40) Sahnehäubchen
Meine Erschöpfung ließ mich Zayns Ratschlag mit Elton John vollkommen vergessen.
Anstatt mir den Plüschbären sofort vorzuknöpfen, schaffte ich es nur noch, mir meine Schuhe von den Füßen zu streifen, dann fiel ich auch schon wie ein Stein ins Bett. Vermutlich befand ich mich im Tiefschlaf, noch bevor mein Kopf das Kissen berühren konnte.
Leises Rauschen holte mich am nächsten Tag mehr oder weniger sanft aus dem Schlaf. Verwirrt blinzelte ich gegen die Sonnenstrahlen an, die durchs Fenster hereinlachten.
Sonne?
Wie lange hatte ich wohl geschlafen? Und wann war ich gestern überhaupt zurückgekehrt? Müde rieb ich mir die Augen, aber das zehrende Gefühl der Zerschlagenheit blieb natürlich. Der Ausflug zu Zayn hatte definitiv seine Spuren hinterlassen. Ich konnte nur hoffen, dass diese Spuren sich vollständig auflösten, bevor heute der nächste Ausflug startete.
Abrupt hielt ich inne.
Der Ausflug in Quinns Labor. Die finale Besprechung war für heute Vormittag angesetzt.
Einen Moment später war ich hellwach. Hektisch fuhr ich hoch, mein erster Griff galt meinem Handy, doch glücklicherweise blieb meine Panik unbegründet. Das Display zeigte erst knapp acht Uhr morgens, die Besprechung startete also erst in einer Stunde.
Ächzend ließ ich mich in das Kissen zurückfallen, schloss noch für einige Sekunden die brennenden Augen. Zwar hatte ich mir bei der Aktion gestern weder eine blutige Nase noch blutige Ohren geholt, dafür aber ein beachtliches Energiedefizit.
Das Rauschen, das mich geweckt hatte, wurde unterbrochen von lautem Poltern und Platschen. Beides drang aus dem Bad – offenbar hatte Harry sich dazu entschieden, eine Morgendusche zu nehmen und dabei mal wieder sein Duschgel fallenzulassen.
Bei der Vorstellung, wie er nun klatschnass und miesepetrig unter der Dusche stand, mit seinen langen Gliedmaßen nach dem Duschgel angelte und sich dabei einen Fluch verkniff, musste ich grinsen. Harry war definitiv eine Nummer für sich.
Was leider nichts daran änderte, dass ich ihn belügen musste, sobald er einen Schritt aus dem Bad tat.
Der Knoten in meinem Magen verstärkte sich. Bevor ich mich jedoch mit meinem schlechten Gewissen befassen konnte, zog etwas am Rande meines Blickfelds meine Aufmerksamkeit auf sich. Etwas, das im Licht der aufgehenden Sonne farbenfroh glitzerte.
Elton John. Der Plüschbär sonnte sich auf dem Fensterbrett und leuchtete dabei mit all seinem Glitzer wie eine Werbereklame. Natürlich trug er immer noch sein übliches, regenbogenfarbenes Hühnerkostüm, die Knopfaugen hinter der lächerlich großen, pinken Brille verborgen.
Elton John. Zayns Hinweis.
Abschätzend spähte ich zur Badezimmertür hinüber. Ob mir wohl genug Zeit blieb, das Kuscheltier zu inspizieren? Ohne dabei von Harry überrascht und anschließend ausgefragt zu werden?
Ein Geräusch erklang, das vom Verschluss einer Shampooflasche herrühren könnte, gefolgt von leisem Klappern und einem unterdrückten Fluch, als wäre nun auch der Deckel auf dem Boden der Dusche gelandet. Ein Indiz dafür, dass er noch ein Weilchen im Bad beschäftigt sein dürfte.
Kurz entschlossen reckte ich mich, schnappte mir Elton John vom Fensterbrett. Eine bessere Gelegenheit wie jetzt bekam ich wohl den ganzen Tag über nicht mehr. Entweder ich tat es also sofort, oder eben erst in vielen Stunden, die ich definitiv nicht mehr abwarten konnte.
