29) Zugriff
Zayn.
Ich bemerkte nicht einmal, dass wir uns beide in Bewegung gesetzt hatten, bis wir uns mehr oder weniger auf halbem Wege trafen.
Mein Mund stand sperrangelweit offen. Beschämt verschloss ich ihn und versuchte, die Nervosität zu ignorieren, die knapp unter der Oberfläche meines Geistes brodelte und drohte, jeden Moment überzukochen.
„Zayn. Hey. Was ..." Ich räusperte mich, als meine Stimme in eine viel zu hohe Tonlage abrutschte. „W-was machst du denn hier?"
Mein Nachbar schien nicht minder erstaunt darüber zu sein, mich hier anzutreffen, seinem fassungslosen Gesicht nach zu urteilen.
„Hi. Ich ... ähm ... ich bin auf dem Weg ins Klinikum." Er wies auf den verbeulten Wagen, aus dem er eben ausgestiegen war. „Hatte einen kleinen Unfall."
„Oh." Der Sorge, die unvermittelt in mir aufwallte, obwohl ich eigentlich ganz andere Probleme hatte, hatte ich nichts entgegenzusetzen. „Bist du in Ordnung? Ich meine-..."
„Ja", unterbrach Zayn mich rasch. Ein angespanntes Lächeln umspielte seine Lippen. „Alles paletti. Ich möchte mich trotzdem kurz durchchecken lassen, nur für den Fall."
Ich nickte verstehend. „Okay. Klingt sinnvoll."
Und dann schlitterten wir geradewegs in eine zähe, unangenehme Gesprächspause, die mir sämtliche Haare im Nacken zu Berge stehen ließ.
Verlegen scharrte ich mit den Füßen, nahm aus den Augenwinkeln zur Kenntnis, wie fest er seine Finger ineinander verschränkte. Seine Anspannung irritierte mich.
Normalerweise war Zayn die Ruhe in Person, er brachte eine Gelassenheit mit sich, wie ich sie von niemand anderem kannte. Sogar an einem meiner tiefsten Punkte hatte er es geschafft, mich aus meinem Strudel zu ziehen.
Aber heute? Fehlanzeige.
„Was treibst du hier überhaupt?" Im Gegensatz zu seiner Körpersprache war seine Stimme so sanft wie eh denn je. „Mein letzter Stand war, dass du für einige Zeit weg bist, aber dass du damit das Krankenhaus meinst ..."
Er schweifte ab, eine unbestimmte Handbewegung vollführend, mit der er mich dazu einlud, seinen Satz zu vervollständigen.
Ich schwieg.
Das war leider eine Einladung der ich garantiert nicht nachkommen konnte. Und auch nicht sollte.
Irgendwo in meinem Hinterkopf keimte die Erkenntnis auf, dass die Hölle los sein würde, sollte Harry nun ausgerechnet jetzt zurückkehren und mich bei einer Unterhaltung mit Zayn erwischen.
Laut Harry war Zayn ja ein Agent der OOA, der gezielt auf mich angesetzt worden war, um mich zu kontrollieren.
Unwillkürlich fing ich Zayns braunäugigen, eindringlichen Blick auf – und das war die Sekunde, in der mir etwas bewusstwurde.
Etwas, das mir eigentlich vom ersten Moment an auffallen hätte müssen, spätestens aber, als ich Blickkontakt mit ihm aufgenommen und mit ihm gesprochen hatte.
Ich spürte nichts.
Nichts.
Die einzigen Gefühle, die ich von ihm auffing, waren die, die er über seine bloße Körperhaltung, durch seine Mimik und seinen Tonfall, durch sein gesprochenes Wort vermittelte.
Da waren keine Gedanken in Form von Bildern oder Stimmfetzen, keine Emotionen, die automatisch auf mich übergriffen und gegen die ich mich bewusst abschirmen musste.
Da war nichts.
