43. Palao

Das erste, was Dain wahrnahm, waren die schwankenden Bewegungen von Motti. Erst danach wurde er sich des weichen Körpers bewusst, der sich an seinen Rücken presste.

Sein Kopf brummte, als hätte er zuviel Blauwein getrunken. Unter ihm breitete sich die monotone Landschaft der Wüste aus. Düne um Düne, die genauso aussahen, wie die vorangegangene. Wo war er?

Etwas blitzte in seiner Erinnerung. Ein weit geöffnetes Maul. Ein Kopf, der herunter saust. Sein Mund war trocken. Die Schlange.

»Hey, du bist ja wach.« Smillas Stimme ertönte hinter ihm und eine Hand legte sich auf seine Schulter.

Er wollte sich aufrichten, scheiterte jedoch an den Seilen, die ihn am Flugsatten festbanden. Seine Bewegungen irritierten Motti, die einen heiseren Schrei ausstieß.

»Ruhig, Dain«, rief das Mädchen, während der Druck ihrer Hand sich verstärkte. »Komm erst einmal zu dir. Wir haben dich festgeschnallt, damit du nicht ausversehen runterfällst.«

Wir? Sein Kopf ruckte zur Seite und richtig - dort flog die Eisfeder auf ihrer Libelle und nickte ihm grüßend zu. Sie lächelte.

Sein Magen rumorte und er war sich nicht sicher, ob es die unerwartete Begrüßung oder ein Luftloch verursacht hatte.

Er drehte sich weiter um und konnte ein Teil von Smillas Gesicht sehen. »Geht es ihr gut?«, fragte er. Eines der Seile verschob sich zu seinem Hals und würgte ihn.

Ihre dunklen Augen blitzten. »Besser als dir, würde ich sagen.« Sie schob seinen Kopf zurück und Dain konnte wieder leichter atmen.

»Wir haben gewonnen?«

Smilla zögerte. »Nun, irgendwie nicht.«

Ihre Antwort machte keinen Sinn. »Wir haben verloren?«

Eine Windböe wirbelte Staub auf, so dass er seine Augen zusammen kneifen musste. Smilla schwieg, als müsste sie erst die richtigen Worte suchen.

Die Landschaft unter ihm veränderte sich. Die Dünen flachten ab und machten Platz für Schotter und Steine. In der Ferne sah er ein blaues Band am Horizont. »Wo fliegen wir überhaupt hin?«

Smilla beugte sich vor, so dass ihn ihr Oberkörper striff. Mit ihrer Hand deutete sie auf einen der Felsen, die sich vor ihnen erhoben.

»Schau, dort ist Palao, die Hauptstadt von Kantaa.«

Je weiter Motti flog, desto mehr Details erkannte er. Um den großen Stein wuchsen Palmen und Büsche, ein sicheres Zeichen, dass es dort irgendwo Wasser gab.

Sie folgten der Libelle, die in einem weiten Kreis um den Felsen kreiste. Auf der dem Meer zugewandten Seite standen flache Häuser, dicht an dicht. Ihre helle Farbe fügte sich harmonisch in die Umgebung ein, so dass die Stadt beinahe mit dem Untergrund verschmolz.

»Ansonsten würde ich sagen, dass wir weder gewonnen, noch verloren haben. Die Schlange und die Eisfeder waren fast gleich stark. Aber das ist ja auch gar nicht wichtig«, erklärte Smilla schließlich.

»Ist es nicht?«

»Nein. Sieh mal, dort hinter Nurises Sattel? Da ist die abgelegte Haut der Schlange.«

»Abgelegt?«, wiederholte Dain verwirrt. Je mehr Smilla berichtete, desto weniger verstand er davon.

Sie seufzte. »Die Schlange hat immer gewusst, was wir gerade vorhatten. Ich hatte auch keine Chance. Schließlich hat sie mich so hart getroffen, dass ich für einen Moment weg war. Als ich die Augen geöffnet habe, sah ich die Schlange verschwinden und Nurise kam mit der Haut den Hügel hinauf. Sie sagte, dass sie sich geeinigt hätten, was auch immer darunter zu verstehen ist.«

Natürlich hatte sie das. Dain fuhr mit der Zunge über seine spitzen Zähne. Die Nymphe war ihm unheimlich. Das war beileibe nichts, was ihm oft widerfuhr und, beim lachenden Gott, er würde es sich auch nicht anmerken lassen, aber es war schwer, keinen Respekt für sie zu empfinden. Wenn jemand wie sie auf seiner Seite gestanden hätte, wäre seine Rebellion ganz sicher nicht gescheitert.

Der Wind wurde stärker, je tiefer sie sanken. Sie landeten auf einer kleinen Wiese vor, die mit einer Steinmauer vor den Unbillen der Wüste geschützt wurde. Eine kleine Frau, deren Gesicht mit einem Tuch geschützt war stürmte auf sie zu und stieß einige wütend anmutende Worte aus, die Dain jedoch nicht verstand.

