5) Freak

„Und du sagst, die Stimmen melden sich inzwischen jeden Tag?"

Angespannt knetete ich die Finger im Schutz des Besprechungstischs, ehe ich mich zu einem Nicken zwang.

Bernard Quinns durchdringenden Blick mied ich dabei tunlichst.

Mein langjähriger Therapeut kannte mich inzwischen so gut, dass er mir meine Bestürzung, meine Angst, meine aufkeimende Panik über die derzeitige Lage von der Nasenspitze ablesen könnte.

Und wenn ich etwas nicht wollte, dann, dass mein Psychotherapeut annahm, ich wäre zu labil, um auf eigenen Füßen zu stehen. Am Ende kontaktierte er noch meine Eltern. Und dass er mich als hoffnungslosen Fall abstempelte, wollte ich auch nicht.

Was ich mir dann überhaupt noch von den wöchentlichen Sitzungen erwartete, wusste ich selbst nicht. Vermutlich war es die Gewohnheit, etwas, das man schon sein ganzes Leben lang durchgezogen hatte, auch in Zukunft fortzuführen – vor allem, wenn es sich um so etwas handelte. Und natürlich unterschrieb Quinn die Rezepte für meine Tabletten, daher sollte ich mich sowieso öfter als nur einmal im Vierteljahr bei ihm blicken lassen.

„Gibt es Veränderungen?" Quinns rauchige Stimme war wie immer unaufgeregt und sachlich. „In der Intensität, der Lautstärke? Und verstehst du etwas von dem, was gesagt wird? Wortfetzen oder womöglich ganze Sätze?"

„Nein. Aber ich habe das Gefühl, dass sie ..." Ich stockte, auf der Suche nach einer treffenden Beschreibung. „... eindringlicher werden? Die Lautstärker variiert nach wie vor, aber manchmal tut es geradezu weh. Nicht, weil es so laut ist, sondern ..." Frustriert brach ich ab. „Ich kann es nicht erklären."

Quinn fuhr sich mit der Hand über sein kurzgeschorenes, ergrauendes Haar. In jüngeren Jahren hatte eine dunkelbraune Haarpracht seinen Kopf geziert, aber das war längst vorüber. Kaum hatten einzelne, graue Strähnen angefangen, sichtbarer zu werden, hatte er seine gesamte Frisur radikal gestutzt.

Bernard Quinn gefiel es nicht, älter zu werden. Ganz und gar nicht. Auch die Kleidung unter seinem typischen, weißen Arztkittel zeugte von jugendlicherem Stil und dem Willen, nach außen hin jünger zu wirken.

Oder vielleicht gefielen ihm die Klamotten einfach, die derzeit in der jüngeren Generation angesagt waren. Ganz so gut kannte ich ihn dann trotz unserer fast zwei Jahrzehnte langen Bekanntschaft nicht. Immerhin ging es in unseren Sitzungen ausnahmslos um mich, nicht um ihn. Logischerweise.

Ich war hier der Freak. Nicht er.

„Und wenn es zu viel wird, erhöhst du die Dosis vom O-Nesciol." Es war eine Feststellung, keine Frage.

Ich nickte knapp. „Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll."

„Die Nebenwirkungen?"

Das bittere Schnauben, das mir bei dieser Nachfrage entschlüpfte, konnte ich mir nicht verkneifen. „Furchtbar."

Quinn musterte mich forschend. Natürlich reichte ihm eine Ein-Wort-Beschreibung nicht aus.

„Tendenz?", hakte er nach. „Schlimmer? Besser als noch vor ein paar Wochen? Oder gar erneutes Eintreten von Bewusstlosigkeit?"

Wie kompliziert konnte ein Mensch es formulieren, dass ich schlichtweg umgekippt, auf die Fresse gefallen und im Krankenhaus gelandet war?

„Schlimmer." Ich runzelte die Stirn. „Aber umgefallen bin ich seit der Sache mit dem Kaffee nicht mehr. Ich trinke auch keinen mehr, also ..."

Der Arzt warf mir einen schrägen Blick zu. „Das will ich auch hoffen, junger Mann." Er schob sich seine schmale, neongrüne Lesebrille, die an einer Schnur um seinen Hals baumelte, auf die Nase und räusperte sich. „Wie gehst du ansonsten mit der Situation um?"