Der Tipp mit Elton John stammte immerhin von Zayn höchstpersönlich und war demnach zu wertvoll, um ihn trotzig zu ignorieren. Zayn wusste eine Menge, wenn nicht sogar alles. Ich würde nach jedem Strohhalm seines Wissens greifen, wenn er ihn mir schon so einladend hinhielt.
Nervosität brodelte in mir, als ich mich aufs Bett zurückfallen ließ, Elton John vor mir auf dem Schoß. Ratlos starrte ich ihn an. Elton John starrte aus seinen leblosen Knopfaugen zurück, natürlich ohne mir einen Tipp zu geben.
Rein äußerlich ließ sich nichts Ungewöhnliches feststellen – wenn man vom Hühnerkostüm und von den goldenen, hochhackigen Stiefeln an seinen Beinen mal absah. Meine Güte. Bei der Ausstattung dieses Plüschbären hatte jemand ganze Arbeit geleistet. Ob es wohl Tilda selbst gewesen war? Zuzutrauen wäre es ihr.
Probehalber zog ich an der Federhaube auf seinem Kopf, doch die war natürlich angenäht.
Ich sollte ihn einer näheren Inspektion unterziehen, so hatte Zayn es formuliert. Aber wonach suchte ich denn? Es könnte alles sein, was nicht übermäßig groß war. Ein Stück Papier, eine Münze, ein Stift ...
Entschlossen machte ich mich über das Hühnerkostüm her. Irgendwie tat es mir leid, den armen Bären nun so ruhmlos zu entkleiden, aber ich konnte ja auch nichts dafür, dass er hier als Medium missbraucht wurde.
Das Kostüm blieb unauffällig, sofern man es als unauffällig beschreiben konnte. Ich filzte es bis auf den letzten Millimeter, überprüfte jede Feder einzeln, kehrte das Innenfutter nach außen – nichts.
Nachdenklich drehte ich den kostümlosen Bären in alle Richtungen. Nichts an ihm stach mir beim ersten Hinsehen ins Auge, er trug nicht einmal eine Schleife am Hals. Stirnrunzelnd befühlte ich seine Ohren, ließ die Finger über das weiche, braune Fell gleiten, bis mein Blick an der Naht an seinem Rücken hängenblieb.
Mit schmalen Augen hob ich mir das Plüschtier ans Gesicht. Die Naht war fein verarbeitet, kaum sichtbar und wirkte nicht so, als hätte sich jemand im Nachhinein daran zu schaffen gemacht. Sie zum Beispiel aufgetrennt und wieder zugenäht.
Ich drehte das Tier auf den Kopf, doch auch die Naht am Gesäß schien normal zu sein.
Nun gut. Dann eben nicht. Aber wo...
Noch während ich ihn resigniert wieder auf meinen Schoß setzen wollte, um ihn dann eventuell an die Wand zu werfen, registrierte ich im allerletzten Moment doch noch etwas Auffälliges.
An seiner linken Tatze standen ein paar Fäden ab.
Prompt beschleunigte sich mein Herzschlag. Die Naht, die den glatten, runden Stoff mit dem Pfotenabdruck am Fuß festhielt, war definitiv nicht fein säuberlich. Bei einem flüchtigen Blick mochte es zwar nicht auffallen, aber wenn man sie mit der am anderen Fuß verglich, blieb kein Spielraum für Interpretationen.
Da hatte jemand die Verzierung der Pfote abgetrennt und dann wieder angenäht. Und vermutlich etwas im Innenfutter des Fußes versteckt.
Bingo.
Suchend sah ich mich um. Gab es hier irgendwo etwas Nadelähnliches? Mein Blick fiel auf die große Sporttasche, in der Anne uns ein paar Klamotten mitgebracht hatte. Wie ferngesteuert zog ich sie mit dem Fuß an mich heran.