Smilla schnürte ihn los, kletterte von Mottis Rücken und hob beschwichtigend beide Hände. Dann antwortete sie der Frau, ähnlich schnell doch wesentlich ruhiger.

Vorsichtig glitt Dain von Mottis Rücken und streckte seine Flügel aus, um das Gleichgewicht zu bewahren.

Die fremde Frau stieß einen Schrei aus und ihre Hände formten merkwürdige Zeichen. Als ob ein Lehrer Buchstaben in der Luft formte, allerdings keine, die Dain hätte zuordnen können. Doch Smilla hatte die Situation im Griff. Mit einem Lächeln hakte sie sich bei der Unbekannten ein und führte sie ein paar Schritte zur Seite.

»Die Kantaanarin hat ein gutes Bauchgefühl.« Die Eisfeder war hinter ihn getreten. »Du hast noch keinen Satz gesagt und sie schon zum Schreien gebracht.«

Dain merkte, wie sich seine Laune hob. »Neidisch?«

Sie lachte. »Wahrscheinlich schon.«

Ihre Ehrlichkeit brachte Dain zum Schmunzeln. Die Eisfeder taute langsam auf.

In der Zwischenzeit hatte Smilla in ihren Geldbeutel gegriffen und ein paar Münzen wechselten den Besitzer. Mit einem breiten Grinsen kehrte sie zu ihnen zurück.

»Zahira ist glücklich, dass wir auf ihrer Eshiba gelandet sind und bietet uns einen Platz in ihrem Stall an. Also, Motti und Lisbet.«

Dain warf einen zweifelnden Blick zu der verhüllten Gestalt die sie missmutig über den Rand des Schleiers musterte. Mit einem Schulterzucken schob die Frau für einen Moment ihre Hände vor die Augen, bevor sie schließlich ging.

»Kommt schon!« Smillas Begeisterung war beinahe greifbar. Gemeinsam brachten sie die beiden Flugtiere in den Stall, dann zog das Mädchen sie schon in Richtung des Torbogens. »Ich liebe diese Stadt. Die Bewohner hier sind so ganz anders als die Rudel im Norden. Falk zieht die anderen Märkte vor, aber ich liebe es, wenn wir die kalte Jahreszeit hier verbringen.«

Sie folgten Smilla durch eine schmale Gasse, die hinauf auf den Felsen zu führen schien. Die Häuser standen so dicht aneinander, dass zwischen ihnen Wäscheleinen gespannt waren. Ab und an lag ein Brett zwischen den Dächern, um eine Passage oberhalb der dichten Gänge zu ermöglichen. Je weiter sie in die Stadt vordrangen, desto mehr Bewohner hetzten durch die Gassen. Die meisten trugen dichte Tücher auf ihrem Kopf, die wohl dazu dienten, den Sand abzuhalten. Sand, den Dain mittlerweile auch überall am Körper spürte. Überall schien er hineinzukriechen, so dass es schwierig wurde, ein Kratzen zu vermeiden.

Schließlich hielt Smilla vor einer Mauer an. Dort befand sich eine massive Holztür, die mit einem Sichtfenster versehen war. Das Mädchen klopfte gegen das Holz, zweimal kurz und dreimal lang. Auf der anderen Seite erklangen Schritte. Das Sichtfenster wurde geöffnet und eine Gestalt schaute zu ihnen hinaus. »Ween neem ja mie?«, fragte eine kratzige Stimme.

Smilla schob eine Hand über die Augen, bevor sie das Wort ergriff. »Zee nija zwee Vrienden.« Der Satz klang merkwürdig, als ob Smilla beim Sprechen auf etwas herumkauen würde.

Die Gestalt auf der anderen Seite der Tür zögerte, bevor sie ihnen öffnete. Hinter der Mauer erwartete sie eine Art Garten. Doch wo er sattes Grün und Bäume gewohnt war, wuchs hier nur blasses Gras und ein paar Palmen. Doch dazwischen entdeckte er einige leuchtende Blumen, deren violette und goldene Farben einen interessanten Kontrast zum umgebenden Sandstein boten.

Der Mann versteckte seine Augen hinter seinen Händen, dann drehte er sich um und eilte in ein angrenzendes Haus.

»Ich kenne Osayi schon seit ein paar Jahren. Sie wird wissen, wo wir das Vampyrblut kaufen können«, erklärte Smilla fröhlich.

Dain kratzte sich über das Kinn. Irgendwie bezweifelte er, dass irgendetwas an dieser Reise einfach werden würde, aber vielleicht sah der lachende Gott das ja anders.

Die Tür des Hauses öffnete sich und drei Personen traten heraus. Der Türsteher verbeugte sich, dann kehrte er zu seinem Platz zurück. Eine kräftige Frau trat hinaus, dicht gefolgt von einem Diener, der einen Sonnenschirm über sie hielt. Sie breitete ihre Arme aus und ging mit einem breiten Lächeln auf Smilla zu. Noch bevor sie das Mädchen erreichte, purzelten viele schnelle Worte über die vollen Lippen der Frau - zu schnell, als das Dain irgendetwas hätte verstehen können. Smilla schloß die Augen, dann wurde sie in eine feste Umarmung gerissen.

