47) Begreifen

Trotz des dicken Hoodies und der Lederjacke fröstelte ich erbärmlich, als ich das Smartphone aus der Jackentasche fischte. Zum Glück befand sich die Speicherkarte schon darin – mit meinen kalten, steifen Fingern hätte jeder Versuch vermutlich zu Unfällen geführt.

Den ersten Versuch hatte ich vorhin in Harrys und meinem Zimmer durchgeführt, nur um festzustellen, dass die App zum Öffnen der Datei Internet brauchte, das mir die mobilen Daten des Handys ohne Empfang nicht liefern konnte.

Natürlich gab es im Stützpunkt der Rebellen WLAN, aber das stand außer Frage. Jedenfalls, solange ich mich nicht mit einem unbefugten Gerät einloggen und sämtliche Alarmmechanismen auf mich aufmerksam machen wollte.

Demnach saß ich nun auf dem Dach des Gebäudes und blickte auf das leuchtende Straßennetz einer nächtlichen, fremden Stadt hinaus.

Meiner Vermutung nach handelte es sich beim Rebellenstützpunkt um ein altes Firmengebäude, das offiziell leer stand, jedoch einer Privatperson gehörte und demnach keinen staatlichen Kontrollen unterzogen wurde.

Der Weg aufs Dach war einfach gewesen. Niemand hatte mich aufgehalten oder nachgefragt, wohin ich wollte, nicht einmal Harry. Letzterer hatte mich lediglich zur Begrüßung in eine feste Umarmung geschlossen und sich dann zu Anne verabschiedet, offensichtlich nicht bereit für ein Gespräch.

Es tat weh.

In mir brannte das Verlangen, mich bei jemandem über das Geschehene auszusprechen. Die unsägliche Nervosität im Labor. Die Flucht. Nadjas Tod nur wenige Schritte neben mir, ihre Leiche, die Blutlache. Die für Anne bestimmte Kugel, der am Ende ein OOA-Agent zum Opfer gefallen war. Durch meine Hand. Oder besser gesagt, durch meinen Kopf, ohne meine bewusste Zustimmung.

Wie gerne hätte ich mit Harry darüber gesprochen. Natürlich konnte auch er mir keine Ratschläge geben oder irgendetwas an der Situation ändern, aber ich musste es einfach loswerden. Bei jemandem, dem ich vertraute.

Aber da er mir so klar und deutlich vermittelte, dass kein Interesse an einem Gespräch mit mir bestand, drängte ich ihn auch nicht dazu. Sicherlich wurde er ohnehin gerade von Anne in alles eingeweiht und brauchte eine Schilderung meinerseits gar nicht.

Mit einem dumpfen Gefühl im Magen lehnte ich mich an die Mauer zurück, auf deren Vorsprung ich mich niedergelassen hatte. Über mir hing ein bewölkter Himmel mit nur schwach hindurchschimmernden Sternen, zusätzlich übertüncht vom Licht des Vollmondes.

Die Härchen auf meinen Armen stellten sich auf, als erneut ein Windstoß über das Dach hinwegfegte und sich bis auf meine Knochen hindurchfraß.

Mit zittrigen Fingern ließ ich das Display des Smartphones aufflammen, stellte zufrieden fest, dass das Gerät hier oben uneingeschränkten Empfang hatte.

Eilig tippte ich den Ordner mit der Bezeichnung M.G.TD. an, verfolgte mit den Augen, wie der charakteristische Ladekringel erschien, der symbolisierte, dass das Gerät arbeitete. Ein Fenster öffnete sich, offenbarte ein grünes Logo mit dem Schriftzug Q-Dokumobil darunter. Darauf war ich vorhin auch schon gestoßen, bis ich kapiert hatte, dass die App Internetzugriff benötigte, um ordentlich zu laden.

Und den hatte ich jetzt.

Mit klopfendem Herzen umfasste ich das Smartphone fester und zuckte prompt zusammen, als das Logo verschwand und einer Auflistung wich.

