20) Team
Das entsetzlich normale Abendessen verlief wider Erwarten ganz gut.
Demi war diejenige, die plötzlich mehrere Schnapsflaschen aus ihrer Handtasche zog, womit sich auch klärte, wo sie und Gemma sich den ganzen Tag über herumgetrieben hatten.
Der Alkohol ließ mein Selbstbewusstsein beachtlich ansteigen, sodass ich es irgendwann tatsächlich wagte, persönlichere Oblivious-Fragen zu stellen – natürlich erst, nachdem Harry mir versichert hatte, dass Demi ebenfalls dazugehörte.
Nachdem sich Demi wiederum bei ihm nach meinem Informationsstand erkundigt hatte. Nicht hörbar für alle anderen Anwesenden, nein, sondern direkt per Kopf.
Es war verstörend und faszinierend zugleich. Telepathie schien Demis große Stärke zu sein und sie machte auch keinen Hehl daraus, wie sehr sie für diese Gabe lebte. Ich selbst wäre zwar beinahe aus der Haut gefahren, als sie plötzlich in meinem Kopf nach dem Jägermeister verlangte, kam letztendlich aber zu dem Schluss, dass das Ganze schrecklich cool sein musste.
Unter welche Rubrik ich Liams Hauptfähigkeit einordnen würde, wusste ich nicht so recht. Trotzdem war ich zutiefst fasziniert, als Liam es mit bloßen Blicken schaffte, Louis schlafend unter den Tisch rutschen zu lassen. Ich starrte ihn ehrfürchtig an, ein Stück Pizza halb zu meinem Mund erhoben, während er selbst nur die Schultern zuckte.
„Dafür kann ich sonst nicht viel", meinte er. „Hier und da fange ich ein paar emotionale Schwingungen von anderen Leuten auf, aber das war's. Ich bin nur deshalb bei Einsätzen mit von der Partie, weil ich Gegner spontan wegpennen lassen kann. Sofern es welche ohne Mutation sind." Er zeigte auf Louis. „Bei ihm hat es jetzt auch nur deshalb geklappt, weil er mich gelassen hat."
„Nur." Harrys fassungsloses Brummen sprach Bände. „Wenn du wüsstest, wie sehr ich mich darum reißen würde, irgendetwas zu können. Ich bin der reinste Blindgänger."
Schlagartig zuckte er zusammen, als hätte ihn jemand getreten, doch dann bemerkte ich Gemmas wütendes Gesicht und kam zu dem Schluss, dass er wohl tatsächlich getreten worden war.
„Halt deine überdimensionale Klappe, Harold." Strafend hob sie den Zeigefinger. „Ich bin immer noch davon überzeugt, dass du einfach ein Spätzünder bist. Deine Stärke kommt noch, da bin ich mir sicher."
Harry war während ihrer kleinen Rede in seinem Stuhl immer kleiner geworden, bis er mich an ein miesepetriges Haustier erinnerte. Ein Haustier mit Schnapsglas.
„Klar. So wird es sein", fuhr er seiner älteren Schwester über den Mund, als diese sich noch weitere Argumente aus dem Ärmel schütteln wollte. „Du und Mum, ihr habt ja gut reden, ihr seid mit eurer Empathie-Sache überglücklich und noch dazu medizinische Vollprofis."
Gemma, offenbar ebenfalls Empathin, presste nur noch die Lippen aufeinander.
Fragend wandte ich mich an Louis. „Du?"
Mein bester Freund, der erst vor einer halben Minute unter Liams Einfluss wieder aufgewacht war, hielt inne. Sein Gesichtsausdruck wankte irgendwo zwischen Schuldbewusstsein und Argwohn.
„Klassische Telepathie." Es klang wie ein Geständnis. „Gedanken lesen und so. Oder eben sehen. Jeder Mensch denkt anders."
Erst begriff ich nicht so ganz, warum er mich wie ein treuherziges Huhn anstarrte, bis mir eine Sache aufging.
„Moment mal. Du hast die ganzen letzten Jahre über in meinem Kopf wühlen können, ohne dass ich es bemerkt habe?"