Zwar fehlten mir mehrere Jahrzehnte der Erinnerung, aber inzwischen kannte ich Anne gut genug, um zu wissen, dass sie immer und überall ein Erste-Hilfe-Set mit sich herumschleppte. Und jeder Person, insbesondere ihren Kindern, eins mitgab oder heimlich unterschob, wenn sich eine Gelegenheit dafür bot.
Garantiert befand sich in den Tiefen dieser Tasche ebenfalls eines. Irgendwo zwischen all den Kleidungsstücken, von denen Harry und ich noch zu faul gewesen waren, sie auszuräumen. Oder zu schlau. Immerhin gedachte keiner von uns, hier länger als unbedingt nötig zu verweilen, richtig?
Erneut lauschte ich auf die Geräusche aus dem Bad, doch nach wie vor war lediglich das Rauschen der Dusche zu hören. Harry schien sich vor der neuesten Action, die heute anstand, eine ausschweifende Wellnesszeit zu gönnen. Gut für mich.
Ich riss die Tasche auf. Pullover, T-Shirts, Hosen, Unterwäsche, Socken und Badartikel quollen mir entgegen, ein wenig später sogar ein Buch – Anne dachte wirklich an alles. Und dann, ganz unten in einer der Seitentaschen, sorgfältig in einem Handtuch eingewickelt, lag das herbeigesehnte Erste-Hilfe-Set.
Ein roter, rechteckiger Packen aus Stoff, sichtlich bis zum letzten Zentimeter mit Utensilien gefüllt. Ob Anne es absichtlich im Handtuch verborgen hatte? Gut möglich, immerhin war es Ken und seinen Leuten zuzutrauen, ihr Gepäck wenigstens grob auf Waffen oder Ähnliches zu überprüfen. Ein Verbandsset, in dem sich eine Schere und eventuell auch eine Pinzette befanden, dürfte in die Rubrik der zu konfiszierenden Objekte gehören.
Ich zögerte nur kurz, bevor ich den Reißverschluss des Sets aufzog. Aus Erfahrung wusste ich, dass man den Kram nie wieder in seiner ursprünglichen Anordnung dort hinein- und den Reißverschluss wieder zukriegen würde, doch nun blieb mir ohnehin nichts anderes übrig. Nicht, wenn ich Elton John ernsthaft ans Fell wollte.
Kurz entschlossen grub ich mich durch das Erste-Hilfe-Set. Unzählige Mullbinden kamen zum Vorschein, gefolgt von Pflastern, einer glänzenden Rettungsdecke und Gummihandschuhen, die beim bloßen Hinsehen schon zerrissen. Eine Pflasterrolle purzelte aus dem Beutel, schlüpfte zwischen meinen Fingern hindurch und rollte quer durch den Raum. Die würde ich später noch aufsammeln müssen, bevor Harry darüber stolperte, eventuell sogar wortwörtlich, so wie ich ihn kannte.
Mein nächster Griff galt der Pinzette in ihrer Plastikverpackung.
Sehr gut.
Notdürftig packte ich den Rest wieder zusammen. Eine Pinzette ließ sich notfalls schnell unters Kopfkissen schieben. Ein Chaos aus Mullbinden und Pflastern eher weniger.
Elton John starrte mich aus seinen Knopfaugen vorwurfsvoll an, als ich mich an seinem Fuß zu schaffen machte.
„Sorry, Kumpel." Ich musste nur ein einziges Mal mit der Pinzette stochern, dann riss die Naht auch schon. Das runde, tatzenbedruckte Stoffteil löste sich, machte Platz für das wattige Innenfutter, das sogleich herauszuquellen begann.
Vorsichtig pulte ich mit den Fingern noch weitere Fetzen heraus. Jeden Moment rechnete ich damit, irgendetwas zu ertasten doch mine Hoffnungen schwanden, je weiter ich mich dem Körper des Kuscheltiers näherte. Inzwischen befand sich die Füllung des Beins vollständig neben mir auf dem Bett, das Bein selbst hing schlaff herab und ich hatte noch keinen Erfolg zu verzeichnen.
