44. Wach
Durch das Fenster schien das Licht der Silberranken zu ihm hinein und tanzte über Arins Bettdecke. Ein wilder Wind fuhr durch Areas Gassen, klopfte an die Fenster und ließ die Dachschindeln wackeln. Es war eine Nacht die wie geschaffen dafür war, zu leben.
Arin bewegte sich nicht. Warum war er nicht gestorben?
Auf dem Nachttisch stand ein Teller mit kalten Waffeln, die sein Vater vor mehreren Kerzen zu ihm hinauf getragen hatte. Seine Mutter hatte er seit dem Aufwachen nicht gesehen, aber wer konnte es ihr schon verdenken.
Jetzt, wo er mit seiner größten Sorge konfrontiert wurde, kam sie ihm lächerlich und klein vor. Natürlich hatte er seine Eltern blamiert und seinem Haus die Chance auf einen höheren Status verwehrt, aber er war immer noch ein Satyr gewesen. Ein normaler Mann, der normale Dinge tun konnte.
Die Decke verrutschte und offenbarte den Verband, der die Überreste seines Fußes in Form hielt. Sein Arzt war beinahe euphorisch gewesen, als er ihm versicherte, dass er zumindest humpelnd wieder laufen konnte.
Arin biss die Zähne zusammen, bis sein Kiefer schmerzte. Laufen. Was interessierte ihn das Gehen, wenn er nie wieder die Kraft der Musik spüren würde. Keine Drehungen, keine Sprünge - sein Körper funktionierte nicht mehr. Er funktionierte nicht mehr.
Mit einem Ruck setzte Arin sich auf, beugte sich vor und versuchte, den Vorhang vor das Fenster zu ziehen. Beinahe konnte er den Stoff spüren, aber er kam nicht ran. »Schlickschwarzflüglerschweif«, fluchte Arin. Seine Flügel spannten sich auf, als ob sich ein kleiner Teil von ihm Erleichterung verschaffen wollte. Aber es gab keine Flucht vor einem Krüppelfuß. Sie waren nutzlos, genauso nutzlos wie er.
Schweiß trat auf seine Stirn. Die freie Hand drückte an sein Kopfteil und endlich konnte er den Vorhang. Ring um Ring wanderte über die Stange, bis nur noch ein kleiner Streifen aus Licht übrig blieb, der ausgerechnet seinen Fuß anstrahlte. Der Lachende Gott hatte kein Einsehen.
Arin warf sich nach vorne, riss am Vorhang und die Holzstange rutschte aus ihrer Verankerung. Ohne ihn zu treffen rauschte sie an ihm vorbei und landete mit einem Knall auf dem Fußboden.
Hinter seiner Stirn pochte es, ein Trommelwirbel aus Wut und Enttäuschung. Arin drehte sich um, blendete das Chaos aus und brüllte in sein Kissen.
»Arin?« Die Stimme seines Vaters durchbrach seine Gedanken.
Arin hob seinen Kopf ein Stückchen und drosselte seine verzerrten Atemzüge. »Vater?«
»Ist alles in Ordnung? Ich habe Lärm gehört.«
Wie sollte er erklären, dass nichts mehr in Ordnung war? Nie mehr in Ordnung kommen würde. Was war das auch für ein Word - Ordnung? »Das Licht hat mich am Schlafen gehindert. Es tut mir leid.«
Sein Vater ging um das Bett herum und die Matratze senkte sich neben seinen Knien. »Ist schon gut. Ich kümmere mich gleich darum.«
»Das brauchst du nicht.« Niemand sollte durch seine eigene Ungeschicklichkeit leiden.
»Ich würde es gerne tun.« Eine Hand legte sich auf Arins, tätschelte die Glieder, bevor sein Vater aufstand und den Schaden inspizierte. »Kein Problem. Ich werde nur die Stange wieder verankern, das ist schnell getan.«
Arin schwieg.
Sein Vater ging hinaus um seine Werkzeuge zu holen, während Arin sich weiter in seinem Kissen versteckte. Der Duft nach Nachtmohn und Orialla hüllte ihn ein. Schon früher hatte sein Vater die Kissen behandelt, wenn er nicht schlafen konnte. Es wäre so einfach, wieder in die traumleeren Schwärze seines Geistes zu entkommen. Schritt ertönten, bewegten sich um das Bett herum und das Gewicht des Vorhanges verschwand. Die Stange schlug Gegen den Bettpfosten, aber abgesehen von einem tiefen Brummen sagte sein Vater nichts.
Mit einem Seufzen drehte sich Arin um und schob das Kissen zur Seite. Sein Vater stand auf einem Hocker und schlug eine neue Wurzelkralle in die Wand.
Obwohl sein Vater kein Talent für Musik besaß, glich das Hämmern beinahe den Klängen der Ashita. Tief und Einhüllend. Arin biss die Zähne zusammen.
Die Schwanenfeder seines Vaters lagen eng an, als versuche er ihnen möglichst wenig Platz einzuräumen. »Geschafft.«
Arin zog die Decke höher und entblößte damit seine Beine. Ein kalter Lufthauch stich über ihn. Hatte sein Vater das Fenster geöffnet?
Aber der ältere Satyr drehte einen Hammer zwischen seinen Händen und bewegte sich nicht. Der Vorhang hing still, verbarg die Nacht.
Mit dem gesunden Bein trat er gegen die Decke.
»Stimmt etwas nicht?«
»Nein«, zischte Arin. »Alles ist wunderbar. Grandios.« Die Haare an seinen Schenkeln richteten sich auf. Es klappte nicht.
