57. Veränderung

Alle hatten etwas zu tun. Nur Arin nicht.

Wenn er nähen könnte, hätte er Admiral und die Anderen unterstützen können. Aber leider besaß er keine Talente. Keine besondere Ortskenntnis, keine Kontakte. Arin seufzte.

Sein Herz trommelte im Takt zum Sinowaas Schaumkronenverlangen. Tief und langsam, mit regelmäßigen Aussetzern. War es das Gift oder die Sehnsucht nach dem Tanzen?

Die Wurzel an der Decke seines Zimmers forderte ihn heraus. Das ganze Zimmer drückte auf sein Herz. Es war nicht zum aushalten.

Die ganze Ruhe, die alle ihm so gerne verordneten, brachte nichts. Trotz allem hatte er Krämpfe. Trotz allem verschwamm seine Sicht.

Arin kletterte aus dem Bett und ignorierte den Schmerz. Als erstes musste er den unnützen Fuß fixieren. In der Frisierkommode fanden sich zahllose Seidenbänder. Arin band mehrere zusammen und wickelte das Ergebnis eng um seinen Fuß. So könnte es halten. Es musste.

Die ersten Schritte waren wackelig, aber mit jedem weiteren lernte er, wie er vorankam, ohne umzufallen. Manchmal musste er seine Flügel strecken, manchmal die Arme. Aber er fiel nicht.

Arin nickte. Der Weg zum Trainingsraum kam ihm länger vor als früher. Aber Arin biss die Zähne zusammen. Als er den großen Raum mit der Bühne endlich erreichte, war hatte der Schweiß sein Hemd durchtränkt.

Die Anderen bereiteten ihren Auftritt vor und das würde er auch tun. Weder das Gift noch sein Fuß bestimmten ihn.

Arin begann zu summen. Sein Herzschlag rauschte in den Ohren, als er die ersten langsamen Schritte machte. Bei einem scharfen Stechen im Fuß musste er anhalten und die Bänder stärker anziehen. Zu oft vergaß er, dass er nun ein schwaches Bein besaß, aber er wurde bei jedem Fehler daran erinnert.

Schließlich fächerte er seine Flügel auf. Die schwarzen Schwingen ragten weit über die Bühne. Die Größe war unpraktisch. Immer, wenn er sich drehen wollte, verlor er das Gleichgewicht.

Jeder falsche Schritt brachte ihm weiteren Schmerz. Arin schmeckte Salz auf seiner Lippe. Es hätte Blut sein können, oder Schweiß - es interessierte ihn nicht. Schließlich schaffte er eine Drehung, balancierte den linken Flügel aus, während er den rechten anhob. Es funktionierte.

Reines Glück fuhr durch seine Adern und überdeckte jede Müdigkeit.

Im nächsten Moment überrollte ihn der Krampf.

Mit einem Krachen stürzte Arin auf die Planken. Die Musik in seinen Gedanken verstummte. Lediglich Stille hüllte ihn ein. Tränen schossen in Arins Augen und er hüllte sich in seinen Kokon aus Federn. So würde er niemandem helfen können. Mal wieder.

»Arin?«

Beim Klang der Stimme hob er den Kopf und wischte sich die Feuchtigkeit von den Wangen. Dort, mitten im Raum stand der Feender. Durch die offene Tür drang drang Licht von den Fackeln hinein, die den Schimmer der Glühranken verstärkten. »Dain? Was machst du hier?«

Der Feender trat unruhig von einem Fuß auf den Anderen. »Ich bin gekommen, weil ich dich suche.«

»Mich?«

»Ja.« Zögerlich ging Dain auf die Bühne zu, sprang hinauf und setzte sich neben Arin.

»Warum?«

Aus seiner Tasche zog Dain eine Glasflasche. Der Inhalt schimmerte in hellen Tönen, wie das Innere einer Muschelschale. »Das ist eine lange Geschichte.«

Arin setzte sich auf. »Dann erzähl sie mir.« Missmutig deutete er auf seinen Fuß. »Es ist nicht so, dass ich weglaufen kann, wenn sie mir nicht gefällt.«

Sein lahmer Witz entlockte dem Feender zumindest ein leichtes Lächeln. »Nun, nicht alles daran wird dir gefallen.«

»Es geht um mich?«

»Irgendwie schon.«

Erstaunt setzte sich Arin auf. Er hätte eine Wette darauf abgeschlossen, dass er den Feender vor seinem Besuch in der Tanzwurzel nie gesehen hatte. »Erzähl sie mir.«

