50. Mythen

Von Michins üblicher Leichtigkeit war nichts mehr geblieben. Mit gesenkten Schultern zog er seine Runden durch Sumses Bibliothek.

»Es ist nicht deine Schuld.« Sie warf ihrer Nachtwache einen auffordernden Blick zu, aber Crispein wich ihr aus. Seine großen Augen saugten sich förmlich an den hölzernen Regalen fest. Von dieser Seite war also keine Unterstützung zu erwarten.

»Verzeih, Herrin, aber du irrst dich. Ich habe meine Aufgaben nicht gut genug erfüllt.«

Das konnte so nicht weitergehen. Beherzt trat sie ihm in den Weg und legte ihre Hände auf seine. Michin zuckte zurück, wollte ihr ausweichen, aber Sumse erhöhte den Druck. »Unfug. Dein Auftrag war, mich zu beschützen. Und den hast du - habt ihr alle offensichtlich erfüllt.«

Michins Brustkorb hob sich, als er laut seufzte. Aber zumindest widersprach er nicht.

»Wir haben jedoch auch die Pflicht, aufeinander aufzupassen«, erklärte Crispein.

Nicht hilfreich. Der Schmerz, der sich in Michins Augen zeigte, tat ihr selber weh. Sumse warf ihre Arme hoch und ließ sich rückwärts auf einen der Sessel fallen. »Gut, perfekt. Dann stecken wir halt alle den Kopf in das nächste Baumloch und suhlen uns im verrotteten Laub.«

Beide Wächter starrten sie an.

»Was ist? Stimmt doch! Vergesst nicht, dass ihr in meinem Dienst steht. Also sind alle Ereignisse auch meine Schuld!«

Crispein verzog keine Miene, aber Michins Schultern bewegten sich. Erst hoch, dann runter und dann zuckten sie ein Waschbär auf Pilzsporen. Er lachte.

Auch wenn sie diese Reaktion nicht erwartet hatte, tat es gut, den alten Michin wiederzusehen.

»Blutiger Birkentod«, keuchte er. »Ich hoffe ernsthaft, dass ich nicht genauso geklungen habe.«

»Tapfer?«

»Selbstbemitleidend.«

»Ein wenig schon«, fügte Crispein hinzu. Manchmal fiel es Sumse schwer zu unterscheiden, ob ihre schweigsame Nachtwache trocken oder humorlos war.

Aber egal wie sie ihre Blätter auch ausrichtete, sie fühlte immer noch eine kahle Stelle. Irgendetwas übersah sie noch.

»Lagebericht«, forderte sie.

Michin blickte zu Crispein, der wieder ins Leere starrte. Die beiden waren wirklich wie Tag und Nacht. Der Bärensatyr holte mehrfach tief Luft, bis schließlich das Kichern erstarb. »Nachdem die Attentäterin durch das Fenster floh, haben wir unsere Kontakte mobilisiert. Wenn sie irgendwo in Area auftaucht, werden wir es erfahren.«

»Die Goldwachen haben den Fall übernommen. Wie sauber sie ohne die Eisfeder arbeiten, bleibt abzuwarten.«

Richtig. Der letzte Botenfalter hatte zuversichtliche Nachrichten gebracht. Nurise kündigte eine baldige Rückkehr an. Hoffentlich gab es ein Heilmittel, guten Nachrichten wären mehr als wünschenswert. »Meine Mutter?«

»Wurde versorgt. Sie hat einen Schnitt auf der Wange, aber wohl nicht mehr als ein Blutstropfen verloren.«

»Wenn sie nicht vergiftet wurde.«

»Bisher deutet nichts auf eine Vergiftung her. Eure Mutter ist so energisch wie immer.« Crispein hielt seinen Kopf schräg und musterte sie.

Mit einem Blutstropfen konnte Sumse leben. Vielleicht war ihre Mutter gar nicht von einem Pfeil getroffen worden, sondern hatte durch etwas anderes verletzt. Vielleicht brauchte das Gift, dass Konstantin ausgeschaltet hatte, mehr Kontakt oder wirkte nicht bei Nymphen. Vor ihren Augen erschien das blasse Gesicht ihrer Mutter, auf dem der Blutstropfen hell schimmerte. Blut.

Sumse erstarrte mit in der Bewegung. Blut.