Und es war schlichtweg nicht möglich, von einem Menschen nichts wahrzunehmen. Es sei denn, bei diesem Menschen handelte es sich ebenfalls um einen Oblivious, der wusste, wie er sich vor dem Radar anderer Telepathen schützen konnte.
Und wenn Zayn eines definitiv nicht war, dann ein Oblivious.
Was allerdings gleichzeitig implizierte, dass er sich anderweitig abschotten konnte. Und die einzigen Personen, die berüchtigt waren, das mithilfe eines Mittelchens hinzukriegen, waren ... nun ja.
Die Agenten der OOA.
Was zum ...
Leider war ich nicht gut darin, ein neutrales Gesicht zu bewahren.
Und Zayn offenbar nicht dumm.
Ich hatte meinen scharfen Atemzug der Erkenntnis noch kaum ganz eingesogen, dann hörte ich nur noch ein gedämpftes, hektisch gezischtes „Zugriff" – und dann schnellte er schon vorwärts.
Seine Hände bekamen den dünnen Stoff meines Shirts zu fassen, rissen mich unsanft herum, und binnen eines Wimpernschlags fand ich mich rücklings an die kalte, harte Betonwand des Parkhauses gepresst wieder, einer meiner Arme effektiv zwischen mir und der Wand, mein anderes Handgelenk in Zayns unnachgiebigem Griff.
Der Aufprall bugsierte sämtliche Atemluft aus meinen Lungen, ließ kurz Sterne vor meinen Augen tanzen. Zayn Brustkorb hob und senkte sich gegen meinen, so nahe rückte er mir auf die Pelle, so entschlossen schien er zu sein, mir keine Möglichkeit zur Flucht zu lassen.
Nein.
Eine merkwürdige Gefühlsmixtur schwoll in mir an. Meine Ohren dröhnten im Rhythmus meines eigenen Herzschlags, meine Kehle war schrecklich eng, und ich konnte nichts anderes tun, als Zayn aus weit aufgerissenen Augen anzustarren, fassungslos, geschockt, ängstlich – und verletzt.
Vor allem verletzt.
„Was?" Erstickt rang ich nach Luft. „Zayn, du-..."
Irgendetwas flackerte in seinen dunklen Augen auf, ließ seine Gesichtszüge für eine Sekunde entgleisen, doch es verschwand so schnell wieder, dass ich mir letztendlich nicht sicher war, ob ich es mir nicht nur eingebildet hatte.
Mein Atem ging stoßweise.
Verrat.
Zählte das als Verrat? Doch, tat es.
Ich hatte ihm vertraut.
Leichtsinnigerweise, wie ich nun entsetzt zugeben musste.
Harry hatte Recht gehabt. Er hatte versucht, mich vor Dummheiten zu bewahren, mich zu beschützen. Und ich hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als deshalb mit ihm zu streiten und ihm ungerechtfertigte Vorwürfe zu machen.
„Niall, es tut mir leid." Zayns Stimme bebte merklich, sein Tonfall klang müde und so ... ehrlich. Warum zum Henker klang er so ehrlich? „Ich weiß, du verstehst es jetzt noch nicht, aber es ist nur zu deinem Besten, vertrau mir."
Ich wollte tief durchatmen, doch die Panik schnürte mir die Kehle zu.
„Dir vertrauen?", platzte es dann aus mir hervor, heftiger als beabsichtigt. „Du hast mich die ganze Zeit nur verarscht, oder? Du hast mich kontrolliert!"
Neue Panik wallte in mir auf, als Zayn mit seiner freien Hand in die Innentasche seiner, schwarzen Lederjacke griff und einen schmalen, glänzenden Gegenstand zutage förderte.
Eine Spritze.
Hektisch wand ich mich in seinem Griff, versuchte, mich gegen die Wand zu stemmen und ihn somit von mir zu stoßen. Vergebens.
„Es tut mir leid, Niall", wiederholte er, wobei sich die Beteuerung erneut so verdammt ehrlich anhörte, dass es mir fast die Tränen in die Augen trieb. „Es geht nicht anders."