Der Feender lüftete seine Flügel und streckte sich. »Die Geschichte verändert sich, je nachdem von welchem Standpunkt man sie erzählt.«

»So erzähle mir deinen.«

Nickend fuhr Dain fort. »Vor drei Mondumläufen und ein paar Lichtwechseln suchte mich ein Satyr auf, der meine Sache zu unterstützen schien.«

»Deine Sache?«

»Die Rebellen. Den Kampf gegen die Häuser - gegen die Ungerechtigkeit und Ausbeutung.« Dain zwirbelte den Flaschenhals zwischen seinen Fingern. Bei jeder Bewegung schimmerte das Innere in einer anderen Nuance. »Er bot mir Geld an, damit ich eine Aufgabe für ihn erfülle.«

»Du hast es genommen«, mutmaßte Arin.

»Tja, ich hätte es genommen, wenn er mich nicht betrogen hätte.« Der Feender spielte mit dem Verschluss der Flasche, während er langsam weitersprach. »Was weißt du über den Feenglauben. Den Glauben, an den Lachenden Gott.«

»Nicht viel«, gab Arin zu. »Er soll ein Spieler sein, habe ich gehört. Aber was hat es mit deiner Geschichte zu tun?«

»Nichts. Und Alles.« Die Flughäute des Feenders vibrierten. Unruhig bewegte er sich, als er nach Worten suchte. »Der Glaube bestimmt unser Leben. Wir folgen einem Kodex und wer dagegen verstößt, gerät in Misskredit. Sehr unschön, wie ich dir versichern kann.«

»Und der Lachende Gott war unzufrieden mit deinen Handlungen?«

»Ja. Ich habe etwas getan, das mich selbst beschämt hat. Der Betrug des Satyrn hat mir die Augen geöffnet. Nun, der Betrug und deine Schwester, wenn man es genau nimmt.«

»Nuf?«

»So nennst du sie?« Dains Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ein hübscher Spitzname. Und ja, deine Schwester sorgte dafür, dass ich die Konsequenzen meiner Taten erfassen konnte. Auch wenn sie es abstreiten würde, diente sie in den letzten Mondumläufen meinem Gott.«

»Ihr ward zusammen? Dann geht es ihr wirklich gut?«

»Ja.« Dain streckte seine Hand aus und reichte Arin die Phiole. »Wir haben die Zutaten für das Heilmittel zusammengesucht. Aus ganz Elysia. Eine Hexe vom Wunschmarkt hat uns erklärt, dass es für dich kein Gegengift gibt. Nur der Trank Elysium, gebraut aus der Seele unserer Welt, könnte dich noch retten.«

Erstaunt griff Arin nach der Flasche. »Das wird mich retten?«

»Das hoffe ich.«

Arin zögerte. »Und was soll ich jetzt damit machen?«

»Nun, Siom hat sich dazu nicht so klar ausgedrückt, aber ich würde trinken vorschlagen.«

Hitze fuhr in seine Wangen, als ihm die Sinnlosigkeit seiner Frage bewusst wurde. Mit den Fingern drehte er am Verschluss, der sich leicht öffnen ließ. »Warum du? Warum ist meine Schwester nicht hier?«

»In ihrer Abwesenheit ist viel passiert. Sie wollte kommen, doch muss sie sich zuvor noch um einige Belange Areas kümmern.«

Das klang nach ihr. Arin konnte es immer noch nicht fassen, dass sie ihre Eide so lange vernachlässigt hatte, nur um für ihn ein Heilmittel zu finden. Seine Muskeln fingen an zu zucken. Wenn er sich beeilte, würde er vielleicht sogar dem folgenden Krampf entgehe. »Also dann - vielen Dank.«

Der schuldbewusste Gesichtsausdruck des Feenders ließ ihn zögern. »Was verheimlichst du mir?«

»Trink aus. Ich erzähle dir den Rest, während du heilst.«

Der Schmerz nahm ihm die Entscheidung ab. Mit einem langen Zug trank er die Phiole aus. Die Flüssigkeit rauschte durch seinen Mund, spülte die verschiedensten Geschmacksrichtungen über seine Zunge hinweg und hinab durch die Speiseröhre. Tränen bildeten sich in seinen Augen, als die Intensität seine Sinne überfluteten. Gras, Himmel, Hitze, Eis. Arin ertrank in der Welt.

