𝐩𝐫𝐨𝐥𝐨𝐠𝐮𝐞




Die warme Herbstsonne schien damals so trügerisch durch die rötlichen Baumwipfel und tauchte den alten Campus in ein goldenes Licht, dass Camille sich niemals hätte vorstellen können, etwas Unheilvolles könnte die sandsteinfarbenen Gebäude und die grünen Innenhöfe die sie umschlossen, je ereilen. Dafür wirkten die Hallen der britischen Eliteuniversität viel zu unerschütterlich, die Landschaften und überbrückten Kanäle die sie umschlossen viel zu idyllisch.

Stattdessen reckte sie das Gesicht verträumt den letzten warmen Sonnenstrahlen entgegen, während ihre Füße sie von alleine den Weg gen Bibliothek zu tragen schienen. So oft war sie in den letzten Wochen den steinernen Weg durch die Gärten der viktorianischen Gebäude entlang gegangen, so oft hatte sie die ungestörten Minuten der Pause zwischen den Anstrengungen des Medizinstudiums in vollen Zügen genossen.

In der alten Bibliothek war von den goldenen Strahlen kaum noch etwas zu erahnen und nur die sporadischen bodenlangen Fenster des historischen Gebäudes ließen einen Blick auf den grünen Innenhof zu, in dessen Mitte ein alter runder Springbrunnen seinen Platz fand. Das dunkle Holz der Vertäfelungen und schier endlosen Reihen an Bücherregalen schien das Licht zu verschlucken und hüllte die Räume in eine orphische Dämmerung.

Es waren kaum Studenten in der Bibliothek anzutreffen und so war die Anmeldung unbesetzt, als Camille ihren Namen in das schwere, ledergebundene Buch auf dem Tresen eintrug. Außer ihrem standen dort bloß drei weitere Namen auf der aufgeschlagenen Seite: Edward Montague, Charlie Frayworth, Lilibeth Hereford.

Camille hatte dem Ganzen in dem Moment keine Bedeutung zugesprochen, hätte jedoch schwören können, es seien vier schemenhafte Silhouetten, die sich aus ihrem Augenwinkel in dem dämmrigen Raum zu ihrer Linken auftaten. Vielleicht hätte sie genauer hinschauen sollen, das Bild nicht mit einem Kopfschütteln aus ihren Gedanken drängen und mit den Abbildungen aus den Anatomiebüchern, die sie nacharbeiten musste, ersetzen sollen.

Zwischen den Labyrinthen aus Bücherregalen taten sich vereinzelt massive, hölzerne Tische und Pulte, wie Lichtungen in einem Wald auf und während Camille -langsam und bedacht darauf nicht auf sich aufmerksam zu machen- durch die Reihen schritt um einen freien Arbeitsplatz zu finden, beobachtete sie abwesend ihre Umgebung.

An einem der langen Tische vor einem Fenster saßen sich zwei Jungen gegenüber -der Eine dunkelhaarig und blass und der Andere hellblond. Beinahe sahen sie aus wie zwei konträre Schachfiguren, während sie die Köpfe in die zwischen ihnen ausgebreiteten Zeitungen gesteckt hatten und leise darüber diskutierten.

Vor einem Bücherregal hinter den beiden stand ein brünettes Mädchen im Tweedjacket, die Bücher in ihrer Armbeuge langsam zurück an ihre Plätze im Regalboden sortierend. Ihre Lippen verzogen sich leicht und im dämmrigen Licht sah es aus wie ein süffisantes Lächeln - beinahe als hörte sie den Jungen bei ihrer Diskussion zu und lachte über die falschen Schlussfolgerungen, die sie zogen, wenn sie mit den Fingern einzelne Passagen unterstrichen.

Die drei mussten Lilibeth, Charlie und Edward sein, schloss Camille aus den tintenfarbenen Namen im Register der Anmeldung. Beinahe wollte sie stehenbleiben und weiter beobachten, wollte einen Blick auf die ausgebreiteten Artikel auf der Tischplatte werfen und hören welche Abschnitte die Jungen diskutierten, welche Schlussfolgerungen sie zogen, wollte wissen warum das Mädchen sich das süffisante Lächeln nicht verkneifen konnte und was sie stattdessen annahm oder gar wusste. Doch statt der Neugierde, die kribbelnd bis in ihre Fingerspitzen kroch, nachzugeben, umfasste sie den Riemen ihrer Tasche fester und wandte sich ab.