1994/01/17-M.G.TD. lautete der Titel der ersten Datei.

Stirnrunzelnd scrollte ich ein wenig nach unten. Die Dateinamen setzten sich in chronologischer Abfolge fort, stoppten schließlich mit einem 1999/10/29-M.G.TD.

Irritiert ließ ich das Gerät für einen kurzen Moment sinken. Mein Kenntnisstand über Jahreszahlen und Geschehnisse der Rebellion hielt sich noch immer schändlich in Grenzen, aber sprachen nicht alle davon, dass die Rebellion um die Jahrtausendwende herum zerschlagen worden war?

Und die App hieß Q-Dokumobil, also war es eindeutig ein Programm zur Dokumentation. Ebenfalls über eine Forschung? Oder über jemanden? Jemanden, der bei der Niederschlagung der Rebellion die Finger im Spiel gehabt hatte?

Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden. Kurzentschlossen tippte ich die erste Datei an.

Ein Reader öffnete sich, zeigte ein Dokument mit Stichpunkten und Grafiken. Letztere ließen mich ratlos zurück, erklärten allerdings, warum eine spezielle App hierfür notwendig war – ganz offensichtlich stammten die Werte von Messgeräten und waren direkt in das Dokument importiert worden. Ein herkömmliches Büroprogramm wäre sicherlich nicht zu einer solchen Auswertung fähig. Oder dazu, diese zu öffnen und korrekt anzuzeigen.

Irgendwann beschloss ich, die Grafiken einfach zu ignorieren. Ich verstand sowieso nur Bahnhof. Stattdessen zoomte ich den Text heran, erhaschte einen Blick auf die Kopfzeile – und schlagartig saß ich kerzengerade da.

Patientin: Gallagher, Maura; geb. 1. Januar 1961; Obliviousmutation der 2. Generation; mittleres Stadium

Therapiesitzung 1; gez. Dr. Bernard Quinn

Mein Mund wurde trocken. Das hier waren nicht nur irgendwelche Aufzeichnungen. Das hier waren Aufzeichnungen über Maura Gallagher. Meine Mutter. Die Dokumentation von irgendwelchenTherapiesitzungen, offenbar bei niemand Geringerem als Dr. Bernard Quinn höchstpersönlich.

Patientin klagt über das Erstarken unbewusster bzw. unbeabsichtigter, mutationsbasierter Handlungsweisen, lautete der erste Stichpunkt. Fortschritt der Mutation bereits im mittleren Stadium, Behandlung mit modifiziertem O-Nesciol auf Wunsch der Patientin hin.

Hektisch scrollte ich weiter, bis sich automatisch die zweite Datei in der Liste öffnete – offenbar eine Sitzung, die einige Wochen später stattgefunden hatte.

Patientin berichtet von Kontroll- und Erinnerungsverlust, ferngesteuerten Handlungsweisen und vermehrten außerkörperlichen Erfahrungen.

Bericht über vermehrte Konflikte im sozialen Umfeld; Unverständnis unter Ihresgleichen -> Patientin schweigt, was die übermäßigen Ausprägungen ihrer Mutation betrifft

Gefühle der Gedankeneingebung und Manipulation von innen à schizophrene Symptomatik?

Vermehrter ungewollter Einsatz der Telekinese.

Schlafstörungen wegen innerer Unruhe und mentalem Chaos.

Vermehrt Konflikte im sozialen Umfeld.

Erstarkende Unfähigkeit zur Entscheidungsfindung.

Äußerung von Sorgen bezüglich der Mutation des Sohnes à bei James wurde eine ähnliche, sich wandelnde Ausprägung der Oblivious-Mutation (= Mutation der zweiten Generation) festgestellt. Bitte der Patientin, bei ihm frühzeitig mit einer Untersuchung und Behandlung zu beginnen, um den Verlauf zu dämpfen oder komplett zu verhindern.

Patientin spricht von absoluter Hoffnungslosigkeit à zum ersten Mal Äußerungen, die nach beginnenden, suizidalen Tendenzen klingen

Äußerung des ausdrücklichen Wunsches, die theoretische Enzymforschung in die Umsetzung zu bringen und zu unterstützen, um...

