𝐜𝐡𝐚𝐩𝐭𝐞𝐫 𝐨𝐧𝐞
𝐍𝐨. 𝟏 - 𝐚 𝐬𝐭𝐫𝐚𝐧𝐠𝐞 𝐛𝐞𝐠𝐢𝐧𝐧𝐢𝐧𝐠
Der Nebel wand sich still wie die Dämmerung um die Ländereien der englischen Universitätsstadt, verschlang unter seinen gräulichen Schleiern die Kopfsteinpflaster der Straßen und Brücken, die grünen Wiesen und die marmornen Statuen vor den viktorianischen Bauten, und das leise Plätschern des Wassers in den Kanälen. Alles schien gedeckt in dunstige Stille und die schwachen ersten Strahlen des Morgengrauens erreichten gar nicht erst die sandsteinfarbenen Zinnen und Dächer.
In einem kleinen Zimmer im dritten Stock lag Camille Lestrade hellwach und starrte ins schiere Nichts über ihr. Die himmelblaue Farbe, die sich über die Decke und den abgewetzten Stuck, der sie einst zierte, zog, wirkte nun als würde sie die trüben Nebelschwaden vor dem Fenster verhöhnen.
Der Schlaf hatte sie die Stunden der Nacht über gemieden, denn viel zu laut hallten die Ereignisse des vorangegangenen Abend in ihrem Bewusstsein wider. Wie ein Echo, das endlos durch ein Tal zu ebben schien.
Jedes Mal wenn Camille die Augen schloss, waren es die dunklen, hölzernen Bibliotheksmauern die sie umragten und das Gefühl der Beklommenheit, das vor einigen Stunden durch ihre Adern rannte, hatte sich fest in ihr verankert. Es hielt an Camille fest, so wie sich der hilfesuchende Blick der Fremden an ihr festgehalten hatte. Die Luft, die durch das leicht geöffnete Fenster neben ihrem Bett in den kleinen Raum strömte, presste ihr kalt den Schweiß einer schlaflosen Nacht gegen die Haut und mit ihm auch den letzten Abend.
Viel zu lange hatte sie auf dem knarzenden Stuhl in der alten Bibliothek festgesessen, unfähig sich zu rühren und eingekesselt von den massiven hölzernen Regalen, die sie umthronten. Ihr Blick hing abwesend auf dem leeren Gang vor ihr, doch sehen konnte sie nichts. Zu sehr vernebelten ihre Gedanken die Sicht und dennoch konnte sie keinen von ihnen klar fassen. Der Gang blieb leer. Das Licht blieb an.
Im Augenwinkel konnte sie die Regungen der drei Studenten am Tisch gegenüber ausmachen. Sie erkannte dass Lilibeth, die Hände auf die Tischplatte gestützt, auf die beiden Jungen einredete, doch hörte kein Wort, das ihre Lippen verließ. Die Schwere der dunklen Vertäfelungen und Buchrücken um sie herum hielt sie in ihrer Nische am Pult fest.
Erst das laute Zerren der schweren eichenhölzernen Türen vor dem Korridor, gefolgt von den hastenden Schritten hart besohlter Füße riss sie aus ihrer Isolation. Ihr Körper war viel zu taub, als dass sie von den unerwarteten Geräuschen noch einen Schreck hätte erfahren können.
Vielleicht hatte sie aber auch viel zu sehnlichst darauf gewartet, dass sich etwas tat - dass etwas anderes als bittere Ungewissheit die Luft um sie herum erfüllte. So lehnte sie sich von ihrem Platz am Pult hervor und beobachtete den uniformierten Wachmann dabei, wie er langsam den Korridor auf sie zu lief.
„Alles in Ordnung bei euch?", fragte er unter Schnaufen in die Runde der vier Studenten, die Taschenlampe in seiner Hand noch immer bereit haltend, um die schwach erhellten Durchgänge und Spalten der Bibliothek zu durchleuchten.
Er wirkte beinahe etwas zu alarmbereit für einen normalen Stromausfall - als hielte er nach etwas Ausschau, dass nicht hier hin gehörte.