»Herrin?« Michin trat einen Schritt näher.

»Shh.« Mit einem Finger signalisierte sie ihm, dass er Schweigen sollte.

Ein fehlendes Puzzleteil tauchte vor ihren Augen auf. Es war blutrot und düster. Sie hatte nichteinmal gewusst, dass es da war.

Sumse biss sich auf die Lippen und zog den Tritt hinter einem der Sessel hervor. Die interessantesten Bücher standen im obersten Regal. Nymphen und Blut. Ganz sicher war sie auf der richtigen Spur.

Auf einem der unteren Bretter hatte sich Bucci zwischen zwei Folianten eingekuschelt. Er zwinkerte, als sie auf die Leiter stieg und sich streckte, um größer zu wirken. Als erstes griff sie nach einem dicken Band über Kräuter und Sporen. Nein, der war es nicht.

Das Buch flog zu Michin, der es überrascht auffing. Als nächstes folgten zwei Werke über göttliche Fügungen, denen das gleiche Schicksal widerfuhr.

»Herrin?«, versuchte es Michin erneut.

Sie warf ihm "Kartenkunde und Marschlinien" zu, dass er zwischen den wachsenden Stapel und seine Brust klemmte.

Da, endlich fand sie den Mythenband über vergangene Völker. »Ich habe es!«

»Was hast du?« Michins Stimme klang beinahe verzweifelt.

»Antworten. Warte kurz.« Mit einem großen Schritt kletterte sie von der kleinen Leiter und blätterte das Inhaltsverzeichnis durch. Kapitel 28 - Legenden der Völker.

»Was ist mit diesen Büchern, Herrin?«

»Die brauche ich nicht.« Sumse trat zur Seite und machte Michin Platz, damit er sie zurück ins Regal stellen konnte. Ihr Finger fuhr Zeile um Zeile nach. Da.

»Blutnymphen«, hauchte sie.

Ohne sich um die Leiter zu bemühen, stellte sich Michin auf die Zehenspitzen und rammte seine Last ins Regal. »Blut-was?«

»Blutnymphen.« Beide Wächter traten hinter sie und flankierten Sumse zu beiden Seiten. Ihre Gestalten warfen Schatten auf das Papier. Crispein beugte sich vor, und drehte die Glühlampe auf.

Sumse tippte auf die Textstelle. Eine kleine Zeichnung stellte langbeinige Frauen dar. »Hier steht es: Als Floras Tränen auf den Waldboden tropften, verband sich Wasser mit Erde. Aus Schlamm entstiegen zwei Töchter - eine blass wie die Brandung, die andere farbenfroh wie ein Blättermeer im Herbst

»Das wissen wir, Herrin. Während Fauna uns willentlich schuf, wurden Nymphen durch die Verbindung der Elemente geboren.« Ihre Tagwache schnalzte ungeduldig mit der Zunge.

»Ja, natürlich. Jetzt aber wird es interessant: Flora bückte sich, um beide Willkommen zu heißen. Doch sie übersah einen Stein, dessen scharfe Kante ihre Haut durchdrang. Aus dem Tropfen ihrer eigenen Lebenskraft bildete sich eine dritte Tochter, Herzensrot und hart wie Stein. Die Blutnymphen.«

Floras blutige Tränen. Ihre Mutter musste es gewusst haben.

Die Stundenkerze zischte, als das Feuer den kleinen Metallstab erreichte. Ansonsten war es still.

»So ist das also.« Michin pfiff durch die Lippen und kratzte sich ein Ohr.

Was Crispein von der Neuigkeit hielt, war schwer zu sagen. Wie immer tarnte er seine Gedanken hinter großen Augen und hellen Federn. Der Wächter wandte sich ab und nahm wieder seine Position an der Eingangstür ein.

Sumse überflog eine weitere Seite. »Hier steht noch etwas: Im Gegensatz zu ihren natürlichen Schwestern neigen Blutnymphen zur Abschottung. Sie fühlen sich nur unter ihresgleichen wohl und betrachten vor allem Faunas Kinder als nachrangig.«

Michins Schnaube riss sie aus ihrer Konzentration. »Da sind sie nicht die Einzigen.«

Bevor Sumse darauf antworten konnte, klopfte es an der Tür. Lang, kurz, kurz - das Erkennungszeichen ihres Haushofmeisters.