Abwehrend riss Louis die Hände empor. „Nicht grundsätzlich! Am Anfang recht viel, das gebe ich zu, immerhin musste ich einschätzen, was und wie viel du weißt und was bei dir so abgeht. Aber dann habe ich mich zurückgehalten, wirklich. Nur, wenn ich das Gefühl hatte, dass etwas schiefläuft, habe ich mich eingeklinkt." Er zögerte. „In den letzten Wochen kam das wieder ziemlich oft vor. Vor allem in den vergangenen Tagen. Wenn du wüsstest, wie sehr mich der Blitz getroffen hat, als du plötzlich in meinem Kopf warst."
„Tja, Tommo." Grimmig grinste ich ihn an, auch wenn diese Situation auch rückblickend alles andere als amüsant gewesen war. „Das hattest du dann wohl verdient."
„Undankbares Stück Scheiße", gab Louis unverblümt zurück, während er sich einen riesigen Brocken Pizza auf einmal in den Mund schob. Die Hälfte des Belags ging dabei flöten, aber das störte ihn nicht. „Mein Auftrag war es, dich zu beschützen, da musste ich ein wenig in deinem Kopf stöbern, du Trottel."
„Hey." Harry schlug nach Louis' Fingern, als dieser nach dem Jägermeister greifen wollte, wenn auch ein wenig unkoordiniert – der liebe Harold hatte ganz eindeutig schon mehr getrunken als ich. „Lass ihn."
Louis' Augen wurden schmal. „Chill deine Basis, Harold, Niall ist einen solchen Umgang von mir gewöhnt."
Harrys Kiefer bebte. „Trotzdem."
Abrupt schnappte Louis sich den Alkohol, entgegnete jedoch nichts mehr.
Vorsichtig sah ich zwischen den beiden hin und her. Zwischen ihnen herrschte merkwürdig dicke Luft, das war mir gleich zu Beginn aufgefallen. Harry hatte ja bereits angedeutet, dass zwischen ihm und Louis etwas vorgefallen war, das ihr Verhältnis auf die Zerreißprobe stellte. Beim ihm wollte ich nicht weiter nachbohren, aber vielleicht würde Louis diesbezüglich noch ein wenig Offenheit walten lassen.
Irgendwann später.
„Aber ich dachte doch, ihr sucht nach Oblivious und klärt diese direkt auf?", hakte ich weiter nach, bevor die beiden womöglich zoffen konnten. „Warum musstest du mich dann so lange beobachten, ohne wirklich einzuschreiten?"
Stille senkte sich über den Tisch.
Okay.
Diese Frage schien ein Stimmungskiller gewesen zu sein.
„Ähm." Peinlich berührt griff ich nach meiner Pizza, als sich auch nach einigen weiteren Sekunden niemand äußerte. „Sorry? Liege ich vollkommen falsch oder ..."
„Nooope." Harry ploppte das P so übertrieben, dass Louis ebenso übertrieben in Deckung ging, als wäre er angespuckt worden. Eine Sekunde später befand sich Harrys langer Arm um meinen Nacken – und dann hatte er mir auch schon einen schlabbrigen Kuss an die Schläfe gedrückt, begleitet von einem unverkennbaren Alkoholatem. Der arme Kerl hatte definitiv einen Schnaps zu viel gehabt. „Du bist hier goldrichtig, Blondie. Wenn du nur wüsstest, wie verdammt goldrichtig du hier bist."
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie Gemma und Demi einen besorgten Blick tauschten.
„Ignorier ihn." Liam, der sich mir gegenüber bisher mehr im Hintergrund gehalten und mich vermutlich aus sicherer Entfernung abgecheckt hatte, deutete auf Harry, der noch immer wie eine Klette an mir hing und mir seine verworrenen Haare unter die Nase hielt. „Und nein, du liegst nicht vollkommen falsch. Normalerweise holen wir auch jeden sofort ins Boot. Bei dir hatten wir aber von Anfang an die Vermutung, dass ..." Er dachte kurz nach. „Dass du ein Oblivious der besonders starken Sorte sein könntest."
Ich runzelte die Stirn.
Da schwang ein Unterton in Liams tiefer Stimme mit, der den Verdacht in mir aufkeimen ließ, dass er bei seiner Erklärung ein paar zentrale Details ausgelassen hatte.