Die Brünette am Tisch gegenüber warf einen prüfenden Blick durch die Runde bis zu Camille, bevor sie nach einem bekräftigenden Nicken „Ja alles Bestens", antwortete. Der Wachmann stieß ein erleichtertes Seufzen hervor und Camille sehnte sich danach, dass sich die Schwere von ihren Schultern hob, dass ihr Herz nicht länger Adrenalin bis in ihre Fingerspitzen pumpte.
Während sie schwerfällig ihre Unterlagen und die vollgeschriebenen, losen Papiere von dem Pult in ihre Tasche packte, hörte sie halbherzig den Erzählungen des Wachmanns zu. Wie er bei einem Rundgang durch die Arkaden, die sich unterhalb der Bibliothek um den Innenhof wanden, den plötzlichen Stromausfall bemerkte und umgehend den Sicherungskasten im Keller des alten Gebäudes aufgesucht hatte. Der Notstrom hatte das Licht längst wieder durch die Hallen der Bibliothek fluten lassen, als er im Keller ankam und Camille war daran ihre Aufmerksamkeit mit erleichterter Leichtigkeit abzuwenden - ein Stromausfall, nicht mehr.
„... durchgebrannt war aber nichts. Jemand hatte nur die Sicherung der Bibliothek rausgedreht"
Der Satz, den der ahnungslose Wachmann von sich gab, hallte durch die Luft und landete als ein Schlag in die Magengrube. Wie ein schief geschlagener Cricketball, der einschlug wie ein Geschoss.
Für den Bruchteil einer Sekunde schien es so, als hielten alle vier in ihren Bewegungen inne - Lilibeths Hand schwebte Zentimeter vor dem Regal, ihre Finger fest um das Buch geschlossen, Camille hielt den Kragen ihres Mantels fest umschlungen und die beiden Jungen verharrten im Schultern ihrer Taschen. Die Blicke der vier kreuzten sich und es lag die selbe argwöhnische Erkenntnis in ihnen. Schwere schnelle Schläge durchfuhren wieder ihre Brust, als es ihr bitter ins Bewusstsein kroch. Dass jemand die Bibliothek vorsätzlich in Finsternis gehüllt hatte.
Camille war stets stolz auf ihre Rationalität gewesen - den Abstand den sie in Momenten wahren konnte. Unter normalen Umständen hätte ihr Herz nicht schwer in ihrer Brust geschlagen, hätte ihr Atem nicht schnell gegen ihre Lungenflügel gepresst, stünden ihr die Nackenhaare nicht furchtsam auf und ihre Gedanken wären nicht getrübt von dem Gefühl der Beklommenheit. Stattdessen hätte sie vielleicht geschmunzelt, doch für alles eine nüchterne Erklärung gefunden. Einen Weg sich zu distanzieren und abwenden zu können, von Dingen die sie nicht betrafen.
Eine rausgedrehte Sicherung, die nichts bedeuten musste und ein flüchtend laufendes Mädchen, die vielleicht lediglich fürchtete ihren Bus zu verpassen. Camille hätte den Kopf geschüttelt, sich die zerzausten Haare aus der Stirn gestrichen und wäre mit klaren Gedanken zurück zu den himmelblauen Decken im dritten Stock gegangen - dem Nebel, der langsam durch die kopfsteinpflasternen Straßen kroch immer einen Schritt voraus.
Doch in diesem Fall schien jede Faser ihres Körpers zu wissen, dass etwas anders war, dass etwas nicht stimmte. Der Argwohn loderte mit jedem Atemzug den sie nahm in ihr auf - ganz als hinge er allgegenwärtig in der Luft und verlangte wahrgenommen zu werden.
„Ziemlich seltsamer Streich, wenn ihr mich fragt", schnaufte der Wachmann als er die Gruppe die Treppen hinab und aus dem massiven Eingangsportal hinaus in die Dämmerung begleitete. Die kalte Luft einer frühen Herbstnacht peitschte ihr entgegen und schlug gegen ihre heißen Wangen, in denen sie noch immer ihren Puls pochen fühlte. Zum ersten Mal an diesem Abend fühlte Camille sich, als könne sie einen einzigen klaren Gedanken fassen - als stärkte die eisige Luft auch ihre bebende Stimme.