„Naja." Ich überlegte, wie ich mich ausdrücken sollte, ohne wie ein Vollpsycho zu klingen, der in Eigenregie an seinen Psychopharmaka herumdokterte. „Ich habe mit der Zeit festgestellt, dass das O-Nesciol anscheinend besser anschlägt, wenn ich der Müdigkeit nicht nachgebe und wachbleibe. Dann ist es am nächsten Morgen so, als wäre nichts gewesen. Wie ein Neustart. Aber wenn ich mich sofort hinlege und ausschlafe, sind die Stimmen morgens immer noch da. Zwar irgendwie ... leiser und kontrollierter, nicht so aggressiv, aber sie sind da."

Mit einem nachdenklichen Brummen notierte Quinn sich einige Stichpunkte auf seinem Notizblock.

Ich ignorierte es.

Nach zwei Jahrzehnten Therapiegesprächen mit Bernard Quinn hatte ich mich daran gewöhnt, dass meine Aussagen ausnahmslos protokolliert wurden. Früher hatte mich das nervös gemacht und zum Stottern gebracht, doch inzwischen war es mir egal.

„Und dann?"

Kurz war ich verwirrt. „Was?"

Quinn hob den Kopf. „Was machst du dann? Ich nehme nicht an, dass du gleich frühmorgens damit beginnst, dir die Höchstdosis O-Nesciol einzuwerfen."

„Ähm ... nein." Unschlüssig kaute ich auf meiner Unterlippe. Sollte ich ihm sagen, dass ich meinen Kopf unter den Wasserhahn hielt? Besser nicht. „Die Stimmen verschwinden im Laufe des Morgens von allein."

Das ließ den Arzt innehalten. „Sie verschwinden von allein?"

Natürlich glaubte er mir nicht.

„Vielleicht ist es auch einfach mein Tee, der den Kopf beruhigt", setzte ich demnach eilig hinzu. „Sie wissen schon. Dieser Gewürztee. Und wenn ich dann die Tablette eingenommen habe, ist endgültig Funkstille."

Damit schien der Therapeut eher leben zu können, denn seine Schultern entspannten sich sichtlich. „Verstehe. Das Medikament zeigt also nach wie vor seine Wirkung. Trotz heftiger Nebenwirkungen bei höherem Gebrauch. Sehr gut."

Ja. Wirklich fantastisch.

Ich zuckte nur die Schultern.

„Brauchst du wieder ein Rezept?"

„Diese und nächste Woche sollte mein Vorrat auf jeden Fall noch reichen."

Er nickte andächtig. „Gut, Niall. Dann haben wir es für heute." Er erhob sich, was ich als mein Zeichen sah, es ebenfalls zu tun und seine ausgestreckte Hand zu ergreifen. „Nach wie vor kannst du dich jederzeit telefonisch melden. Ansonsten sehen wir uns nächste Woche wieder."

Ich nickte, während ich eilig meine Hand aus seiner feuchten Umklammerung löste. Ich hasste Händeschütteln. Vor allem bei Quinn, dessen Finger durchgehend schweißnass zu sein schienen.

„Danke. Auf Wiedersehen."

Die Therapiesitzungen brachten mir nicht viel. Das durfte ich zwar zu niemandem laut sagen, zu Bernard Quinn gleich dreimal nicht, aber es war leider so.

Ich beschrieb hier nur meine aktuelle Verfassung und was sich in den vergangenen Tagen in Bezug auf meine Erkrankung ereignet hatte.

Veränderungen der Medikation ordnete er schon lange nicht mehr an, ebenso wenig gab er mir noch Bewältigungstipps oder Ratschläge, wie ich besser mit diesen merkwürdigen Anfällen umgehen könnte. Diese Zeiten waren vorbei.

Letztendlich war es mir aber auch egal. Jedenfalls, solange ich selbst Wege und Mittel fand, es erträglicher zu machen und nicht den Verstand zu verlieren.