Das Smartphone entglitt meinen kalten, steifen Fingern.

Die Enzymforschung in die Umsetzung zu bringen? Sollte das heißen, meine Mutter hatte auf eigenen Wunsch hin aktiv daran mitgewirkt? Sie hatte die Forschung überhaupt erst angestoßen?

Die Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich.

Wenn ich das hier richtig las, hatte sich ihre Mutation nach und nach verselbstständigt. Sie verlor die Kontrolle darüber, geriet immer mehr in Verzweiflung – Verzweiflung, an der sie offenbar nur ihren Therapeuten, Bernard Quinn, teilhaben ließ. Weil die anderen Oblivious, mit denen sie in Kontakt stand, ihr kein Gehör schenkten.

Die Parallelen zu dem, was ich von Zayn über dessen Vater in Erfahrung bringen konnte, waren beängstigend.

Wie betäubt starrte ich das Display an.

Meine Mutter hatte die Enzymforschung nicht bekämpft, wie ihr Bruder Ken es mir weismachte. Im Gegenteil, sie hatte diese überhaupt erst begonnen und aktiv unterstützt, vermutlich mit sich selbst als Versuchsperson. Für sie gab es zu dem Zeitpunkt wohl nichts mehr zu verlieren.

Mal abgesehen von ihrem Sohn, James.

Ich.

Sie bat um einen frühzeitigen Behandlungsbeginn bei mir. Aber ... hatte diese Behandlung überhaupt stattgefunden? Bernard Quinn war zwar von klein auf mein Therapeut gewesen, aber er hatte nie etwas anderes getan, als mich mit den üblichen O-Nesciol-Tabletten abzufüllen, um mich ruhig zu halten. Hatte man mich nach dem Ende der Rebellion zu engmaschig überwacht? Hatte man Quinn zu sehr auf die Finger gesehen?

Und, viel wichtiger: Wo lagen Quinns Loyalitäten? Die Ressourcen für seine Forschung bezog er über die OOA, das stand ganz außer Frage. Aber forschte er auch für die OOA?

Und wussten wiederum Maura Gallaghers Rebellenkollegen, dass sie Quinns Forschung unterstützte? Ich bezweifelte es. Damit hätte sie nur eine Eskalation ausgelöst. Diese Eskalation war später zwar ohnehin eingetroffen, aber nicht wegen ihr, sondern weil die OOA den Rebellenstützpunkt ausfindig gemacht hatte.

Ich holte tief Luft, lenkte meine Aufmerksamkeit auf das Smartphone zurück. Diese verdammte Petrischale befand sich ebenfalls noch in der Innentasche der Lederjacke, ganz nah an meinem Körper. Vermutlich gut für den Inhalt, was die Wärme betraf, und gut für mich, weil sie sich auf die Art gut verbergen ließ.

Der letzte Eintrag tauchte vor mir auf. Also mehr oder weniger kurz vor ihrem Tod.

Ich schluckte schwer. Die Vorstellung davon, dass sie zum Zeitpunkt dieser Sitzungen noch nichts davon geahnt hatte, in naher Zukunft ermordet zu werden, ließ Übelkeit in mir aufsteigen.

Patientin berichtet von langanhaltender Schlaflosigkeit und übermäßigem Konsum von Medikamenten. Verzweiflung darüber, nicht mehr für ihr Kind sorgen zu können à Ihr fünfjähriger Sohn lebt seit Kurzem bei Dr. Anne Twist, einer engen Bekannten der Patientin.

Äußerung von Sorgen bezüglich ihrer Position als Anführerin sowie bezüglich ihres Bruders, Ken Gallagher, der offenbar zunehmend-...

„Hey, Niall."

Beinahe hätte ich aufgeschrien.

Aber nur beinahe.

Stattdessen schaffte ich es, mit einer blitzschnellen Bewegung das Smartphone verschwinden zu lassen und die Hände im Schoß zu falten. Keine Sekunde zu früh.