„Und ein paar Vollpsychos dachten außerdem, dass du nur ein Lockvogel der OOA bist", fügte Louis hinzu, schamlos mit offenem Mund kauend. „Obwohl ich mehrfacht versichert habe, dass das garantiert nicht der Fall ist. Dafür warst du zu verzweifelt. Und nimm es mir nicht übel, Niall, aber du bist so harmlos wie ein Kopfsalat."
„Hey!" Empört schrak ich hoch und brachte Harry somit dazu, das Gesicht aus meiner Schulter zu schälen und sich schwankend aufzurichten. „Bitte was?"
Harry gluckste. „Warte nur, wie harmlos er ist, wenn er ein paar Trainingseinheiten hinter sich hat, Louis. Wir sind alle sehr sicher, dass seine Fähigkeiten so krass sein müssten wie die von M-..."
Alles auf dem Tisch wackelte und klirrte, als Gemma sich ruckartig erhob. „Ich gehe schlafen."
Demi wirkte verstört. „Und ich dann wohl nach Hause."
Okay. Der Abend schien beendet zu sein.
„Sorry, Leute." Gemmas vernichtender Blick in Harrys Richtung sprach Bände. „Harold muss seinen Rausch ausschlafen."
„Ich hab' keinen Rausch!", widersprach ihr Bruder verärgert, musste sich beim Aufstehen jedoch an meinem Arm festklammern. Irgendwie lachhaft in Anbetracht der Tatsache, dass er mich einen guten, halben Kopf überragte. „Ich bin nur gut drauf."
„Ja." Unbeeindruckt begann Gemma, den Tisch abzuräumen. „Klar."
Irgendwie hatten plötzlich alle eine Beschäftigung, wohingegen ich nichts ausrichten konnte, da ich keinen Plan hatte, wo sich das ganze Geschirr hingehörte. Doch dann sah ich, wie Harry gedankenverloren nach der erschreckend zerbrechlichen Deko auf dem Fensterbrett griff, und beschloss, dass es wohl das Beste wäre, ihn ins Bett zu verfrachten.
„Harry, findest du in dein Zimmer?"
Harry schob die Unterlippe vor. „Natürlich! Was denkst du denn?"
„Nicht viel." Ungeschickt schob ich ihn am Tisch vorbei in den Flur, wobei ich ihn daran hindern musste, Demis Tasche mit dem Schnaps mitgehen zu lassen. „Finger weg."
Sein Schnauben war weltrekordreif. „Wieso musst du immer so vernünftig sein?"
Ich konnte mir ein Lachen nicht verkneifen. „Immer? Eine gewagte Aussage, wenn man bedenkt, dass du mich erst seit gestern kennst."
Daraufhin verfiel Harry in Schweigen.
Ob es daran lag, dass er wirklich nicht antworten wollte, oder vielleicht doch eher an der Tatsache, dass all seine Konzentration für das Erklimmen der Treppe draufging, konnte ich nicht definieren.
Ein dunkler Flur mit Teppichboden tauchte vor uns auf, und als Harry sich wie ein Ninja auf den Lichtschalter stürzte, lachte mir von den Wänden freundliches Zitronengelb entgegen.
Wahllos wies ich auf eine der vielen Türen. „Die hier?"
Harry starrte mich an. Seine Augen glänzten in irgendeiner Empfindung, die ich in meinem eigenen leicht alkoholisierten Zustand nicht so recht zu benennen vermochte.
„Richtig." Er räusperte gegen seine belegte Stimme an. „Woher wusstest du das?"
Ich zuckte die Achseln. „Intuition? Nein, Quatsch. Ich hab einfach nur geraten."
„Sicher." Harry fiel buchstäblich durch die Tür, und diesmal war es an mir, den Lichtschalter zu finden.
Eine Deckenlampe flammte auf, tauchte den Raum in warmes, goldorangenes Licht. Verstohlen sah ich mich um. Harry schien sich für eine recht persönliche Einrichtung seines Schlafzimmers entschieden zu haben, wenn man den unzähligen Fotos Glauben schenkte.