Heute blieb es still. Während der Sitzungen selbst meldeten sich die Stimmen für gewöhnlich ohnehin nie zu Wort, erst wieder im Bus nach Hause, zur Uni oder in der Uni selbst, aber heute geschah nichts dergleichen.

Mein Kopf gehörte ausnahmsweise mal wieder mir allein.

Ein schönes Gefühl.

Einigermaßen gutgelaunt stieg ich an der Universität aus dem Bus und wollte mich schnurstracks auf den Weg in meine (bereits laufende) Vorlesung machen, doch ich kam keine drei Schritte weit, da blieb mein Blick prompt an einem schwarzen Haarschopf hängen.

Unwillkürlich verlangsamte ich meine Schritte, um näher hinzusehen.

Mein erster Eindruck bestätigte sich. Zayn.

Mein neuer Nachbar lehnte an der Wand des gläsernen Bushaltestellenhäuschens, die Beine lässig gekreuzt und den Blick konzentriert auf sein Smartphone gerichtet.

Sah ganz so aus, als hätte er im Gegensatz zu mir seine heutigen Lehrveranstaltungen schon hinter sich gebracht. Der Glückliche.

Ehe ich mich zurückhalten konnte, lief ich schon auf ihn zu, und als er beim Klang meiner Schritte den Kopf hob und mich natürlich sofort entdeckte, war es sowieso schon zu spät, es mir anders zu überlegen.

„Niall, hey!" Sofort steckte er sein Handy weg. Sein charakteristisches, schiefes Grinsen war mir mittlerweile so vertraut, dass ich es automatisch erwidern musste. Zugegebenermaßen ließ es auch meinen Magen ein wenig flattrig werden, doch das ignorierte ich gekonnt. „Alles klar?"

„Hey." Verlegen schob ich mir den Riemen des Rucksacks höher auf die Schulter. Wie peinlich. Warum hatte ich mich auch so übereifrig auf ihn stürzen müssen? „Ja, schon. Bei dir hoffentlich auch?"

Er reckte den Daumen seiner freien Hand empor. „Immer doch. Ich musste gestern zwar geschlagene zehn Minuten dazu investieren, die Papiertonne zu finden, aber ansonsten ist alles palletti."

Zweifelnd zog ich die Augenbrauen hoch. „Die Papiertonne ist ein grüner Container, der einen beinahe anspringt, wenn man um die Ecke geht. Wie kann man den übersehen?"

Zayn zuckte die Schultern. „Ich kann es."

„Offensichtlich. Glückwunsch."

„Danke."

Schweigen trat ein.

Natürlich wusste keiner von uns beiden, worüber wir reden sollten.

Ich wiederhole: Peinlich.

„Wie war dein Termin?", ließ Zayn schließlich verlauten. „Du weißt schon. Der, von dem du gestern erzählt hast. Der war doch gerade eben, oder?"

Wieder mal war ich erstaunt. Darüber, wie leicht mein neuer Nachbar sich unbedeutende, scheinbar irrelevante Details merken konnte.

Ich hatte besagten Termin – die Therapiesitzung bei Quinn – gestern bei einer von vielen, natürlich rein zufälligen Treppenhausbegegnungen lediglich am Rande erwähnt. Ganz nebenher, ohne wirklich die Absicht zu haben, davon zu berichten. Ich hatte nicht einmal erwähnt, welche Art von Termin es war.

Und Zayn, dieser unleidliche Jurist mit seinem überdurchschnittlichen Auge fürs Detail, hatte die unvollständige Information offenbar trotzdem sofort abgespeichert.

Eine faszinierende, beneidenswerte Eigenschaft, doch im Moment brachte sie mich eher in Erklärungsnot. Eigentlich hatte ich nicht vorgehabt, Zayn in naher Zukunft Einblick in den persönlichsten Teil meiner Welt zu gewähren. Die Diagnose. Die Therapie. Die Medikamente und ihre Nebenwirkungen. Und am allerwenigsten die Stimmen in meinem Kopf.

Ich würde ihn damit nur in die Flucht schlagen. Über die Jahre hatte ich auf die harte Tour gelernt, dass ich Menschen mit solcher Ehrlichkeit eher verstörte, als eine Vertrauensbasis zu schaffen. Traurig und frustrierend, aber wahr.

