47. Wiedersehen
Die Villa Weidensang bot einen starken Kontrast zum grünen Blätterhimmel. Der Sänftenträger grunzte, als er das Gewicht verlagerte. Arins Vater hatte auf einen Träger bestanden und er war zu schwach gewesen, um ihm zu Widersprechen. Es war ein Kompromiss, aber immer noch besser, als Sumse zu einem Besuch im Krankenzimmer immer zu nötigen.
Je näher sie kamen, desto mehr Details erkannte Arin. Das Holz der Fensterrahmen war hellgelb gestrichen, während die quadratischen Steinquader eine interessante Symmetrie bildeten.
Schließlich verschwand das Gebäude hinter der Mauer. Die Sänfte bewegte sich an der steinernen Wand entlang und hielt erst vor der Eingangspforte an.
Das Klingeln einer Glocke ertönte. Kurz darauf wurde eine Luke geöffnet.
»Arin Rabenfeder für die Ehrwürdige Weidensang«, meldete der Träger.
Die Tür schwang auf und ein junger Satyr trat durch die Pforte. Er machte einen Schritt auf die Sänfte zu, wurde jedoch von einem Pfiff zurückgehalten.
Arin beugte sich vor. Ein zweiter Satyr näherte sich. Zarte weiße Federn bedeckten das Gesicht des Neuankömmlings, der unverkennbar die Merkmale einer Schleiereule trug.
»Willkommen. Ich bin Crispein, die Nachtwache.«
Nachtwache? Es war gerade einmal früher Nachmittag, sollte eine Nachtwache da nicht schlafen?
Der Mann kniff die Augen zusammen und Arin spürte den Druck der vollständigen Aufmerksamkeit. Während seine eigenen Flügel immer etwas struppig wirkten und sich das glänzende Schwarz niemals verstecken ließ, lagen Crispeins Federn eng am Körper und umgaben den Satyr wie einen Mantel. »Ihr dürft eintreten, aber Euer Begleiter muss euch hier verlassen.«
Arin nickte. Die Medica hatte seinen Fuß dick bandagiert und mit ihren Kräften das Verletzte zusammengesetzt. Was der Felsen zerstört hatte, konnte sie umgehen oder ausbessern. Er würde es schaffen, wenn auch humpelnd.
»Soll ich auf euch warten?«, fragte der Träge, als Arin aus dem Inneren der Sänfte kletterte.
»Nein, vielen Dank.« Ein paar Münzen wechselten den Besitzer und der Träger stapfte davon.
Der Weg von der Pforte zur Eingangstür war gewunden und dadurch weiter, als er sein müsste. Vorsichtig belastete Arin das Bein. Der Schmerz stach tief in sein Fleisch, aber es war zu ertragen. Tatsächlich tat sein Herz mehr weh. Ein kalter Panzer umgab es. Bisher hatte er nicht um Nuf trauern können.
Sie umrundeten eine Weide, die ihre langen Arme über den Pfad spannte. Die langen Blätter kitzeln Arin, als er in den Schatten des Baumes trat. Ob es ein Ableger von Sumses Seelenbaum war? Jede Nymphe hatte einen Ort, an der ihr Innerstes verankert war und den sie vor Fremden geheim hielt. Einmal hatte Nuf ihn zu einem Bergsee im Norden von Aristea geführt, dessen kaltes Wasser ein Stück seiner Schwester beherbergte. Wenn er soweit war, würde er dorthin gehen, um Abschied zu nehmen. Aber jetzt noch nicht.
Arins Fuß rutschte über einen Stein und er stolperte. Bevor er fallen konnte, zog ihn Crispein zurück. »Braucht ihr Hilfe, mein Herr?«
»Nein. Aber habt Dank. Es wird schon gehen.«
Die Zweige öffneten sich wie ein Vorhang und vor Arin erhob sich die Villa. Sein eigenes Heim war nicht einmal halb so groß und die Tanzwurzel bräuchte nicht einmal einen Bruchteil des Erdgeschosses, wenn man das weitverzweigte Gangsystem nicht mitrechnete.
Aus der Nähe wirkte die mächtige Bluteiche noch beeindruckender, die ihre Äste zwischen der Mauer und der Hausmauer entlang spannte. Niemand konnte anzweifeln, dass dies wahrlich das Heim einer Waldnymphe war.
Endlich erreichten sie die Hauptpforte. Ein schlanker Satyr mit runden Knopfaugen öffente ihnen. Seine langen Ohrbüschel zuckten, als er von Crispein zu Arin schaute. »Besuch? Jetzt?«
Die Tagwache nickte. »Bitte kündige Arin Rabenfeder an. Die Herrin erwartet ihn bereits.«
»Oh. Ohh!« Mit schnellen Schritten eilte der Satyr durch die Halle und ließ Arin und Crispein zurück.
Zu Arins Überraschung war es kein Bediensteter, sondern Sumse selbst, die ihn abholte. »Arin!« Sie zog ihn in eine feste Umarmung. »Du lebst!«
Also hatte sie von seinem Unfall gehört. Natürlich. Eine rotbraune Strähne kitzelte ihn an der Nase, aber er hielt still. Die Berührung war weniger unangenehm als erwartet. Tatsächlich fühlte es sich beinahe vertraut an.