Einen Wimpernschlag später tauchte schon Ken Gallagher höchstpersönlich vor mir auf. Er trug noch immer dieselben Klamotten wie vorhin beim Laboreinbruch, lediglich seine schwarzen Stiefel hatte er gegen bequeme Sportschuhe eingetauscht. Mit einem wohlwollenden Lächeln sah er auf mich hinab, die Hände in den Hosentaschen seiner Jeans vergraben.

„Äh ... hallo. Was gibt's?" Unsicher setzte ich mich gerader hin, um dann sogleich die Stirn zu runzeln. „Und woher wusstest du, dass ich hier..."

„Ach." Ken winkte ab. Seine Augen funkelten. „Ich habe auf den Monitoren gesehen, dass du in Richtung Treppenhaus läufst. Da dachte ich mir schon, dass du hierherkommst. Deine Mutter, Maura, hat das in unserem alten Stützpunkt auch ständig getan. Aufs Dach zu klettern, um ihr Gemüt abzukühlen, meine ich. Und anscheinend fällt der Apfel nicht weit vom Stamm, was?"

Unaufgefordert ließ er sich neben mir nieder und ich musste dem Drang widerstehen, ein Stück von ihm abzurutschen. Gerade so, als könnte er mit bloßen Blicken erahnen, was ich in meinen Jackentaschen mit mir herumtrug.

Schweigen trat ein.

In meiner Wahrnehmung war es zäh und anstrengend, für Ken offenbar angenehm. Jedenfalls lehnte er den Kopf an die Wand zurück, schloss die Augen und atmete tief durch.

„Wir wurden verraten", gab er schließlich von sich, augenscheinlich ruhig und gefasst. „Jedenfalls das Team, das ich auf Quinn angesetzt hatte. Die OOA hat ihnen aufgelauert und sie festgenommen. Oder erschossen. Was auch immer. Zuzutrauen ist diesen Bastarden alles."

Mit einem Ruck hob ich den Kopf. „Was? Wer?"

Ken zuckte die Achseln. „Das konnte ich noch nicht herausfinden. Das Problem ist, dass es jeder gewesen sein könnte, der im Besitz eines Smartphones ist oder Zugang zu einem PC hat. Also im Prinzip wirklich jeder. Unser Glück, dass der Einbruch ins Labor hingegen als verdeckte Mission geplant wurde und nur die nötigsten Leute Bescheid wussten."

Ich starrte ihn an. „Ich dachte, es war genau andersherum."

„Nun ja." Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Niemals zu offensichtlich sein, was die nächsten Schritte angeht. Niemals alle Beteiligten in alles einweihen. Es gibt immer schwarze Schafe, die im Verborgenen ihr eigenes Süppchen brauen. Das habe ich inzwischen gelernt."

Täuschte ich mich oder schwang da ein bedeutungsvoller Unterton in seiner Stimme mit? Ein explizit an mich gerichteter Unterton?

Plötzlich schien das Smartphone Löcher in den Stoff meiner Jacke zu brennen. Unwillkürlich schlang ich die Arme um den Oberkörper, als könnte ich mich dadurch schützen. Vor der Kälte konnte ich das auf jeden Fall, aber vor Kens scharfen Sinnen wohl eher nicht.

„Hast du einen Verdacht?", brachte ich schließlich hervor. „Wenn es praktisch jeder gewesen sein kann, ist die Aussicht ja ziemlich hoffnungslos."

Wieder erreichte mich an Achselzucken als Antwort. „Habe ich. Aber der muss sich erst noch bestätigen."

Ich zwang mich zu einem Nicken. „Okay."

Kurze Stille senkte sich über uns.

„Kommst du damit klar?", meldete sich Ken irgendwann wieder zu Wort. „Mit dem, was auf dem Parkplatz passiert ist. Das steckt man nicht so einfach weg. Ich weiß das aus eigener Erfahrung."

