17) Informationsflut - 2
Achtung, Doppelupdate :)
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„Tut mir leid, dass du dir das anhören musstest." Anne lächelte mich an. „Beizeiten sind Geoff und ich nicht das beste Team, aber wenn es darauf ankommt, ziehen wir immer an einem Strang."
Ich antwortete nicht. Die Situation zwischen der Leitung und ihrer Stellvertretung schien mir etwas zu sein, in das ich mich besser nicht einmischte.
„Zurück zur OOA." Automatisch ließ sie die Finger durch Minervas schwarzes Fell gleiten, als die Katze sich aus dem Papierkorb bequemte und um Annes Füße zu streifen begann. Aus klugen, grünen Augen musterte mich das Tier interessiert, als wüsste es noch nicht so recht, was es von mir halten sollte.
Was definitiv auf Gegenseitigkeit beruhte. Vielleicht hatte die Katze auch eine Mutation?
Meine Güte.
„Die Oblivious Observation Agency, wie der Name schon sagt, existiert, um uns zu überwachen und zu kontrollieren. Sie koordinieren alles, was mit uns zu tun hat."
Das klang mir alles viel zu kompliziert.
„Die Leute von gestern waren also von der OOA?", fiel ich ihr ins Wort, mehr oder weniger unbeabsichtigt, aber ich konnte meinen Wissensdurst nicht im Zaum halten. „Eine offiziell von der Regierung gesteuerte Agentur versucht, Menschen zu töten? Im Ernst?"
Hektisch schüttelte Anne den Kopf. „Nein, sie töten nicht. Jedenfalls nicht mehr. Das war damals, als es noch kein Medikament gab und die führenden Köpfe davon überzeugt waren, dass Mutanten ihre Vorgänger auslöschen und die Macht an sich reißen möchten. Man warf ihnen vor, an konkreten Plänen zu schmieden. Und, nun ja." Sie verzog das Gesicht. „Maura Gallagher hat mit ihrem aggressiven Rebellionsstil nicht unbedingt dazu beigetragen, diesen Verdacht auszumerzen."
Ich verstand nicht ganz, warum sowohl Anne als auch Geoff ein solches Interesse daran hatten, mir ständig den Namen dieser Maura Gallagher unter die Nase zu reiben. Es war ja nicht so, als würde diese Person irgendwelche Alarmglocken in meinem Kopf schellen lassen.
„Nach allem, was wir über dich wissen, scheinst du ebenfalls ein sehr starker Oblivious zu sein." Sie hob eine schnurrende Minerva auf ihren Schoß. „Du kannst deine Gedanken und Emotionen verbergen, ohne jemals dafür trainiert zu haben, während du selbst bei anderen Menschen beides wahrnehmen und mit ein wenig Übung vermutlich auch beeinflussen kannst."
Ich blieb stumm, wartete darauf, dass Anne fortfuhr. Blickkontakt mit Minerva vermied ich tunlichst.
„Und Gemma hat erzählt, dass ..." Die Ärztin befeuchtete ihre Lippen. „Dass du das Messer abwehren konntest. Mit deiner bloßen Willenskraft."
Bei der Erinnerung daran, wie das Messer der Hand meines Gegners entrissen und fortgeschleudert worden war, ohne jegliche Berührung, musste ich unwillkürlich den Atem anhalten. Es ängstigte mich immer noch.
„Niall, für gewöhnlich findet man beim durchschnittlichen Oblivious nur eine dieser Fähigkeiten in so starker Ausprägung vor. Du scheinst eine Vielzahl davon haben. Vielleicht ist das der Grund, warum man sich am Ende dazu entschlossen hat, dich ..." Kurze Pause. „Nun ja, zu drastischeren Mitteln zu greifen."
Sie atmete tief durch offenbar entsetzt darüber, welche Worte um ein Haar ihren Mund verlassen hätten. Doch ich wusste auch so, worauf sie hinauswollte.
„Mich umzubringen?", führte ich ihren ursprünglichen Satz ungeschönt zu Ende. „Aber das ergibt doch keinen Sinn? Ich dachte, sie wollen ihre Forschung und ihre Medikamente vorantreiben. Was nutzt ihnen ein toter Oblivious?"
„Diese Leute gestern stammten nicht von der OOA." Annes Finger trommelten auf dem Schreibtisch. „Jedenfalls nicht unter offizieller Befehlsführung. Ich gehe davon aus, dass es sich um eine der radikalisierten Gruppierungen gehandelt hat. Diejenigen, die noch immer die alten Ziele und Denkweisen von damals verfolgen."
Das wurde ja immer besser.
Frustriert lehnte ich mich zurück. „Ich verstehe überhaupt nichts mehr! Vorhin sagtet ihr noch, dass es ein Fehler war, Quinn aufzusuchen, weil der dafür gesorgt hat, dass Leute auf mich angesetzt werden. Also müssen die Leute von gestern doch hochoffiziell von der OOA gewesen sein."