Frustriert grub ich mich noch ein Stück weiter vor. Das konnte doch nicht wahr sein. Diese Naht war doch definitiv bearbeitet gewesen, oder? Oder war ich einfach nur dumm und hatte mich getäuscht?
Wie auf Kommando stießen meine Fingerspitzen an etwas Hartes, Kantiges. Ich erstarrte. Ungeschickt klemmte ich es zwischen Zeige- und Mittelfinger ein, zog es langsam aus dem Innenfutter hervor. Es fühlte sich ein wenig an wie ...
Eine Speicherkarte. Eine microSD, um genau zu sein.
Fassungslos starrte ich das Ding an, gönnte mir nicht die Zeit für einen kleinen Triumph. Der Inhalt dieser Speicherkarte war sicherlich unfassbar sehenswert, allerdings brauchte ich irgendein Gerät, um ihn zu öffnen. Ein Handy würde schon reichen, aber selbst das hatte ich nicht. Konnte ich es wagen, mich heimlich an einen Computer der Rebellen zu setzen?
Ich war so in meine Überlegungen vertieft, dass ich gar nicht bemerkte, dass die Dusche längst verstummt war.
Und als dann plötzlich die Badezimmertür aufschwang und einen frischgeduschten, in Jogginghose und T-Shirt gekleideten Harry offenbarte, erlitt ich fast einen Herzinfarkt.
Harry musste nur einen Blick auf mich und das Chaos um mich herum werfen, um in der Bewegung zu erstarren. Seine Haare waren nur dürftig getrocknet und hingen ihm in tropfenden Strähnen fast bis auf die Schultern hinab.
„Niall? Was ..." Mit angehobenen Augenbrauen nahm er den malträtierten Plüschbären ins Visier. „Ist das nicht Elton John? Und sind das seine Innereien?"
Schweiß brach mir aus allen Poren.
„Äh ... ja", brachte ich schließlich hervor. Ungeschickt legte ich den Bären weg, die microSD sicher in der Faust meiner linken Hand versteckt. „Er hatte einen ... Unfall."
Wohl eher einen Mordanschlag.
Kopfschüttelnd lief Harry an mir vorbei und ließ sich auf sein eigenes Bett fallen. Er nickte zur Sporttasche zu meinen Füßen. „Lass mir mal ein Paar Socken rüberwachsen."
„Klar." Ich bemühte mich darum, eines zu wählen, unter dem sich nichts Verdächtiges befand. „Voilà."
„Danke."
Schweigen trat ein. Betont beiläufig sammelte ich die Wattefetzen zusammen, stopfte sie zurück in Elton Johns Bein. Am liebsten würde ich seine Pfote wieder annähen, aber dieses Vorhaben musste wohl oder übel ein wenig warten.
Die winzige Speicherkarte lag unnatürlich schwer in meiner Hand.
„Wie hast du das denn geschafft?"
Ich zuckte zusammen. „Was?"
Harry seufzte. „Sag mal, hast du die Watte etwa auch schon in den Ohren? Ich habe gefragt, wie du es überhaupt geschafft hast, den Bären so dermaßen zu zerlegen. Dafür muss man sich doch fast Mühe geben."
„Oh." Mein Kopf drehte sich. „Sein Fuß ist am Reißverschluss hängengeblieben."
Die Lüge tat mir weh. Harry hatte es nicht verdient, belogen zu werden.
„Meine Güte, Blondie." Belustigt schüttelte er den Kopf. „Dein Name sollte irgendwann im Rekordbuch der unmöglichsten Errungenschaften auftauchen."
Ich zuckte die Achseln. Mir war absolut nicht nach Lachen zumute, doch ich versuchte mich an einem schiefen Grinsen. „Vielleicht."
Während ich Elton John mit einem Knoten im Fuß in die Sporttasche verfrachtete, spürte ich Harrys Blick auf mir ruhen.
„Niall, eine Frage."