»Meine Freunde sprechen kein Kantaa. Wäre es möglich, dass wir die Gemeinsprache nutzen?«, fragte das Werwolfmädchen. Ihre Nase zuckte, als ob sie an der fremden Frau schnüffeln würde.

»Selbstverständlich.« Mit flinken Blicken musterte die Frau Dain und die Eisfeder. »Verzeiht mir, Evremdis, mein Name ist Osayi bel Sadin. Ich bin die Minnare dieser Pallea.«

Der schwere Akzent machte es schwer, die Frau zu verstehen. Dain blinzelte. In ihm wuchs das dringende Bedürfnis nach einem Glas Wein. Auch wenn es kaum vorstellbar erschien, hier ein kühles Glas Aristeaner Blauwein zu bekommen. Benommen trat er einen Schritt zurück.

»Bei der güldenen Windsbraut, danke für Eurer Entgegenkommen.« Das Lächeln der Eisfeder wirkte dankbar. Für einen Moment schien sie die Last ihrer Sorgen abzuwerfen. »Wir sind auf einer dringenden Mission, erlaubt mir, ein Anliegen an Euch zu richten.«

Dains Kopf fing an zu pochen. Der staubige Innenhof verschwand und machte einem anderen Ort Platz. Vor ihm drehte ein grauhaariger Lehrer seine Runden. »Für einen Sproß des Hauses Funkenschlag seid Ihr zu Ungestüm, junger Dain. Ihr werdet lernen müssen, Euch zurückzunehmen und...«

Die Lektion stahl sich aus seinem Kopf und wurde wieder zu einer blassen Erinnerung. Der Drang zu trinken war übermächtig.

»...auf der Suche nach einer seltenen Zutat«, erklärte die Eisfeder gerade. »Vampyrblut.«

Die Züge der Minnare versteinerten und die Farbe wich aus den gebräunten Wangen. »Nun, für den richtigen Preis wird sich bestimmt ein Meestrea finden, der seinem gebundenen Geschöpf ein paar Tropfen entnimmt. Jedoch muss ich warnen, dass es ein eher pietätloses Anliegen ist.«

Smilla legte den Kopf schief. »Warum, Osayi? Ich dachte die Blutbindungen sind normal für Vampyre?«

»Es ist immer die Beziehung zwischen Meestrea und Vampyr, die durch das Blut des Vampyres begründet und durch den Eid des Meestreas gehalten wird. Mit jedem Dienst gewinnt der Vampyr an Farbe, bis sein Handel abgeschlossen ist und er wieder Freiheit erlangt«, erklärte die Minnare zögerend.

»Wir brauchen das Blut eines freien Vampyrs.« Die Eisfeder lehnte sich in ihrem Stuhl nach vorne, während sie ihre Arme vor der Brust verschränkte.

»Das wird ein unmögliches Anliegen sein«, murmelte die Minnare.

Dain trat einen Schritt zurück, dann einen weiteren. Ein Diener trat aus dem Hauseingang und trug ein Tablett mit Kanne und Tassen zu den Frauen. Niemand schien darauf zu achten, dass er sich aus der Unterhaltung zurückzog.

Nun, wenn es der Eisfeder auffiel, könnte sie ihn ja rufen. Sie hatte mit dem Armband ja alle Möglichkeiten, um ihn aufzuspüren. Immer weiter entfernte er sich von dem Tisch. Mittlerweile konnte er die leisen Worte nicht mehr verstehen, die dort gesprochen worden.

Der Türsteher schaute ihn über seinen Schleier hinweg an. Irrte er sich, oder war der Blick aus den grauen Augen irgendwie mitleidig?

»Gibt es hier irgendwo eine Taverne? Einen Ort, an dem man gut essen und trinken kann?« Dain schluckte. »Vor allem trinken.«

Der Mann nickte und feine Linien vertieften sich in seinem Gesicht. Mit zwei Fingernd deutete er erst über Dains Schulter und dann die Straße hinunter. Seine braunen Augen zwinkerten, als er ihm die Tür öffnete.

Ohne sich noch einmal umzudrehen, wanderte Dain die Gasse hinab. Der Staub kratzte über seine Haut, hatte sich irgendwie einen Weg durch seine Kleidung gesucht. Ein heißer Wind spielte mit seinen Haaren und ließ die Wäscheleinen über ihm tanzen. Schließlich erreichte er eine Kreuzung. Wohin sollte er sich wenden. Hätte der Kerl nicht genauer sein können?

Dain kniff seine brennenden Augen zusammen. Irgendwo hier musste es doch eine Spelunke geben. Dann sah er es.

Über einem unscheinbaren Hauseingang war eine stilisierte Feder in den Sandstein geritzt. Jemand hatte schwarze Farbe über das Abbild gemalt, die dem Wind und der Sonne aber nicht standhalten konnte. Nur noch an wenigen Stellen klebten noch letzte Partikel.

Mit einem zufriedenen Grunzen stieß er die Tür auf.

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