Sein Kopf.
Ich musste in seinen gottverdammten, verkorksten Kopf.
Doch ganz gleich, wie sehr ich mich konzentrierte, wie verbissen ich es versuchte, stieß ich immer wieder auf diese undurchdringliche, schwarze Wand des Nichts. Ich schaffte es nicht.
Die schillernde Nadel der Spritze kam auf mich zu und meine Verzweiflung stieg ins Unermessliche.
Ich wollte schreien, doch auch das ging nicht.
Mein Blick blieb an der Spitze haften und der letzte Teil meines Gehirns, der sich noch nicht vor Panik drehte, versuchte, sich an das Training zurückzuerinnern.
Entspann dich, Niall. Tildas gelassene Stimme in meinem Kopf. Und vertraue auf dich selbst.
Das Rauschen in meinen Ohren schwoll zu einem betäubenden Tosen an, plötzlich war da ein entsetzlicher Druck hinter meinen Schläfen, meine Augen brannten – und dann passierten zwei Dinge gleichzeitig.
Zayns Hand zuckte von mir zurück, die Spritze wurde seinen Fingern entrissen, flog wie ein tödliches Geschoss durch die Luft und prallte dann an die gegenüberliegende Wand, zufälligerweise genau an den schmalen Streifen zwischen Aufzug und Personaltür.
Und dann war da noch dieses weiße Zucken vor meinen Augen, der stechende Schmerz, der damit einherging, als hätten eben zahllose Blutgefäße in meinem Kopf das Zeitliche gesegnet.
Im nächsten Moment waren da Bilder, Stimmen, Emotionen, die mein Gemüt fluteten. Sie trafen mich unerwartet, ließen mich taumeln und zu Boden gehen – und da erst registrierte ich, dass Zayn von mir abgelassen und stolpernd Abstand von mir genommen hatte. Sein Gesichtsausdruck glich einer Maske des blanken Horrors.
„Malik!"
Meine Wange befand sich gegen die kalte Betonwand gepresst, mein Ellbogen schmerzte, wo erst der Stoff des Shirts und anschließend meine Haut unter dem rauen Asphalt nachgegeben hatten.
Benebelt gelang es mir, den Kopf zu heben, bis ich weiter hinten im Parkhaus mehrere Personen erspähte. Schnellen Schrittes kamen sie auf mich zu, und trotz meines verschwommenen Sichtfelds erkannte ich, dass sie Schusswaffen bei sich trugen.
OOA-Agenten.
Zayns Kollegen. Die Tatsache, dass sie mit solcher Verspätung eintrafen, bewies, dass die OOA absolut nicht damit gerechnet zu haben schien, mich ausgerechnet im Parkhaus abzugreifen.
Die Fetzen, die aus Zayns Kopf noch immer auf mich eindroschen, bestätigten diese Theorie.
Und es tat weh. Alles. Zum einen das schreckliche Gefühl des Verrats, andererseits die Art und Weise, wie Zayns Gedanken und Emotionen nun wie Scherben auf mich zugeflogen kamen. Unerbittlich und unaufhaltsam, ich selbst viel zu schwach, um irgendetwas abzuwehren.
Eigentlich durfte ich mich ja nicht beschweren, richtig? Ich wollte doch in seinen Kopf. Jetzt war ich in seinem Kopf. Auch wenn ich mir diesen Erfolg ein wenig anders vorgestellt hatte.
Zitternd presste ich mir die Handflächen auf die Ohren, versuchte, die Realität auszublenden, als könnte ich die drohende Gefahr damit einfach ausradieren.
Da war Zayns Stimme, undeutlich und scharf zugleich, wie er seinen Kollegen etwas zurief, vermutlich eine Warnung vor mir.
Ein lauter Knall peitschte über uns hinweg, ließ mich zusammenzucken, gefolgt von einem zweiten und einem dritten.
Irgendjemand hatte das Feuer eröffnet.