»Komm herein.«

Die Tür öffnete sich und Fin trat ein. Seine Schnurrhaare zuckten und der buschige Schwanz schien noch aufgeblähter zu sein als sonst.

»Bitte, keine schlechten Neuigkeiten«, erklärte Sumse schnell.

Ihr Haushofmeister erstarrte und blickte sich unsicher um.

»Geht es Konstantin gut?«

»Nun, zumindst nicht schlechter als zuvor. Herrin, ich muss ...«

»Arin?«

Schweiß bildete sich auf Fins Stirn. »Soweit ich weiß, ist alles in Orndung.«

»Wer ist es dann? Markin?« Sumse griff sich mit der Hand an die Stirn. Wann nur war diese Liste so lang geworden. »Mutter?«

»Nein, nein, das ist es nicht. Ich bin nur hier, um Besuch anzukündigen.«

»Besuch? Jetzt?« Vor dem Fenster glühten schon die Nachtpilze. Wer würde denn zu so einer Zeit das Haus verlassen.

Eine Gestalt schob sich an Fin vorbei, der seinen buschigen Schwanz festhielt. Ihr Haushofmeister wirkte aufgeregt, beinahe feindlich.

Der Neuankömmling zog seine Kapuze herunter und Sumse blickte direkt in nachtschwarze Augen.

»Hallo Nympchen. Hasst du mich vermisst?«

Bei der Stimme richteten sich ihre Nackenhaare auf. »Dain«, zischte sie grimmig. Selbst Crispein zuckte bei ihrem Tonfall zusammen. Nichtsdestotrotz hatte sein Eintreffen etwas Gutes, wenn man von seiner nervtötenden Anwesenheit einmal absah. »Also ist Nurise wieder da. Der Lachende Gott scheint ein Einsehen zu haben.«

Dain schüttelte seinen Kopf und griff sich mit der Hand zum Herzen. »Das trifft mich jetzt wirklich. Die Eisfeder wurde aufgehalten und schickt mich, um nach dem Rechten zu sehen.«

Das konnte doch nicht wahr sein. »Ist sie verrückt geworden?«

Das Lachen des Feenders schien ehrlich zu sein. »Ich denke nicht. Wir haben eine Einigung erziehlt. Weißt du, wir sind jetzt Freunde.«

Sumse sank auf die Lehne des Tisches und hielt sich an der Plate fest. »Bist du verrückt geworden?«

»Ich denke nicht.« Dain breitete seine Arme aus und drehte sich im Kreis. Im staubigen Mantel wirkte er wie ein schlechter Schauspieler, der nach begangener Vorstellung einen Preis oder zumindest Applaus erwarten würde.

»Braucht ihr einen Moment, Herrin?« Michin ließ seine Fingerknöchel knacken. Männliche Stolzgebarden konnte sie jetzt nicht gebrauchen.

»Nein. Gehen wir also davon aus, dass alles so seine Richtigkeit hat. Habt ihr ein Heilmittel?«

»Wir arbeiten daran.« Dain nahm den Umhang ab und schüttelte ihn einmal. Winzige Staubpartikel wehten durch die Luft und brachten Michin zum Husten. »Was ist mit dir? Hast du Arin?«

»Ja. Er ruht sich oben aus.«

In einer fließenden Bewegung schwang sich Dain den Stoff wieder über den Rücken. »Nein, das tut er nicht.«

»Tut er nicht?« Die Worte des Feenders ergaben für Sumse keinen Sinn. Wieder einmal.

»Oben sind nur zwei Zimmer belegt. Im einen liegt eine Wache im Heilschlaf, das andere wird von einer sehr lauten Frau bewacht.«

Ohne dass sie etwas sagen musste, eilte Fin hinaus.

Dain nutzte die Pause, um sich aus einer Schale mit Blumenkernen zu bedienen. Ihn schienen weder die spöttischen Blicke von Michin noch die misstrauische Aura iher Nachtwache besonders zu stören.

Nach kurzer Zeit kehre ihr Haushofmeister zurück. Sein Gesicht war moorbleich. »Der Feender hat recht. Arin ist fort.«

Dain stopfte sich eine weitere Handvoll Nüsse in die Tasche und sah Sumse kopfschüttelnd an. »Heute scheint nicht dein Tag zu sein, Nympchen.«

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