Als er die Augen wieder aufschlug, beugte sich Dain über ihn. »Wie geht es dir?«

Das Licht blendete ihn. Arin spürte eine Wurzel, die sich in seinen Rücken bohrte. Die Federn an seinen Flügeln richteten sich auf, als würden sie einen sanften Lufthauch begrüßen. Wie sollte er nur seine Empfindungen in Worte fassen?

»Ganz ruhig. Kannst du sprechen?«

Arin nickte. Feuchtigkeit rann seine Schläfen hinab, verteilte sich in seinen Haaren und tropfte auf den Boden. Er konnte es hören!

»In Ordnung. Denkst du, der Trank hat gewirkt?«

Sein Körper brannte, ohne zu schmerzen. Die Muskeln vibrierten, aber mehr vor Ungeduld. Wieder nickte er.

»Wundervoll. Glaubst du, du kannst dich aufsetzen?«

MIt Dains Unterstützung gelang es ihm. Der Raum schien heller zu sein, strahlender. Vor der Tür hörte er das geschäftige Treiben der Anderen. Jemand sang.

Seine Finger zuckten, aber nicht vor Schmerzen. Die Musik rief ihn. Arin streckte sich und stand auf. Er machte einen Schritt, dann einen zweiten. Sein Fuß gab nach und er taumelte. Natürlich. Das Gift war fort, aber seine Verletzung hatte der Trank nicht heilen können. Arin atmete tief durch und schaute auf den Teil seines Körpers, der ihn weiter verriet. Ihn von Kisum trennte.

»Warte«, forderte der Feeder und Arin hob seinen Kopf. »Denk daran, worüber wir gesprochen haben. Deine Flügelhaltung stimmt nicht.«

Arin richtete sich auf. Natürlich. Seine Muskeln schienen stärker zu sein, sowohl die in den Beinen, als auch im Rücken. Eine halbe Drehung schaffte er, bevor er zur Seite driftete. Mit einem Sprung rettete sich Arin auf den gesunden Fuß.

»Das sah gut aus.« Dain nickte zufrieden.

Die Leichtigkeit in seinem Körper machte Arin etwas benommen. Aber es war ein gutes Gefühl. Ein Leichtes. Grinsend sah er zu Dain, der ihn prüfend musterte.

»Ich glaube, du wirst zurecht kommen. Vertraue auf deinen Körper. Er ist immerhin ein Teil von dir.«

Sein Körper. Sein Fuß war weiterhin ein Hindernis, aber durch seine Flügel könnte er es ausgleichen. Das würde Arbeit kosten, aber mit einem Mal schien die Bühne nicht mehr so unerreichbar zu sein. Arin nickte.

»Ich habe dir gesagt, dass ich dir noch einen letzten Teil erzählen würde.«

Der Tonfall des Feenders klang traurig. Mit angelegten Flughäuten ging Dain an der Bühne entlang zu den Spiegeln und klopfte sanft gegen die Oberfläche. »Ohne mich und mein Handeln hättest du kein Heilmittel gebraucht. Ich bin derjenige, der dich überhaupt erst vergiftet hat.«

Arin blinzelte. Die Worte waren schwer zu verstehen. »Warum? Wir kannten uns doch gar nicht?«

Die Augen des Feenders glitten über den Spiegel, bevor sie unruhig durch den Raum wanderten - beinahe, als würden sie einem Staubkorn folgen. »Nein. Ich kannte weder dich noch Sumse. Tatsächlich war mir der Auftrag zuwider und ich habe einfach auf die erste Gestalt angelegt, die den Raum verlassen hat.«

»Es hätte also auch Sumse treffen können?«

»Ja.«

Bilder der vergangenen Mondumläufe prasselten auf ihn ein. Der Moment in Sumses Büro, in dem er sich für die Freiheit entschieden hatte. Die Zeit bei den Nyrs. Ihr Tanz auf dem Marktplatz. Mauerfuchs' Lächeln und die Befreiung von Admiral. Soviel war passiert. Doch an den schlimmsten Dingen, Mauerfuchs' Tod, trug der Feender keine Schuld. Alles verblasste hinter dieser Dunkelheit. »Ich verstehe«, erklärte Arin. Aber als er aufschaute, war der Feender verschwunden.

Admiral schob ihren Kopf durch die offene Tür. »Bist du soweit?«

Bevor Arin antwortete, bückte er sich und korrigierte den Sitz der Bänder. »Das bin ich. Lass gehen.«

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