Mir rutschte das Herz in die Hose.
Oh Gott. Er hatte mir meine Lüge an der Nasenspitze abgelesen. Ganz sicher.
„Wo warst du? Vergangene Nacht, meine ich."
Oh.
Langsam setzte ich mich wieder auf. Mein Magen rumorte.
„Vergangene Nacht?" Ein unglaubwürdiger, halbherziger Versuch, mich aus der Sache herauszuwinden. „Was meinst du?"
Plötzlich wirkte Harry alles andere als amüsiert. „Komm schon, Ni. Lüg mich nicht an. Ich weiß, dass du dich rausgeschlichen hast. Du warst nicht ganz so leise, wie du vielleicht dachtest. Und dein Kunststück mit der Flasche habe ich auch mitbekommen. Sehr eindrucksvoll."
Ich schwieg.
Natürlich könnte ich ihm jetzt die Theorie eines Mitternachtspaziergangs auf die Nase binden. Oder die, mir einen Snack gesucht zu haben, immerhin war der ständige Appetit irgendwelche blöden Riegel eines meiner Markenzeichen.
Doch ein einziger Blick in Harrys Augen reichte aus, um mich wissen zu lassen, dass es zwecklos wäre, ihm einen Bären auf den Nasen zu binden. Er kannte die Antwort auf seien eigene Frage längst.
„Du warst bei ihm", sprach er sie einen Moment später auch schon aus. „Zayn."
Mein Schweigen war Bestätigung genug.
„Niall, was zur Hölle?" Theatralisch warf er die Arme empor. „Tickst du noch ganz richtig? Du solltest diesem Kerl nicht vertrauen! Begreifst du denn gar nicht, dass er nur mit dir spielt, um seine eigene Haut zu retten? Der Typ hat einen Knacks! Denk doch mal nach: Ein Oblivious, der freiwillig an sich experimentieren lässt, um seine Fähigkeiten loszuwerden? Und sich dafür einsetzt, dass das Ergebnis dieser Experimente auch an anderen Oblivious angewendet wird? Wie psychotisch ist das bitte? Und du hast nichts Besseres zu tun, als zu riskieren, dir Ken zum Feind zu machen, indem du dich mitten in der Nacht in den Zellentrakt schleichst? Und wofür? Hattet ihr ein nettes Pläuschchen? Ein Kaffeekränzchen?"
Wut stieg in mir auf.
Ruckartig schob ich die Sporttasche zur Seite. „Harry, könntest du bitte mal die Luft anhalten? Du hast keinen Schimmer von Zayn, seinem Leben und seinen Gründen. Vielleicht solltest du dich erst informieren, bevor du über ihn urteilst."
Harry starrte mich an. „Sag mal, verteidigst du ihn etwa auch noch? Niall, der Scheißkerl wollte dir eine Spritze in den Hals schlagen!"
„Du kennst nicht einmal die Hälfte der Geschichte!"
„Ach, und du etwa schon?" Seine grünen Augen sprühten Funken. „Du kennst doch auch nur den Part, den dir Zayn, ein verdammter Abtrünniger, als die Wahrheit eintrichtert! Seit wann bist du denn so naiv? Ich verstehe, dass du den Rebellen nicht traust, das tue ich auch nicht, ebenso wenig meine Mum. Sie sind ein Haufen radikaler Aggros, die Öl ins Feuer gießen. Aber dich als Alternative auf Zayns OOA-verherrlichendes Lügenkonstrukt zu stürzen, das ist schlichtweg dumm. Zayn ist nicht auf deiner Seite und will dir auch nichts Gutes. Er will nur hier raus, zurück ins Labor zu Bernard Quinn und die Enzymforschung beenden. Er benutzt dich nur und du bemerkst es nicht!"
„Meine Güte!" Meine Stimme überschlug sich fast. „Was ist das nur für eine Besessenheit, die du mit Zayn hast? Du konntest ihn von Anfang an nicht ausstehen, noch bevor wir überhaupt wussten, dass er mit Quinn zusammenarbeitet! Du willst seine Antriebsgründe nicht einmal verstehen, oder es wenigstens versuchen, du willst ihn einfach nur hassen! Ich verstehe es nicht. Hast du ein persönliches Problem mit ihm oder so?"
