grund. Einer, der wieder mit Personenschutz zu tun hat. Aber den möchte und kann ich dir hier und jetzt nicht einfach vor die Füße klatschen."

Unvermittelt beugte er sich wieder vor, platzierte gleich beide Hände auf meinen Knien, als wollte er mich beschwören. „Niall, meiner Meinung nach braucht man irgendeine Art von Organisation, die die Gegebenheiten für Menschen mit der Oblivious-Mutation klar regelt. Vor allem, wenn man ihre Existenz klar kommunizieren möchte. Ohne Steuerung, ohne klare Strukturen würde das zur sicheren Eskalation führen. Fronten würden sich bilden, noch mehr, als es ohnehin schon gibt. Klarheit ist das höchste Gebot, aber wenn es die nicht einmal unter den Mutanten selbst gibt, wie soll man sie von der gesamten Menschheit fordern?"

„Das klingt alles so dramatisch."

„Es ist auch dramatisch. Und noch dazu die Realität."

Mein Blick schweifte wieder zu Harry hinüber. Dessen Wangen hatten inzwischen wieder an Farbe gewonnen und wirkten bei Weitem nicht mehr so eingefallen wie zuvor. Sogar in seinem jetzigen Zustand war deutlich der Ansatz seiner Grübchen zu sehen.

„Er hat ordentlich was mitgemacht." Quinn rollte seinen Hocker neben meinen eigenen und reckte sich, um den Regler am Tropf zu betätigen. „Ich hatte ja damit gerechnet, dass nach dieser Überdosis O-Nesciol noch mehr auf ihn zukommt, aber eine so heftige Reaktion mit Erbrechen und allem? Nein."

Unwillkürlich griff ich nach Harrys Hand, drückte sie. „Wie konnte es denn überhaupt dazu kommen?", erkundigte ich mich, unsicher, ob ich die Einzelheiten überhaupt in all ihrer Pracht erfahren wollte. „Sie meinten vor Ort schon, dass es an seiner schwachen Mutationsausprägung liegt, aber ..."

Ich ließ den Satz bewusst unvollständig, darauf hoffend, dass Quinn sich dadurch zu einer umso vollständigeren Antwort bewegen ließ.

Der Mann zögerte. „Ich bin mir nicht sicher. Wir haben schon damit begonnen, sein Blut zu untersuchen, sind aber noch nicht ganz durch. Offen gesagt war es für mich schon immer ein Rätsel, warum seine Fähigkeiten so gut wie nicht vorhanden sind, obwohl die seiner Mutter recht stark ausgeprägt sind. Natürlich war sein Vater kein Mutant, aber erfahrungsgemäß setzen sich die mutierten Gene entgegen der nichtmutierten durch. Zudem hat man die Genveränderung nach seiner Geburt einwandfrei festgestellt. Und diese Reaktion ... sein Körper hat nicht nur reagiert wie bei einer klassischen Überdosierung, sondern ..."

Er brach ab, um die Stirn zu runzeln.

„Und?" Für die Pause, die er nun einlegte, hätte ich ihn am liebsten gepackt und geschüttelt. „Sondern was?"

„Er ist während der Behandlung hier kurz aufgewacht." Quinn verzog den Mund. „Er hat auf Fragen geantwortet, die nicht ausgesprochen wurden."

Meine Hand auf der von Harry erstarrte. „Soll das heißen, dass..."

„Dass seine Mutationsfähigkeiten kurzzeitig voll funktioniert haben", führte Quinn meinen begonnenen Satz zu Ende. „So wie sie gewöhnlich funktionieren sollten, es aber nicht tun. Das heißt: Er hat die entsprechenden Erbanlagen, aber er kann sie nicht nutzen. Als würden sie blockiert. Das O-Nesciol muss irgendeine Art von Reaktion mit einem körpereigenen Stoff ausgelöst haben, die wiederum dafür gesorgt hat, dass..." Seufzend ließ er von dem Beutel mit der Elektrolytlösung ab. „Egal. Ich habe ich einen Verdacht, Niall, aber den möchte ich erst absichern, bevor ich alle Pferde scheu mache. Dazu muss ich erst die Analyse von Harrys Erbgut abschließen."

Ich schluckte trocken. „Okay. Aber ... aber er wird wieder, oder?"

Quinn lächelte. „Er bedeutet dir eine Menge, nicht wahr?"

Plötzlich fiel mir das Atmen schwer. „Ja. Absolut."