Keuchend kauerte ich mich noch mehr in mich zusammen, drückte mich an die Wand, als könnte ich mich so vor den tödlichen Kugeln schützen, die durch das Parkhaus jagten.
Undefinierbare Geräusche erklangen, aggressives Stimmengewirr und Schläge, und dann war da plötzlich eine Hand, die mich am Arm packte und unsanft auf die Beine zerrte.
Harrys panisches Gesicht tauchte vor mir auf. An seinem Kinn befand sich eine hässliche Schramme und er wankte leicht, doch er zögerte nicht damit, mich vorwärts zu zerren, auf den Kleinbus zu, unter dem ich mich vorhin noch verborgen hatte.
„Halt!" Eine fremde Stimme hallte herrisch über alle anderen Geräusche hinweg. „Hier entlang!"
Die zerschossenen Reifen unseres Kleinbusses gerieten in mein Sichtfeld und das Herz rutschte mir in die Hose. Mein Kopf hämmerte noch immer, meine Ohren schmerzten und als ich unwillkürlich eine Hand über mein Gesicht gleiten ließ, leuchteten mir rote, nasse Flecken entgegen.
Fassungslos starrte ich das Blut auf meiner Handfläche an.
Nasenbluten. Hatte ich wieder Nasenbluten?
Neue Hände griffen nach mir, Harry begann lauthals zu fluchen, bevor er schlagartig von meiner Seite verschwand. Eine Sekunde später befand ich mich im Inneren eines Autos, ohne wirklich zu begreifen, wie ich dorthin geraten war.
Das Zuschlagen einer Tür erklang, dann das Röhren eines aufheulenden Motors, quietschende Reifen. Unsanft krachte ich die Tür neben mir, dann in die andere Richtung gegen einen Körper, an dem ich mich reflexartig festzuklammern begann, noch bevor ich registrieren konnte, dass es sich um Harry handelte.
Harry reagierte sofort, erwiderte den Griff, und so lagen wir mehr oder weniger übereinander auf der Rückbank des Wagens, während der Fahrer diesen unter lautem Fluchen um eine Biegung lenkte und sich dabei ebenso laut mit seinem Beifahrer stritt.
Harrys Arme lagen warm und kräftig um meinen Körper, verstärkten ihren Griff, als Kugeln auf das Außenblech des Wagens einzutrommeln begannen.
Der Fahrer brüllte etwas Unverständliches, ließ das Auto in eine kritische Kurve schlittern, die uns unsanft ins Polster des Rücksitzes drückte, und gab dann ruckartig wieder Gas – und plötzlich war es hell um uns herum.
Offenbar hatten wir das Parkhaus nun endlich verlassen und waren nun dabei, auf die Straßen zu brausen.
Wir.
Wer waren wir? Harrys Nervosität nach zu urteilen, schien er es ebenfalls nicht zu wissen, also konnte es sich auf keinen Fall um Annes Leute handeln.
„Hey." Seine Stimme war nicht mehr als ein Wispern. „Bist du in Ordnung?"
Ich konnte nur zittrig nicken und meine Finger noch tiefer im festen Stoff seiner Arbeitskleidung vergraben. Das Pfeifen in meinen Ohren war nach wie vor unerträglich.
„Jungs.", meldete sich eine Frau vom Beifahrersitz, doch meine Energiereserven waren nicht voll genug, um die Augen zu öffnen und sie anzusehen. „Alle noch ganz?"
Das war hier die Frage.
Harrys schnippische Antwort ging im Pochen meines Kopfes unter, und obwohl ich mich wirklich bemühte, wach zu bleiben, konnte ich nicht verhindern, nach und nach in die Schwärze meines Erschöpfungsdeliriums abzudriften.
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I'm sorry, I guess👀
Guyyyys - COVER REVEAL! 🎉🎉🎉
Das ehemalige "Flatmates", dessen Veröffentlichung schon bald bevorsteht😁
Freue mich schon so arg, wenn es endgültig draußen ist und sich all die Arbeit gelohnt hat😇😇😇
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