Anne musterte mich ernst. „Die Grenzen zwischen offizieller OOA und radikalisierten Teilen verschwimmen stark. Die meisten Aktivisten in radikalen Gruppierungen entstammen der OOA. Ehemalige oder sind noch immer aktive Mitglieder, die sich nicht für ein gewaltloses Vorgehen interessieren. Ganz offensichtlich ist Bernard Quinn eines dieser Mitglieder."
Meine Verwirrung stieg sekündlich, und ich musste die Ellbogen auf dem Tisch absetzen und mir die Handballen auf die Augen pressen, um einen Überblick zu behalten. „Die OOA und diese radikalen Gruppen haben rein offiziell überhaupt nichts miteinander zu tun?"
Anne nickte knapp.
„Und trotzdem steht im Prinzip fest, dass die Mitglieder dieser Radikalen der OOA entstammen müssen, weil es sonst niemanden gibt, der von der Existenz der Oblivious und dem ganzen Drumherum weiß?"
„Richtig."
„Und trotzdem geht die Leitung der OOA nicht dagegen vor?"
„Richtig."
„Das ist abgefuckt."
Seufzend bückte Anne sich erneut nach ihrer Katze. „Hier ist ziemlich viel abgefuckt, Niall. Wenn nicht sogar alles." Sie vollführte eine vage Handbewegung. „Das St. Hedwig Klinikum bietet jenen Unterschlupf, die gejagt werden. Die keinen Ort mehr haben, an dem sie sicher sind, weil sie zu viel wissen – nicht nur Oblivious, sondern auch Menschen ohne die Mutation. Du wärst überrascht, wenn du wüsstest, wie viele von Letzteren uns Unterstützung bieten. Ohne sie wäre es uns überhaupt nicht möglich, dieses Klinikum unentdeckt zu halten. Schwangere, wortwörtlich unwissende Oblivious werden an uns vermittelt, um zu verhindern, dass das Neugeborene vom Tag der Geburt an einen Stempel aufgedrückt bekommt. Wir leisten Aufklärungsarbeit, bieten Möglichkeiten an, Fähigkeiten zu trainieren und zu kontrollieren."
Eifrig fuhr Anne fort, so begeistert und voller Elan, als zitierte sie direkt aus einem Werbeflyer, doch ich konnte nichts anderes tun, als ihr gegenüberzusitzen und sie ausdruckslos anzustarren.
Wenn das St. Hedwig so viel dafür tat, um Oblivious aus den kontrollierenden Fängen des Systems und der OOA zu befreien, was blieb diesen Menschen von dieser Freiheit? Sie lernten, mit ihren Fähigkeiten umzugehen, ja.
Aber letztendlich lernten sie dann doch auch nur, sich zu verstecken, oder? Solange die Thematik dieser Mutation nicht öffentlich bekannt wurde, sondern sogar als Bedrohung galt, die versteckt und am besten ausgemerzt werden musste, gab es für Menschen wie uns doch keine Hoffnung darauf, jemals ein freies Leben zu führen.
„Ist das nicht alles aussichtslos?" Die Worte verließen meinen Mund, ehe ich sie überdenken konnte. „Solange sich das System an sich nicht ändert, wird sich die Situation für Menschen mit der Mutation auch nicht ändern, oder? Sie – wir – werden immer eine Abartigkeit sein, die die Weltordnung bedroht. Was nützt es, Oblivous aus ihrer Unwissenheit zu befreien, wenn sie mit dieser Freiheit am Ende gar nichts anfangen können?"
Anne verstummte abrupt.
Sie wirkte überrumpelt, ihre Lippen hielt sie zu einer blutleeren Linie aufeinandergepresst. Ganz offensichtlich hatte sie nicht mit einem solchen Statement gerechnet.
Verübeln konnte ich es ihr jedenfalls nicht. Manchmal war mein Gehirn gut darin, sich ohne meine Einwilligung zu verselbstständigen. Völlig abstrus, weil diese Einwilligung ebenfalls von meinem Gehirn kommen müsste. Sehr irritierend.
„Sag mir eines, Niall Horan." Anne lehnte sich in ihrem Sessel zurück, noch immer mit der schwarzen Katze auf dem Arm. „Wie hat es sich angefühlt, ein Freak zu sein? Wie war es, einen zermürbenden Kampf im eigenen Kopf zu haben und nicht zu wissen, wo er herrührt? Wie war es, zwar mit einer Diagnose zu leben, aber trotzdem zu ahnen, dass etwas nicht richtig ist? Zu ahnen, wegen dieser Einschränkungen niemals dazu in der Lage zu sein, ein Leben mit allen Möglichkeiten zu leben?"
Ich schwieg.
Anne fasste dieses Schweigen als Ermunterung auf, fortzufahren. „Denn das ist, was diese Menschen von uns erhalten, Niall. Möglichkeiten. Natürlich können wir nicht die Freiheit liefern, sich offen und ganz ohne Versteckspiel zu zeigen. Aber unter anderem mithilfe des Trainings vermitteln wir die Fähigkeit, sich anzupassen und dadurch alle Chancen des Lebens nutzen. Ohne die heftigen Nebenwirkungen Medikaments, das nichts anderes tut, als unsere wahre Natur zu bekämpfen und uns dadurch psychisch und physisch labil werden lässt. Du selbst hast erlebt, was dieser Wirkstoff mit dir gemacht hat." Erwartungsvoll beugte sie sich vor. „Spürst du immer noch dieses beklemmende Gefühl in deinem Kopf, das das O-Nesciol verursacht? Ist dir schwindelig? Übel?"