Mehrere Sekunden lang standen wir uns gegenüber, starrten einander nur an. Dass wir uns beide im Laufe des Wortgefechts erhoben hatten, nahm ich jetzt erst wahr.
Ein zittriger Atemzug von Harry durchbrach die toxische Stille zwischen uns schließlich. Seine zu Fäusten geballten Hände an seinen Seiten bebten vor Anspannung.
„Schön." Auch seine Stimme zitterte. Sie war leise, doch gleichzeitig merkwürdig scharf. „Schön. Soll ich dir ein Geheimnis verraten? Gut. Du hast Recht. Vielleicht habe ich ein persönliches Problem mit ihm."
Ruckartig hob ich den Kopf. „Was? Harry, warum..."
Ich brach ab, als er mit schnellen Schritten auf mich zukam und direkt vor mir zu einem Halt kam. Seine Augen glänzten noch immer in wildem Zorn, doch da war auch noch irgendetwas anderes. Etwas, das mich verwirrte. Verletztheit?
Irritiert starrte ich ihn an, holte Luft, doch ehe ich zu einem Wort ansetzen konnte, griff er plötzlich nach meinen Händen.
„Niall, ich wollte es dir eigentlich schon viel früher sagen. Wirklich. Aber irgendwie hat die Situation nie gepasst und ich wollte dir nicht noch mehr zum Denken aufdrücken." Er rang um Worte. „Ich habe schon einmal erwähnt, dass sich etwas verändert hat. Vielleicht bist es du, vielleicht bin es ich selbst, ich weiß es nicht. Als Kinder, da warst du wie ein Bruder für mich. Aber jetzt ... jetzt ist alles so ... anders. Du bist einfach ... es ist..."
Er fluchte unterdrückt. „Verdammte Scheiße. Wieso ist das nur so schwer? Niall, du bist einer der wichtigsten Menschen für mich und ich glaube, nein, ich weiß es ... ich fühle mehr für dich als nur Freundschaft. Ich weiß nicht, wo das plötzlich herkommt, eigentlich war ich völlig von den Socken, meinen besten Freund, meinen Bruder wiederzubekommen. Und dann treffe ich dich zum ersten Mal seit über einem Jahrzehnt wieder und alles hat sich verändert! Dir zuzusehen, wie du mich weiterhin als deinen Kumpel bezeichnest und stattdessen Zayn große Augen machst, das wirft mich einfach aus der Bahn. Und ich habe Angst, dass du auf etwas hereinfällst und sie dich schnappen und ich dich zum zweiten Mal verliere, dann vielleicht für immer. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Fuck. Es tut mir leid, dich jetzt auch noch damit zu belasten, wo es viel wichtigere Dinge gibt, um die du dir Gedanken machen musst."
Abrupt brach er ab, atmete mehrere Male tief durch. Er schien alles gesagt zu haben, was er sagen wollte.
Und ich?
Ich stand vor ihm, ließ zu, dass er weiterhin meine Hände umfasst hielt, und starrte ihn nur an. Der Boden unter meinen Füßen wankte bedenklich.
Ich begriff es nicht.
Hatte Harry mir eben ... Gefühle gestanden? Aber ... aber wir waren doch seit jeher nur Freunde gewesen, richtig?
Was fühlte ich denn überhaupt?
Ich wusste, dass ich Harry mochte. Sehr sogar. Ich mochte es, mit ihm zusammen zu sein, mit ihm zu reden, ihm auch körperlich nahe zu sein. Er spendete mir Vertrauen.
Aber gab es da Gefühle für ihn in mir, die über Freundschaft oder Brüderlichkeit hinausgingen? Je mehr ich darüber nachdachte, desto größer wurde das Chaos in meinem Kopf.