Ich musste mich zusammennehmen, um nicht verblüfft zu gaffen. Diese Erkundigung kam überraschend. Nie hätte ich damit gerechnet, dass ausgerechnet Ken auf mich zukam, um sich nach meinem seelischen Wohlbefinden zu erkundigen. Seinen Vorsatz, was die Onkelrolle betraf, schien er sich sehr zu Herzen zu nehmen.

„Ähm." Verlegen verknotete ich die Hände in meinem Schoß. „Es geht? Ich meine, ich habe noch nie zuvor jemanden..."

Die Worte blieben mir im Hals stecken. Plötzlich zitterten meine Hände so sehr, dass ich sie in meiner Jeans festkrallen musste, um nicht in eine Panikattacke zu verfallen.

Ich wusste, was passiert war. Ich wusste, was ich getan hatte. Aber es direkt auszusprechen, die Worte in den Mund zu nehmen, das war aus irgendeinem Grund eine ganz andere Liga.

„Du wolltest es nicht, richtig?", erkundigte Ken sich leise, in solch behutsamem Tonfall, wie ich ihn noch nie von ihm gehört hatte. „Du hast noch versucht, die Kugel von ihrer Fluglinie abzubringen, aber dein Unterbewusstsein hat dagegengehalten."

Ich zwang mich zu einem vagen Nicken. „So in etwa."

Nachdenklich schürzte er die Lippen. „Du magst es nicht wahrhaben wollen, aber es ist eine gute Sache, wenn die Mutation für dich entscheidet."

„Ist das so?" Endlich gelang es mir, den Blick vom rissigen Betonboden loszueisen und ihn auf meinen Onkel zu richten. „Es ist also eine gute Sache, dass entgegen meiner bewussten Entscheidung ein Mensch getötet wurde?"

„Aber umso mehr infolge deiner unbewussten Entscheidung", hielt Ken im Brustton der Überzeugung dagegen. „Tief im Innersten wusstest du, dass die Agenten der OOA ausgelöscht werden müssen, auch wenn deine irrationale, emotionale Komponente dagegenhält. Immerhin wollten sie uns töten."

„Meine irrationale, emotionale Komponente?" Ich hob die Augenbrauen. „Soll das heißen, meine Mutation denkt rein rational und logisch?"

„Deine Mutation denkt überhaupt nicht. Du bist der Denkende. Die Mutation übernimmt nur für dich, wenn du nicht in der Lage bist, die richtige Entscheidung zu treffen."

Das klang nach einem Haufen Bockmist. Wie konnte es auch nur ansatzweise die richtige Entscheidung sein, einen Menschen zu töten? Nicht der kleinste Funken in mir hatte sich gewünscht, diese Kugel so einzusetzen.

Kontrollverlust.

So hatte es meine Mutter offenbar genannt. Mit dem Resultat, dass sie sich für die Enzymforschung eingesetzt hatte, um ihre Mutation loszuwerden.

Also genau das, was Zayn ebenfalls tat – und was Ken mit seiner mutationsverherrlichenden Einstellung nie und nimmer einsehen würde.

Abrupt wandte ich mich ab. „Verstehe ich nicht."

„Alles klar." Ken wirkte unbeeindruckt. „Es dauert oft eine ganze Weile, bis man seine Fähigkeiten als Geschenk akzeptieren kann. Vor allem, wenn man als Oblivious aufgewachsen ist, der seinem Namen alle Ehre macht. Schade. Du hättest dein ganzes Leben lang trainieren können. Dann wärst du jetzt der stärkste Mutant aller Zeiten, vermutlich noch stärker als deine Mutter. Gib dir ein bisschen Zeit, dann kannst du alles erreichen und deine Fähigkeiten voll ausleben."

„Und wenn ich das gar nicht möchte?"

Ken winkte ab. „Wart ab. Du musst einfach noch mehr in die Sache hineinwachsen."

Einige Sekunden lang sahen wir beide auf das nächtliche Straßennetz der Kleinstadt hinaus.

Kens Anwesenheit machte mich aus irgendeinem Grund nervös und aggressiv zugleich.