Schlussendlich fand sie ihren Platz an einem Pult mit Blick auf den Springbrunnen im Innenhof, an welches sie ihre Tasche lehnte und den Mantel über den knarzenden Stuhl legte. Sie kam zwar schon seit Wochen in diese Bibliothek, durchstreifte die Gänge und stöberte in den Regalen nach den selben Buchrücken und dennoch brauchte sie noch beinahe genauso lange wie am ersten Tag. So war es nicht verwunderlich, dass sie lange genug vor dem Regal stand, die Inschriften zu entziffern versuchte, um zu hören, was sich hinter dem hölzernen Gestell zutrug.

In das kleine Gässchen zwischen den Bücherregalen, die über ihr thronten, fiel nur spärlich das gelbliche Licht der Schreibtischlampen ringsherum und zeichnete ein orphisches Gefühl, sodass der Schreck ihr ein Loch in den Bauch zu schießen schien, als plötzlich die Stimme eines Mädchen hinter dem Regal erklang.

Die geflüsterten Worte verwoben sich zwischen den schweren Wälzern und so verstand Camille nicht, was sie sagte, hörte bloß am Tonfall, am Zischen der Worte, dass es sich um eine Art Streit handeln musste. Camille fragte sich ob es Lilibeth sein konnte, schließlich erkannte sie die Stimme nicht und sonst hatte sie niemanden in den dämmrigen Gängen und Korridoren erkannt. Oder doch?

Das Kribbeln der Neugierde schlug in ihrem erschrocken pochenden Herzen, das Gefühl einen Blick erspähen zu wollen, also blinzelte sie kurz von den ledernen Einbänden hinauf. Die Silhouette, die sie durch die sporadischen Lücken zwischen den einzelnen Regalen ausmachen konnte, war allerdings nicht die, der in Tweed gekleideten Brünetten. Sie hielt den Atem an.

Camille hatte sich zuvor also doch nicht getäuscht, als sie vier Schemen in den Bibliotheksräumen ausgemacht hatte. Es war noch jemand hier.

Einige Sekunden später erstarb das hitzige Geflüster ohne Spuren zu hinterlassen und schließlich machte sich Camille mit wieder langsamer durch die Ohren rauschendem Blut und einem Anatomiebuch unter den Arm geklemmt zurück zu ihrem Pult.

Ihre Adern füllten sich nun stattdessen mit dem seltsamen Gefühl, dass etwas nicht stimmte, dass sie vielleicht lieber gehen sollte.

Doch die aufgeschlagenen Seiten der dicken Wälzer auf der Tischplatte vor ihr belehrten sie eines besseren, verlangten danach durchgearbeitet zu werden und den Gedanken beiseite zu schieben. Schließlich war es ja auch nur unverständliches Geflüster hinter einem Bücherregal, dachte Camille und ein Blick auf die Gruppe der drei Studenten hinter ihr zeigte, dass von ihnen niemand etwas mitbekommen haben musste.

Die Stunden verstrichen, die Dämmerung kroch beharrlich über die Dächer der Universität und der Raum war nun erfüllt vom goldgelben Licht der Schreibtischlampen. Camille hatte versucht, sich den Kapiteln über den Knochenbau der Hand vor ihr auf dem Pult zu widmen, doch die Beklommenheit hatte sich in ihrem Geist festgesetzt wie ein unangenehmer Nachgeschmack auf der Zunge.