„Es war noch jemand da ... in der Bibliothek, meine ich", presste Camille hervor und schaffte es knapp, das Zittern nicht mit ihren Worten durch die Nacht hallen zu lassen. Für einen kurzen Moment fürchtete sie die Reaktion der Gesichter vor ihr - fürchtete, dass ihr beißende Blicke entgegnen würden, dass lieber nichts gesagt hätte. Sie spürte wie die drei Augenpaare sie durchpiercten, wie ihr die Nervosität dicht die Kehle füllte, doch ihre unsichere Antizipation wurde je durchschnitten.
„Ja, da war ein Mädchen", stimmte der Junge mit den hellblonden Haaren ihr zu.
„Sie sah ängstlich aus und verschwand plötzlich, als das Licht ausging", war was Lilibeth hinzufügte und für einen kurzen Moment teilten die beiden Mädchen einen Blick in dem die Schwere lag, die das Verständnis der Hilflosigkeit der Fremden mit sich brachte. Ein Verständnis der Solidarität, das sich nun wie ein Band zwischen die beiden legte und mit jedem fallenden Wimpernschlag stärkte.
So zerknirscht Charlie und Edward auch die Hände in den Hosentaschen vergruben, so emphatisch sich ihre Blicke auch senkten, würden sie die tragische Verbundenheit der beiden Mädchen in jenem Moment wohl nie ganz nachempfinden können.
Nachdem die Studenten in knappen Worten die sonderbaren Momente der letzten Minuten schilderten, trübte sich die Miene des Wachmanns in Besorgnis - seine vorangegangenen Worte verhallten hoffnungslos im Nichts. Er versprach, sich der Sache anzunehmen und verabschiedete sich dann, um die anderen Uniformierten aufzusuchen. Seine Gestalt verschwamm langsam im Dunkel der Nacht und die vier Studenten blieben im blassen Licht einer entfernten Laterne zurück im Innenhof. Einen Moment lang war es vollkommen still, dabei erfüllte doch das Gefühl etwas sagen zu müssen die kalte Herbstluft zwischen ihnen.
„Wir wollten noch in den Pub, drüben in der Cowley Road... komm doch mit", ergriff einer der Jungen als erster das Wort und pustete sich eine blonde Locke von der Stirn. Sie bemerkte das aufmunternde Nicken Lilibeths und das kurze Zucken in der Oberlippe des Dunkelhaarigen, hätte vielleicht gerne die rauchige Luft einer Studentenkneipe ihre Lungen füllen lassen, doch mit noch rauschendem Adrenalin in ihren Adern schüttelte sie den Kopf.
„Ich glaube ich leg mich lieber hin, aber Danke", erwiderte Camille mit entschuldigend zusammengekniffenen Lippen und konnte doch nicht umhin, dass ein Teil in ihr es bereute. Dass sich ein Teil von ihr nach Ablenkung und Gesellschaft sehnte.
„Sollen wir dich nach Hause begleiten?", Lilibeth musterte sie wachsam nachdem ihr Fuß unter einem Zischen das Schienbein des Blonden traf, der sich bereits abwenden wollte.
„Nein, macht euch keine Umstände", Camilles dankbares Lächeln war aufrichtig, „Ich wohne bloß dort um die Ecke". Ihre Finger deuteten auf die Umrisse des Gebäudes hinter den Arkaden die sie umschlossen, entgegengesetzt der Cowley Road - trafen die unerhellten kleinen Fenster im dritten Stock. Die Brünette hielt inne, wartete, ob Camille sich ihrer auch wirklich sicher war.
Eine eisige Entschlossenheit füllte die Aura Lilibeth Herefords und Camille traute ihr zu, Charles und Edward notfalls jeden Moment an den Haaren den Weg bis hinauf in den dritten Stock des viktorianischen Gebäudes vor ihnen zu ziehen. Doch ihre Schöpfe blieben wo sie waren.
Auch wenn etwas in Camille schrie, nicht alleine seien zu wollen, wenn eine Neugierde in ihr sich nach der Gesellschaft der drei Fremden sehnte, konnte sie nicht umhin von der elitären Fassade wie abgeschreckt zu scheinen. Die brennende Präsenz der Aristokratie schüchterte sie beinahe ein, je näher sie herantrat.