Arin atmete ihren Duft ein. Veilchen und Vanille. Intensiv, aber trotzdem warm und tröstlich. »Ich wollte schon länger mit dir reden und mich für mein Verhalten entschuldigen«, erklärte Arin, aber Sumse trat einen Schritt zurück und hob die Hand.
»Das ist nicht nötig, wirklich nicht. Bitte komm mit. Es gibt einiges, dass ich dir sagen muss.«
Das Schweigen zwischen ihnen hielt an, als Arin der Nymphe durch die Halle folgte. Sie führte ihn zu einer Tür neben der großen Haupttreppe, vor der ein weiterer Satyr wartete. Der aufrechten Statur nach ebenfalls ein Wächter.
»Crispein hast du ja schon kennengelernt. Das hier ist Michin, meine Tagwache.« Der neue Satyr war riesig und hatte blonde lange Haare. Mit einem Nicken öffnete er die Tür.
Im Inneren des Raumes befand sich eine Bibliothek. In den Regalen stapelten sich unzählige Bücher und Folianten. Arin humpelte hinein und seufzte erleichtert, als Sumse vor einer Gruppe von Sesseln stehen blieb. Vorsichtig entlastete er sein Bein und nahm Platz.
Sumse nickte, setzte sich hin um aber gleich wieder aufzuspringen. »Brauchst du etwas? Vielleicht ein kleiner Imbiss? Ich könnte ein paar Nussbrote bringen lassen? Oder Algenkekse?«
Der Hüne stellte sich hinter die Sitzgarnitur, während der Eulensatyr neben der Tür Aufstellung nahm.
»Du musst dich nicht bemühen.« Die Nerven in Arins Bein zuckten und er streckte sich.
»Wie meinst du das?«
»Du bist freundlich und aufmerksam. Dir ist es wichtig, dass ich mich wohl fühle, damit ich die schlechte Nachricht besser verkrafte. Aber das brauchst du nicht. Ich kenne sie schon.«
»Du weißt, dass du vergiftet wurdest?«
»Was? Nein, ich spreche vom Tod meiner Schwester.«
»Aber Nurise ist gar nicht tot.«
Sumses Worte sickerten in ihn hinein wie kühles Quellwasser. Es dauerte einen Moment, bis er ihre Bedeutung begriff. »Vergiftet?«
Von der Tür her schnalzte Crispein mit der Zunge. »Ich glaube, ihr redet aneinander vorbei.«
»Ach, wirklich? Wäre mir gar nicht aufgefallen.« Sumses Stimme triefte vor Sarkasmus. Dann wandte sie sich wieder Arin zu und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Arin?«
»Ich verstehe nicht ...« Tief sog er die Luft in seine Lungen. »Was ich meine - deine Worte ergeben keinen Sinn.«
»Entschuldige.« Sumse nahm ihre Hand zurück und verschränkte die Arme. Nachdenklich verzog sie ihren Mund. »Auf unserer Verlobungsfeier gab es einen Anschlag. Du wurdest vergiftet.«
»Ich? Aber ich spüre nichts.« Obwohl, stimmte das überhaupt? Zahllose Momente tauchten vor seinen Augen auf. Der sensible Geruchssinn, die getrübte Sicht, die Kälte, die ihn ständig plagte - das alles ergab auf erschreckende Art plötzlich Sinn. Wie zur Bestätigung zogen sich die Nerven in seinen Beinen zusammen. Hatte er sich durch den Gang überfordert oder war dies ein weiteres Symptom? »Warum ich?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Vielleicht war es Zufall. Vielleicht wollte man die Allianz unserer Häuser verhindern, ohne dazu direkt eine Nymphe zu verletzen.«
Natürlich. Wen interessierte schon ein Satyr mehr oder weniger. »Warum lebe ich dann noch?«
»Der Attentäter wollte ein langsam wirkendes Gift nutzen, damit kein Verdacht auf ihn und seine Gruppierung fällt. Der einzige Zugang, den er besaß, war eine Jadehexe, von der er das Gift des Rotbauchteichlings stahl.« Sumse beugte sich vor und umschloss Arins Hände mit ihren. »Entweder er hat es falsch dosiert, oder dein Körper besitzt eine natürliche Resistenz, daher wirkt es bei dir wohl verzögert.«
Die Gedanken rasten durch Arins Kopf, während sein Bein immer stärker zuckte. »Du sagtest das Nuf lebt. Wie kann das sein. Sie wäre doch hier, wenn das alles stimmt. Niemals würde sie die Goldwachen oder die Königin im Stich lassen.«
»Nicht einmal, um ihren Bruder zu retten?«
Arin riss die Augen auf.
»Nurise hat Aristea verlassen, um die Zutaten für ein Heilmittel zu besorgen. Sie hat mir geschrieben.« Mit einer Hand griff sie sich in die Tasche und holte einen winzigen Zettel heraus.
Seine Finger zitterten, als er danach griff. Dort, unverkennbar in der Ecke, prangte das persönliche Zeichen seiner Schwester. Die Aufregung zog ihn auf die Füße. Nurise lebte!
Gleichzeitig gab sein Bein nach. Die Nervenenden zuckten und die Muskeln zogen sich zusammen. Arin schrie. Der Schmerz peitschte durch ihn hindurch und hörte erst auf, als ihn sanftes Dunkel umfing.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top