Sie konnte den Blick kaum auf den Seiten halten und schaute immer wieder aus dem Fenster, ohne etwas zu sehen. Mittlerweile hatte die Dunkelheit den unbeleuchteten Innenhof überrollt und so war es nun ihre eigene Reflexion die in der Fensterscheibe des Altbaus matt zurückstarrte. Die blonden Strähnen ihres Spiegelbildes fielen durcheinander gegen die sonnengebräunte Haut - ein Überbleibsel des Sommers - und unter ihre Augen fielen müde Schatten. Beim Betrachten ihres eignen reflektierten Gesichts fühlte sie sich fremd, seltsam distanziert, als wollte die Camille im Spiegelbild nicht hier sein. Dass sich das Gefühl der Beklommenheit wie eine Flut in ihrem Inneren auszubreiten schien, trieb sie bloß weiter von sich fort. Es hing nun in der Luft, scheinbar greifbar, wie die Elektrizität an einem Sommerabend kurz vor einem sich ankündigenden Gewitter.

Irgendwas stimmte hier nicht, dem war sich Camille sicher - konnte sie doch bloß nicht sagen, was es war.

Abrupt wurde sie aus ihren Gedanken gerissen, als laute Schritte durch die Gänge hallten, immer näher gerannt zu scheinen kamen. Sie fuhr herum, riss sich ruckartig von dem bedrückt aussehenden Gesicht ihrer selbst im Fenster los und starrte in den leeren Gang neben ihr, so schnell dass das Buch auf ihrem Pult laut zu Boden fiel - doch das dumpfe Geräusch ging im Hallen der näher kommenden Fußsohlen unter. In seltsamer Erwartung starrte Camille aus der Nische  aus Bücherregalen, und da erschien sie.

Es musste das Mädchen sein, deren Flüstern sie zuvor hinter dem Bücherregal vernommen hatte, die nun Richtung Ausgang hetzte. In ihrem Blick und der unregelmäßigen, lauten Atmung, so war sich Camille sicher, lag Panik. Für den Bruchteil einer Sekunde schien es, als legten sich ihre Augen auf die Blondine vor ihr fest - hilfesuchend.

„Brauchst du-", Camille hatte versucht aufzustehen, den Satz mit „Hilfe" zu beenden. Doch da wurde es plötzlich dunkel.

Der Strom musste ausgefallen sein. Das gelbliche Licht wurde abrupt aus dem Raum gesogen. Um sich herum konnte sie nichts mehr erkennen, keine Schemen, keine vagen Umrisse - nichts als tiefschwarze Dunkelheit. Bloß draußen vor dem Fenster waren vage die Lichter der Universitätsstadt auszumachen, weit hinter den sandsteinfarbenen Mauern des Bibliotheksgebäudes. Nur die Bibliothek war in tiefschwarze Dunkelheit gehüllt.

In ihrem Nacken spürte sie die aufgestellten Haare und in ihren Ohren rauschte das Blut, alle Geräusche um sie herum scheinbar übertönend. Sie versuchte aufzustehen, vielleicht etwas zu sagen, doch saß wie gelähmt auf ihrem Stuhl fest. Nur kurze Atemstöße kamen aus ihren Lungen gepresst, der Rest fühlte sich im Schreck wie eingefroren an.

Der Strom musste keine 30 Sekunden ausgefallen sein, doch es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Eine Ewigkeit in der sie nichts vernahm als ihren eigenen, trommelnden Herzschlag und das leise Knarzen der Stühle vom Tisch gegenüber - keine Schritte, kein Geflüster. Auch die anderen drei wagten es wohl nicht, einen Ton zu sagen - warteten wohl wie Camille auf etwas, von dem sie selbst nicht wussten was es war. Als das Licht auf einmal wieder anging, rutschte ihr Herz jedoch endgültig in die Magengegend.

In den Blicken von Lilibeth, Charlie und Edward lag dieselbe Konsternation, die sich auch in Camilles Miene meißelte. Denn der Gang in dem vor einem Augenblick noch die panische Gestalt des Mädchens stand, deren hilfloser Blick Camille gefunden hatte, war leer. Sie war verschwunden.








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hallihallo und herzlich willkommen zum prolog von orphic,

Ich hoffe es hat euch bis hierher gefallen. Über euer Feedback und eure Gedanken würde ich mich sehr freuen :)

Was haltet ihr bisher so von den Charakteren? Noch wissen wir ja nicht viel über sie, aber vielleicht habt ihr ja schon die ein oder andere Idee.


Bis dahin, stay healthy stay hydrated xx

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