„Wollte meine Mutter das denn?" Die Frage verließ meinen Mund, bevor ich sie überdenken konnte. „All das hier."

Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, wie Ken sich mir zuwandte, doch ich zwang mich dazu, weiterhin geradeaus zu blicken und so zu tun, als wäre ich in Gedanken versunken.

„Wie kommst du darauf?" Hörbares Zögern gepaart mit lauerndem Tonfall. Offenbar begaben wir uns auf gefährliches Terrain.

Umso interessanter für mich. Vielleicht lieferte er mir endlich eine reale Version der Realität, statt mich mit vorgekauten Fakten zu füttern.

„Na ja." Ich zuckte mit den Schultern. „Ich kann mich nicht an sie erinnern. Ich bin nur neugierig."

Ken löste seinen bohrenden Blick von mir. „Deine Mutter war die Anführerin der Rebellion, Niall. Natürlich wollte sie all das hier. Sie hat für die gleichen Dinge gekämpft, für die wir auch jetzt noch kämpfen. Freiheit für die Menschen mit der Mutation, anstelle von Kontrolle, Unterdrückung und Auslöschung."

„Und das Begreifen der Restbevölkerung, dass Mutanten die besseren Menschen sind." Das Herz klopfte mir bis zum Hals. Ich war nicht gut in direkter Konfrontation. „Richtig?"

Ken runzelte die Stirn. „Was sich nicht leugnen lässt, lässt sich nicht leugnen, Niall. Es steht ganz außer Frage, dass Menschen mit der Mutation eine viel umfangreichere Spannbreite an Fähigkeiten und Fertigkeiten besitzen. Eine um ein Vielfaches ausgeprägtere Auffassungs- und Lerngabe ist nur der Anfang davon."

„Wie sollte die Weltordnung deiner Meinung nach denn aussehen? Eine deutliche Favorisierung von Mutanten in allen Bereichen? Nur noch Leute mit der Mutation in den Führungspositionen?"

Ich hatte diesen Unsinn als Scherz gedacht, doch Ken schien ihn für bare Münze zu nehmen.

„Wunderbar, Niall! Genau meine Gedanken! Wir sind der nächste Schritt der Evolution, weißt du? Der Schritt in die richtige Richtung, in Richtung einer Verbesserung des Menschen. Die Menschheit kann es sich nicht leisten, dass dieser Schritt geheim gehalten, verteufelt und ausgelöscht wird. Vielmehr sollte aktiv für eine Weiterverbreitung der Mutation gesorgt werden. Und dafür, dass sich die mutationslosen Gene reduzieren."

Meine Ohren dröhnten.

„Aktiv?", wiederholte ich leise. „Was soll das denn heißen? Nicht-Mutanten zu untersagen, Kinder zu kriegen?"

„Zum Beispiel."

Ein hysterisches Lachen verließ meinen Mund. „Das ist doch abartig. Jeder hat dasselbe Recht, zu leben. Ganz gleich, mit welchen Genen."

„Ist das so?", schoss Ken ungerührt zurück. „Die OOA scheint in Bezug auf uns ebenfalls anderer Meinung zu sein. Sie wollen uns auslöschen. Weil sie Angst vor uns haben."

Ich bemühte ich darum, ihm direkt ins Gesicht zu sehen. „Und woher stammt diese Angst?"

Ken musterte mich eingehend. Schließlich lehnte er sich wieder zurück, schlug die Beine übereinander und legte den Kopf schief, eine tiefe Falte zwischen den Augenbrauen.

„Worüber unterhalten wir uns hier überhaupt, Niall?", fragte er langsam. „Worauf möchtest du hinaus?"

Mit einem mulmigen Gefühl setzte ich mich gerader hin. „Ich möchte nur verstehen."

„Was gibt es hieran denn nicht zu verstehen?" Allmählich schien er frustriert zu sein. „Siehst du denn nicht ein, wofür wir hier kämpfen? Möchtest du nicht unterstützen, was deine Mutter begonnen, wofür sie ihr Leben gegeben hat?"