„Zayn bedeutet dir auch eine Menge."

Diese Bemerkung riss mich aus meiner Wehmütigkeit.

Wütend stierte ich ihn an. „Ist das relevant?"

Der Mann ließ wieder sein Kichern hören, bevor er Anstalten machte, sich zu erheben. „Allerdings. Zayn hat mich schon vor Jahren hochoffiziell zu seinem Ersatzvater deklariert. Ich muss doch für ihn auskundschaften, woran er bei dir ist."

Meine Wangen standen in Flammen. „Als ob er das nicht schon längst selbst getan hat."

„Ach was." Ungerührt pilgerte mein Therapeut – oder was auch immer er denn nun genau war – in wehendem, weißen Arztkittel zur Tür. „Der liebe Zayn mag sich manchmal wie ein emotionsloser Stock verhalten, aber er hat einen weichen Kern. Vor allem für dich. Du musst wissen, dass er ganze Jahre Zeit dafür hatte, dich aus sicherer Ferne mit Herzchenaugen zu beobachten. Er war Teil des Überwachungsteams. Und am Ende hat er sich vor Eifer beinahe überschlagen, als feststand, dass wir jemanden vor Ort stationieren."

Wollte ich das alles hören?

Nein.

Mein Puls war leider anderer Meinung. Die Vorstellung davon, dass Zayn mich jahrelang beobachtet und dabei scheinbar wie ein Teenager einen verdammten Crush auf mich entwickelt hatte, war einerseits irgendwie unheimlich, andererseits störte es mich kein bisschen. Im Gegenteil.

„Kannte ich ihn auch?", hörte ich mich selbst fragen. „Damals, meine ich."

„Ich bezweifle es." Quinns Hand lag schon auf der Türklinke. „Seine Eltern befanden sich zwar anfangs unter den Rebellen, aber Zayn ist ein paar Jahre älter als du und Harry. Seine Familie hat sich nach seiner Geburt relativ schnell aus allen Angelegenheiten der Rebellen zurückgezogen, vermutlich aufgrund der Labilität seines Vaters. Ihr hattet also gar keine Chance, euch kennenzulernen."

„Okay. Alles klar." Ich biss mir auf die Unterlippe. „Und ... ähm ... danke. Für irgendwie alles, schätze ich. Tut mir leid, dass ich Sie in der Zwischenzeit für einen OOA-Mörder gehalten habe. Ich dachte wirklich, Sie wollen mich entweder umbringen oder als Versuchskaninchen missbrauchen."

„Schon gut." Verhalten grinste er mich an. „Wobei ich mir bei der Sache mit dem Versuchskaninchen nicht ganz so sicher wäre, ob die schon vom Tisch ist."

Ich verdrehte die Augen. „Wunderbar."

Nun erklärte ich die Konversation endgültig für beendet, doch Quinn blieb weiterhin an der Tür stehen, die Augenbrauen nachdenklich zusammengezogen.

„Niall, bist du bereit?"

Verwirrt hob ich den Kopf. „Bereit wofür?"

„Dafür, endlich alles in Erfahrung zu bringen." Die Ernsthaftigkeit seines Blicks war nahezu einschüchternd. „Dafür, alles zu wissen."

Eine Faust schloss sich um mein Herz, entfachte eine unschöne Vorahnung in mir.

Trotzdem zwang ich mich zu einem Nicken. „Ich glaube, schon."

„Gut. Etwas anderes wird dir ohnehin nicht übrigbleiben."

Damit schloss sich die Tür hinter ihm, ließ mich mit Harry und dem Tropf allein im Raum zurück.

Mein Magen schmerzte, als hätte ich dort einen Schlag einstecken müssen.

Was gab es denn noch, was ich erfahren musste? Sollte ich inzwischen nicht schon alles wissen, was es zu wissen gab? War die Information, wer meine Mutter tatsächlich getötet hatte, nicht die schwerwiegendste von allen?

Anscheinend nicht, wenn man Quinns ernstem Tonfall Glauben schenkte.

Schwerfällig ließ ich mich zurück auf Harrys Bett sinken, schloss die Augen und verdrängte meine Angst mithilfe der hoffnungsvollen Vorstellung, vielleicht bald zur Toilette zu können.

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Eigentlich hätte ich das Kapitel teilen müssen, aber ich hatte (offen gesagt) keinen Bock - und es pressiert gerade ein wenig😂

Dankeschön fürs Lesen & für euer Feedback und liebe Grüße!

Andi💕

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