„Ja, das war nur ein ..." Ich stolperte über meine eigenen Worte. „Ein Arzttermin."

Zayns Stirn legte sich in Falten. „Oh. Doch nichts Schlimmes?"

Ich rang mir ein Lächeln ab. „Nein, nein. Reine Routine."

Er wirkte nicht überzeugt, nickte aber trotzdem. „Okay."

Schon wieder war eine Gesprächspause im Anmarsch, diesmal eine von der extrem hilflosen, extrem überforderten Sorte. Ich spürte es.

Fuck.

Doch bevor ich aus reiner Verzweiflung heraus irgendwelchen Schwachsinn von mir geben konnte, den ich binnen Sekunden bereut hätte, wurden Motorengeräusche laut, und einen Moment später fuhr ein Bus in die Haltebucht ein. Der Elfer, den ich selbst auch nutzte, um nach der Uni nach Hause zu kommen, also würde Zayn sich nun wohl auf die Socken machen.

Ich war nicht sicher, ob ich darüber nun erleichtert oder enttäuscht sein sollte.

„Oh, das ist meiner." Wie erwartet griff Zayn nach der schwarzen Umhängetasche, die hinter ihm auf der metallenen Sitzbank lag. „Ich schätze, wir sehen uns zu Hause?"

„Klar." Ich machte mich an den Rückzug, eventuell ein wenig zu eifrig. „Vielleicht sollten wir unsere Lästerstunden aber mal woandershin verlegen, statt sie im Flur abzuhalten."

Im nächsten Moment hätte ich mich am liebsten getreten.

Hatte ich das ... eben wirklich vorgeschlagen? Hatte ich ihn zu einem Treffen in einer unserer Wohnungen eingeladen?

Oh nein.

Was, wenn er dachte, ich wollte was von ihm?

Was ganz am Rande die Frage aufwarf, ob ich das denn tatsächlich tat.

Panik.

„Eine hervorragende Idee." Zayns Lachen war wie Musik in meinen Ohren. „Bis dann!"

„Ciao." Nur im letzten Moment konnte ich mich davon abhalten, auch noch wie ein kleiner Trottel zu winken, indem ich meine Hände in die Taschen meiner Jeans stopfte.

Mit lautem Zischen schlossen sich die Türen, ehe der Busfahrer, radikal wie immer, aufs Gas stieg und sämtliche Insassen dazu brachte, um ihr Leben zu fürchten. Röhrend und stotternd verließ der Bus die Haltebucht und war schon bald die Straße hinauf stadtauswärts verschwunden.

Dann erst wandte ich mich ab. Kurz schloss ich die Augen, das entsetzte Grinsen noch immer auf meinen Lippen festgefroren, um mich mental zu sammeln. Die befremdeten Blicke, die ich mir damit von sämtlichen Passanten einhandelte, ignorierte ich geflissentlich.

Was war das denn wieder gewesen? Wieso war ich nicht nur unheilbar krank, sondern auch noch zu dumm, um mich mit Leuten zu unterhalten? Noch dazu mit einem sympathischen, vollkommen harmlosen Kerl wie Zayn Malik, mit dem ich durchaus Freundschaft schließen könnte, wenn ich mich nicht so anstellen würde? Wieso hatten meine Gene denn keinen einzigen Funken Normalität abbekommen?

Verstehen würde ich das nie.

Ich war und blieb einfach ein Freak.

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Welch tolle Aussichten.

Ansonsten kann ich heute nicht viel belabern🤔 Hab eben mit meinem Chor eine Hochzeit gestaltet und bin jetzt aus irgendeinem Grund komplett exhausted. Und mir tut der Fuß weh, weil mir beim Klavierspielen STÄNDIG das Pedal davongerutsch ist. Ugh.

Btw läuft auch schon der Schreibprozess des nächsten Projekts😌 "The Supernatural-one", wie ich es bisher nenne. Eine Lösung für die DNA-Belange in "Oblivious" habe ich leider immer noch nicht, also wird das weiterhin prokrastiniert. Oops.

Äh ja. Das zum Thema "nicht-viel-labern".

Liebe Grüße und ein schönes Wochenende!

Andi❤


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