„Wofür hat sie denn ihr Leben gegeben?"

Kens Gesicht verfinsterte sich zunehmend und ich bemerkte, wie sich sein Kiefer verhärtete. Ich sollte mit meiner Fragerei einfach aufhören, bevor ich mich am Ende noch verdächtig machte, aber ich konnte nicht. Ich hatte keinen Nerv mehr für halbe Wahrheiten.

„Ach was." Ken erhob sich so abrupt, dass ich zusammenzuckte. „Du bist erschöpft und solltest ein wenig Ruhe finden." Kumpelhaft klopfte er mir auf die Schulter. „Lass uns morgen weiterreden, wenn wir beide ausgeschlafen sind."

Unzufrieden presste ich die Lippen aufeinander. „Okay. Alles klar. Dann bis morgen."

Ich wartete darauf, dass er sich verabschiedete und mich endlich alleinließ, doch diesen Gefallen tat er mir nicht. Stattdessen blieb er neben mir stehen und sah mich so lange auffordernd an, bis ich ebenfalls aufstand. Ganz offensichtlich hatte er nicht vor, mir hier oben weitere Zeit für mich allein zu vergönnen.

Sein Blick brannte in meinem Nacken, als ich vor ihm die Treppe hinabstieg, nachdenklich und abschätzend. Vor Harrys und meinem Zimmer angekommen, verabschiedete er sich freundlich wie immer, doch mir entging das argwöhnische Glimmen in seinen Augen nicht. Er versuchte, schlau aus mir zu werden, doch es gelang ihm nicht.

Mit klopfendem Herzen verschloss ich die Tür hinter mir und drehte den Schlüssel herum. Erst, als Kens Schritte komplett verklungen waren, wagte ich es, aufzuatmen und mich meinem Bett zuzuwenden. Das Zimmer war leer, offenbar hielt sich Harry noch immer bei Anne auf.

Langsam zog ich das Smartphone wieder hervor, um den Bericht zu Ende zu lesen, doch als ich den Bildschirm entsperrte, lachte mir nur der Schriftzug Keine Internetverbindung entgegen.

Kurz spielte ich mit dem Gedanken, aufs Dach zurückzukehren, doch am Ende stopfte ich das Handy frustriert unters Kopfkissen, ehe ich meinen Kopf darauf fallen ließ. Ganz sicher wies Ken seine Wächter nun darauf an, explizit mich im Blick zu behalten und mir in die Quere zu kommen, sollte ich einen Spaziergang durchs Gebäude starten.

Ken wurde in Quinns Bericht namentlich erwähnt, ich wusste nur nicht, in welchem Zusammenhang. Noch nicht. Welche Rolle hatte er gespielt, als Maura Gallaghers gesundheitlicher und mentaler Zustand mutationsbedingt immer bedenklicher geworden war? Er sprach immerhin davon, dass sie für die Rebellion gestorben war, dass sie bis zum Schluss hinter diesen Werten gestanden hatte.

Aber wie groß war Mauras Überzeugung denn tatsächlich gewesen? Als Mutantin, deren Fähigkeiten zunehmend aus dem Ruder gerieten? Als Mutantin, der immer mehr bewusstwurde, wie gefährlich ein solcher Kontrollverlust sein konnte? Hatte sie wirklich geglaubt, einer der besseren Menschen zu sein, wenn sie gleichzeitig an einer Methode forschte, mit der die Mutation repariert werden konnte?

Fuck.

Unruhig warf ich mich auf die andere Seite, starrte die Wand an.

Ich musste dieses Protokoll zu Ende lesen.

Koste es, was es wolle.

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Vielen Dank fürs Lesen & liebe Grüße aus Abisko in Schweden!😊

Andi❤

P.S: Komme frisch von der Nordlicht-Jagd. Gesehen haben wir zwar nichts, weil es zu bewölkt ist, aber morgen sollten wir gute Chancen haben. Und schöne Grüße von Chrissi moontosun , die ist auch dabei😊🤣


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