Sein Vater zog wortlos die Decke zurecht, bevor er sich auf den Bettrand setzte.
Doch es half nicht. Arins Zähne schlugen aufeinander und er biss sie zusammen, um keine Geräusche von sich zu geben. Warum war es nur so kalt?
»Ich muss dir etwas sagen«, begann sein Vater. Ein Gewicht legte sich auf Arins Bein, als sein Vater die Hand ausstreckte.
»Ich will es nicht wissen.«
»Arin!« Bei dem grimmigen Tonfall seines Vaters fuhr er zusammen. Selbst der sanftmütige Mann verlor die Geduld mit ihm.
»Verzeih.« Arin schluckte und sah seinem Vater ins Gesicht. Die Züge des Älteren sahen traurig aus, beinahe verhärmt. »Ich fühle mich nicht gut.«
Die Schwermut in den Augen des Vaters wurde durch einen Funken unterbrochen. »Du musst. Leider.«
Unter der Decke begann sein gesundes Bein zu zittern, das andere war taub. Wie sein Inneres. »Verstehe«, flüsterte Arin.
Jetzt, wo er sprechen konnte, schwieg sein Vater. Er atmete einmal ein, dann noch ein zweites Mal. Eine Träne tropfte an seiner Wange entlang, suchte sich einen Weg vorbei an Falten und Bartstoppeln. Schließlich richtete sich der Ältere auf. »Es gab einen Vorfall. Das Gasthaus deiner Schwester ist abgebrannt.«
Eine kalte Hand griff nach Arins Herzen. »Und Nuf?«
»Sie hat es nicht heraus geschafft.«
Seine Wadenmuskeln zogen sich abrupt zusammen. Arin schrie auf, als der Schmerz ihn erreichte. Dunkelheit trat vor seine Augen.
»Was ist los?« Das Gesicht seines Vaters schob sich vor Arin. »Sprich zu mir!«
Aber er konnte nicht reden.
Schritte erklangen, als sein Vater das Zimmer verließ. Für einen Kerzendocht war Arin alleine. Er atmete in den Schmerz, versuchte sich nicht zu bewegen und Welle um Welle zu verdrängen.
Nach einer Ewigkeit kehrte sein Vater zurück, in Begleitung von Medica Schikse. Die hagere Frau beugte sich über ihn, runzelte die Stirn und packte schließlich beide Beine.
Ein reißender Schmerz. Die Medica drückte seine Fußsohlen das Gefühl verblasste.
Arin drehte sein Gesicht zur Seite und atmete den beruhigenden Duft des Kissens ein. Schließlich konnte er sich wieder bewegen.
»Was war das?«
Die Medica stich sich eine hellblonde Strähne hinter das Ohr und griff nach ihrer Lupe. Schweigend musterte sie ein Auge nach dem Anderen, hörte ihn ab und tastete seine Beine ab.
»Und?« Sein Vater zog an seinen Fingerknöchel.
Mit geschürzten Lippen musterte ihn die Medica. »Schwer zu sagen.« Sie zögerte. »Die Symptome passen nicht zusammen.«
»Was soll das heißen, 'passen nicht zusammen'?«
Sie tippte sich an die Unterlippe. »Nun, nach einer solchen Verletzung wäre ein Druckschmerz zu erwarten gewesen. Aber derart starke Krämpfe sind unüblich.«
Arins Zähne klapperten. »Was ist mit eisiger Kälte. Passt das?«
Medica Schikse beugte sich vor und strich sanft über Arins Stirn. »Nein, das kenne ich auch nicht. Merkwürdig.« Mit einem Satz, der ihren alten Körper Lügen strafte, sprang sie zurück. »Nein. Ich muss gehen. Zuhause habe ich ein paar Bücher, in denen ungewöhnliche Krankheiten abgebildet sind.« Erst im Türrahmen drehte sie sich um. »Falls ich etwas finde, lasse ich es euch wissen.«
Die Stufen knarrten, als Medica Schikse nach unten eilte. Arin blieb mit seinem Vater zurück. »Vielleicht hat mein Körper auch nur auf die Nachricht reagiert.«
Diese Erklärung sorgte bei seinem Vater für ein tieferes Stirnrunzeln. »Vielleicht. Es tut mir leid, Sohn.«
»Nuf hat immer gesagt, dass der Dienst in der Garde gefährlich sei. Sie hat versucht, mich vorzubereiten.«
Über dem Bett hing ein Mobile, dass er mit vor als Kind gebastelt hatte. Nuf hatte die Figuren gehalten, während er sie ausgeschnitten hatte. Es waren Raben, die mit ausgebreiteten Flügeln durch die Luft zu gleiten schienen. Arin hatte die Bastelei lange nicht mehr angesehen, aber jetzt wurde sein Blick förmlich angezogen.
»Ich sollte dir wohl noch sagen, das die Ehrwürdige Sumse Weidensang nach dir suchen lässt.«
»Was?«
»Deine frühere Verlobte.« Vor Arins Fenster ertönte der Schrei eines Käuzchens.
»Ich weiß, wer sie ist.« Arin schüttelte seinen Kopf und klärte seine Gedanken. »Warum sucht sie mich?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Du wirst sie selber fragen müssen.«
Warum auch nicht? Arin konnte genauso gut sein zukünftiges nutzloses Leben damit verbringen, die Fehler seiner Vergangenheit auszubügeln. Es wäre keine schlechte Idee, bei Sumse zu beginnen.
Als Arin die Anziehung seiner Raben abschütteln konnte, war der Platz neben dem Bett leer.
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