Mein erneutes Schweigen sprach Bände – denn sie hatte Recht.
Seit ich das O-Nesciol wegließ, war da kein Chaos mehr in meinem Kopf. Keine sich überschlagenden, wirren Eindrücke, kein pochender Schmerz hinter meinen Schläfen, kein Bedürfnis, mich zu einer Kugel zusammenzurollen und die Hände auf die Ohren zu pressen.
Es ging mir nicht nur besser, es ging mir dreimal so gut wie zuvor.
Entgegen meiner Erwartung triumphierte Anne jedoch nicht über mein Einlenken. Stattdessen schenkte sie mir ein weiteres Mal ihr warmes, sanftmütiges Lächeln. „Genau das meine ich. Und genau das möchte ich für alle Oblivious, die so leben müssen. Mir ist bewusst, dass es trotzdem keine ganzheitliche Freiheit ist, aber es ist besser als nichts."
Nun zwang ich mich zu einem Nicken. Meine Kehle war unfassbar eng.
„Und ... was ist jetzt mit mir?" Ich biss mir auf die Unterlippe. „Wo soll ich hin? Was mache ich jetzt? Mein Studium kann ich mir wohl abschminken."
Anne zögerte. Bekümmerung leuchtete mir aus ihren grünen Augen entgegen. „Vorerst, ja. In solchen Fällen vermitteln wir in der Regel eine neue Identität."
„Eine neue Identität?" Davon hatte ich vorhin schon gehört, ohne jedoch zu begreifen, dass mir selbst Ähnliches blühen könnte. „Wie ... ein anderer Name? Ein komplett neuer Lebenslauf? Alles gefälscht? Nicht mehr ich?"
Anne quittierte dies mit ruhigem Nicken. „Wenn du ein normales Leben haben möchtest, bleibt dir nichts anderes übrig, als dich mit neuen Papieren auszustatten."
Plötzlich war mir schwindelig. „Ich schätze, es ist keine Option, wenigstens meinen richtigen Vornamen zu behalten."
Der Blick, den die Ärztin mir daraufhin zuwarf, war bestenfalls als merkwürdig zu bezeichnen. Unmöglich, ihn zu definieren.
Viel einfacher wäre es gewesen, meine neu entdeckten Fühler auszustrecken und zu versuchen, ihre Gemütslage direkt nachzuspüren, aber das war natürlich keine Option. Einerseits, weil man Leuten wohl besser grundsätzlich nicht im Kopf herumschnupperte, und andererseits, weil Anne sicherlich Profi darin war, sich nicht lesen zu lassen.
Dann ging mir auf, dass sie mich noch immer beäugte.
„Was?" murmelte ich schließlich. „Hab was im Gesicht?"
„Nein. Hast du nicht." Sie lächelte mich an. „Du erinnerst mich nur an jemanden."
„Ähm." Etwas ungeschickt hob ich die Schultern. „Okay."
Wie sollte ich auf eine solche Aussage auch reagieren?
Richtig, am besten gar nicht.
Anne schüttelte den Kopf, um sich aus ihren Erinnerungen zu reißen, an denen sie mich ganz offensichtlich nicht teilhaben lassen wollte.
„Nun gut." Sie klatschte in die Hände, ehe sie sich mit neuer Energie erhob. Minerva verdünnisierte sich wieder in den Papierkorb. „Du weißt das Wichtigste. Weiteres wirst du nach und nach erfahren." Sie warf einen Blick auf die Uhr. „Harry sollte inzwischen mit seinem Training fertig sein. Er wollte dir unbedingt noch eine Führung durchs Haus geben, musst du wissen. Und dich zu einem Abendessen überreden."
Ich schaffte es nicht ganz, mein Erstaunen zu verbergen. „Das freut mich. Auch wenn ich nicht so ganz verstehen kann, warum er so darauf besteht, sich mit mir abzugeben."
„Ich bin mir sehr sicher, ihr zwei werdet wundervoll miteinander auskommen."
Ihr wissender Unterton ließ mich die Stirn runzeln, doch bevor ich erneut nachhaken konnte, hatte sie sich schon auf den Weg zur Tür gemacht, um mich hinauszulassen.
„Harry wartet sicherlich schon." Sie winkte mir zu. „Man sieht sich, Niall!"
Ich hatte noch so viele Fragen. Allerdings sah ich dann am Ende des Gangs schon einen breit grinsenden Harry auf mich zusteuern und ich beschloss, mich besser auf die anstehende Hausführung zu konzentrieren.
Es konnte nicht schaden, mich hier ein wenig auszukennen.
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Informationsflut: Ende.
Gibt es Gedanken zu irgendetwas?😊 Wenn ja, nur her damit.
Dankeschön fürs Lesen, Voten und Kommentieren, und viele Grüße!😁
Andi❤
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