Plötzlich waren meine Handflächen feucht vor Schweiß.
„Harry, ich ..." Hilflos erwiderte ich seinen Blick. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll."
Seine Schultern sackten herab, so hoffnungslos, dass es mir wie eine Klinge durchs Gemüt schnitt. Offensichtlich hatte er sich eine andere Reaktion von mir erhofft.
„Schon gut." Langsam lockerte er den Griff um meine Hände. „Ich habe es schon geahnt. Und ich wusste ja, dass du nur Augen für Zayn hast. Aber bitte lass dich von ihm nicht verarschen, Blondie. Ich könnte es nicht ertragen, wenn dir etwas zustößt. Vor allem dann nicht, wenn ich es womöglich verhindern hätte können."
Die Situation war schrecklich. Das Herz hämmerte wie wild in meinem Brustkorb, schien mich förmlich anzuschreien, Harry verdammt nochmal nicht zu verletzen. Aber ... aber ich konnte nicht anders. Nicht, wenn ich ihn nicht belügen wollte.
„Es tut mir leid." Die Worte kamen mir nur mühsam über die Lippen. Alles in mir fühlte sich so schrecklich taub an, jeder Atemzug war eine Herausforderung. „Es tut mir leid, Harry. Ich weiß nicht, was genau ich fühle. Ich weiß nur, dass ich dir auf keinen Fall wehtun möchte. Oder dich verlieren."
„Wirst du nicht", kam es wie aus der Pistole geschossen zurück. „Niemals. Ich lasse dich nie wieder aus den Augen, egal, in welchem Verhältnis wir stehen."
Das machte das Ganze nicht unbedingt besser.
Mein Herz brannte.
Gequält atmete ich tief ein. „Darf ich dich umarmen?"
Harrys Augen glänzten verdächtig. „Als ob du mich das jemals fragen müsstest."
Wir schlossen einander in die Arme, fester, als wir es jemals zuvor getan hatten.
So standen wir mehrere Minuten lang mitten im Raum, seine Nase in meinem Haar, meine in seinem Shirt vergraben, und ich überlegte voller Verzweiflung, ob es da nicht doch einen winzigen Funken in mir gab, der mehr für Harry empfand – bis es schließlich an der Tür klopfte.
Anne, die uns darauf hinwies, dass die Besprechung bald startete und sie davor noch unter sechs Augen mit uns reden wollte.
Ungeschickt lösten wir uns voneinander, vermieden es, einander anzusehen.
Kein Wort wechselten wir, als wir uns ansehnlichere Klamotten überwarfen, das Zimmer verließen und uns für Anne ein Grinsen ins Gesicht zauberten. Die Ärztin war glücklicherweise so in ihre Ausführungen vertieft, dass sie die Gezwungenheit nicht bemerkte.
Nach außen hin schien alles wie gewohnt zu sein, doch in meinem Inneren tobte ein Sturm.
Und die verstohlenen Seitenblicke, die Harry mir durchweg zuwarf, waren genug, um die Klinge in meinem Herz immer tiefer gleiten zu lassen.
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👀
Hätte ich den Herzschmerz ankündigen sollen? Diese Szene zu schreiben, das hat richtig wehgetan😅🙈 Harry ist so ein Schatz, und ausgerechnet ihm wird das Herz gebrochen. I am truly sorry.
Abgesehen davon noch ein schöneres Thema: Am 22.02.2023 erscheint mein ehemaliges "The Spy" unter dem neuen Titel "RE(VE)AL: Your Secrets" im Weltenbaumverlag💕😇 Es fühlt sich irgendwie seltsam an, ausgerechnet HIER Werbung dafür zu machen ... "Oblivious" ist seit TS die erste Story, die ich von der Komplexität her vergleichbar finde🤔👀
EGAL. Hier ist das Cover nochmal, auch wenn es probably schon ALLE gesehen haben:
ICH LIEBE ES.
Damit wünsch' ich noch einen schönen Abend und liebe Grüßeeeee!
Andi❤
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