Neben einem überfüllten Schreibtisch und einem Bett mit buntem Überzug stand außerdem noch ein Regal an der Wand, in dem sich endlos Bücher stapelten, gleich daneben hing eine wunderschöne, schwarze Gitarre mit Weltallaufdruck.
„Hey, spielst du auch?" Ich wies auf das Instrument, während Harry zum Fenster stolperte, um die Rollläden herunterzulassen. „Gitarre, meine ich."
Harry beäugte erst mich, dann die Gitarre, dann wieder mich.
„Ja." Er zögerte. „Ich ... hatte damals ab der zweiten Klasse Unterricht. Mit einem Kumpel."
„Cool." Gedankenverloren ließ ich den Daumen über die Saiten gleiten. „Ich auch. Auch wenn ich nicht mehr so wirklich weiß, wann ich angefangen habe. Das wissen meine Eltern vermutlich besser als ich."
Harry wirkte plötzlich wie zerschlagen.
„Machen sich deine ... deine Eltern eigentlich keine Sorgen, wenn du dich so lange nicht meldest?" Seine Stimme klang kleinlaut. „Ich meine, du hast noch kein einziges Mal telefoniert oder ..."
Er verstummte, als ich abwinkte.
„Es gibt niemanden, den ich informieren müsste." Kurz trat wieder der Gedanke an Zayn Malik auf den Plan, doch auch diesmal verschob ich ihn. „Daheim melde ich mich zwar schon immer wieder, aber sehr unregelmäßig. Dort macht sich keiner Sorgen, wenn ich mal eine Woche lang nichts von mir hören lasse. Und ansonsten ... ansonsten war Louis mein einziger, engerer Bekannter an der Uni. Und der ist ohnehin hier, also ... ja." Ich hielt inne. „Das klingt alles ziemlich traurig, was?"
Harrys Blick wirkte merkwürdig schummrig, seine Gefühle, die sachte von ihm ausgingen, waren von Zerrissenheit geprägt. Es musste ihn unfassbar viel Energie kosten, im betrunkenen Zustand seinen Schutzwall aufrechtzuerhalten.
„Niall?"
„Hm?"
„Weißt du, was wir vergessen haben?"
Ich löste meinen Fokus von der Gitarre. „Was?"
„Wir haben nichts für dich besorgt. Klamotten, Badartikel und dieser ganze Bullshit." Wie ein Komiker schlug er sich die flache Hand an die Stirn. „Das wäre mein Job gewesen, daran zu denken. Tut mir leid."
„Oh." Jetzt, wo ich so darüber nachdachte, hätte es tatsächlich Sinn ergeben, mein Zimmer im Klinikum drüben einzurichten – womit auch immer, immerhin trug ich nichts bei mir. Ich hatte ja noch nicht einmal ein funktionierendes Handy. „Das ist ... blöd."
Eine Welle der Aufregung hätte mich im nächsten Moment beinahe von den Füßen gerissen.
„Du kannst heute Nacht hierbleiben!" Harrys grüne Augen leuchteten. „Mein Bett ist groß genug und ich kann dir Klamotten leihen!" Er verstummte, um mich prüfend zu mustern. „Sofern dir das nicht zu schwul ist, versteht sich."
Grinsend trat ich näher, als er im Kleiderschrank zu wühlen begann, ohne meine Reaktion abzuwarten. „Ich bin schwul, Harry. Ich glaube nicht, dass mir etwas zu schwul sein kann."
Als Harry sich umwandte, wirkte er lediglich milde überrascht. „Alles klar." Er ließ einen Packen Kleidung auf mich zufliegen, den ich gerade noch abfangen konnte, bevor er mich ins Gesicht traf. „Jogginghose und so."
Und als wir uns wenige Minuten später in sein beachtlich breites Bett begaben und uns noch über dies und jenes unterhielten, fühlte es sich richtig an.
Fast so, als hätten wir das schon unzählige Male getan.
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I promise, in den nächsten Kapiteln passiert wieder ein wenig mehr. Rückblickend habe ich dieses ganze Narry-Bromance-Drama wohl ein wenig zu sehr ausgefeilt😅 Sorry dafür. Ich liebe Drama viel zu sehr.
Lasst mir gern Feedback da😊
Schönes Wochenende und liebe Grüße!
Andi❤
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