„Na dann, auf geht's! Ich habe um neun ein Date im Royal Oak", wieder war es die Stimme des Blonden, die die Stille zwischen ihnen füllte, als er beide Arme um die Nacken seiner Begleiter schlang, „und der Damenwelt darf ich nicht länger vorenthalten bleiben"
„Ins Royal Oak? Und dir dabei zusehen wie du den Abend lang um eine bedauernswerte Kreatur herumscharwänzelst?"
Lilibeth hatte sich je mit gerümpfter Nase aus seinem Griff befreit, während der Andere bloß entnervt die Augen verdrehte. Camilles Aufmerksamkeit blieb auf ihm hängen und im schwachen Licht der Laterne über ihren Köpfen wirkten die Konturen seines blassen Gesichts wie in Marmor gehauen - so scharfkantig fielen sie konträr gegen die spöttische Miene seines Freundes.
„Warum genau schleifst du mich jetzt nochmal mit?", waren die ersten hörbaren Worte die seine Lippen an diesem Abend verließen, bemerkte Camille.
„Oh Edward, du als Innbegriff der guten Laune musst mitkommen um die Stimmung aufzuheitern ... als mein Hofnarr", säuselte Charlie mit triefendem Sarkasmus vor sich hin.
Mit einem angedeuteten Knicks und einem aufrichtigen Grinsen auf den geschwungenen Lippen verabschiedete er sich von Camille und lief dann den beiden anderen voran quer über die Wiese in Richtung Tor.
Edwards „Du kannst mich mal", erreichte ihn gar nicht mehr.
Sie hatte bereits einige Meter in die entgegengesetzte Richtung gemacht und mit einem Blick über ihre Schulter dabei zugesehen, wie der blonde Schopf durch das schmiedeeiserne Tor auf die belebte Cowley Road verschwand, da hatte sie für einen Bruchteil einer Sekunde das Gefühl, dass Edward innehielt und seine Augen sie in der Dämmerung fanden.
Es war bloß der Hauch eines Augenblicks, indem ihre Blicke sich ineinander verfingen - so flüchtig, dass sie später das Gefühl hatte, sie hätte es sich eingebildet.
So trieb es die vier schlussendlich durch den Innenhof voneinander fort. Während Charlie, Edward und Lilibeth sich später in einem rauchigen Pub auf einer belebten Straße wiederfanden, verweilte Camille mit allzu wachen Gedanken unter der himmelblauen Decke eines kleinen Schlafzimmers.
Und in ihrer aller Köpfe rauschte lodernd eine argwöhnische Skepsis- in den unnahbaren Augen Lilibeths, hinter denen sie die ungewohnte Angst jener Nacht versteckte, die niemanden zu nah an sie heranließen; in der brennenden Kehle Edwards, mit jedem Schluck Bourbon, den er hinterher kippte, bloß um irgendwas zu fühlen, dass nicht donnernde Leere war; in den lasziven Lächeln und Worten die Charlie einer Fremden zuwarf, nur um sich nicht der bedrängenden Einsamkeit in seinem Inneren zu stellen.
Auch wenn keiner von ihnen es je aussprach, war es doch allen klar, dass diese Nacht sie auf eine seltsame Art und Weise verband. Dass sich ein Band um sie alle wand, dass sie nicht loslassen würde.
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Hallo ihr Lieben,
Freut mich, euch hier wiederzusehen. Ich hoffe, das erste Kapitel hat euch gefallen und die Ereignisse in der dunklen Bibliothek haben euch gepackt.
So ein klein wenig konnten wir ja jetzt einen Einblick in die vier Protagonisten gewinnen, aber keine Sorge da kommt noch mehr ;)
Habt ihr bis jetzt einen Charakter, der euch vielleicht gefällt oder euch neugierig stimmt?
Über euer Feedback würde ich mich wahnsinnig freuen. Lasst mir gerne eure Gedanken und Kritiken da :)
Lots of love xx
In the light of recent events, this chapter is dedicated to Sarah and all the others who ought to have made it home safely- may you rest in eternal peace.
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