33. Schuppendieb

Dains Atem pfiff durch den schmalen Gang, obwohl er sich die größte Mühe gab, seine Geräusche zu verbergen. Es war so heiß. Heiß und stickig. Von seinen Verfolgern hörte er nichts, aber das hatte nichts zu bedeuten. Die elenden Dramären hatten schnelle Reflexe.

Vor ihm türmte sich ein Berg aus Schutt auf. Kleine Steine rollten herab, als er sich seinen Weg entlang suchte. Hinter ihm ertönte ein fragendes Pfeifen. Man hatte ihn gehört. Dain breitete die Flügel aus, um mehr Balance zu erhalten. Die Spitzen stießen gegen die Wände und er konnte sein Tempo erhöhen. Auf der anderen Seite rutschte er hinab. Heimlichkeit war nicht mehr wichtig, es kam jetzt alleine auf Geschwindigkeit an. Die Schuppe in seiner Hand pulsierte, als ob sie ein eigenes Leben führen würde. Sie schimmerte weiß, doch immer wieder tauchten farbige Schlieren auf. Mal dunkles Blau, mal leuchtendes Grün. Stolpernd erreichte er wieder festen Boden. Vor ihm öffnete sich der Gang in eine Höhle. Überall ragten Steinsäulen nach oben und bildeten ein natürliches Labyrinth.

»Staub und Asche«, fluchte Dain leise. Auch wenn er in der Dunkelheit besser sehen konnte als Nymphen, war er doch kein Gegner für Dramären. Wie sollte er das nur überstehen? Weitere Pfiffe ertönten hinter ihm. Dieses Mal waren sie deutlich näher. Er dürfte sich hier nicht allzu lange aufhalten, irgendwo verbarg sich ein Ausgang. Spontan entschied er sich für die Mitte und suchte sich einen Weg zwischen den Hindernissen entlang. Diesmal legte er seine Flügel nah an den Rücken. Zwischen seinen hektischen Atemzügen hörte er ein Kratzen. Es klang, als ob jemand einen Nagel über eine Tafel zog. Oder, was wahrscheinlicher war, als ob lange Krallen über einen Steinboden glitten.

Dain erreichte eine Stelle, die auf den ersten Blick einer Sackgasse glich. Die Säulen stießen eng aneinander. Doch in der Mitte war ein Durchlass. Schmal, bestimmt zu schmal für die elenden Echsen. Ohne lange darüber nachzudenken sprang Dain hoch. Er griff nach einer Säule. Ein wütendes Zischen. Fast spürte er den Atem seiner Verfolger im Nacken. Eines war sicher, er würde bestimmt nicht hier sein Ende finden, ohne der Eisfeder gesagt zu haben, wie staubdämlich ihr Plan gewesen war. Mit aller Macht pumpte er die Luft aus seinen Lungen. Zwischen den Säulen fühlte er sich wie ein Korken, den jemand mit Gewalt in eine Flaschenöffnung stopfte. Er verschwand langsam zwischen den Säulen, den Kopf immer in Richtung der Dramären gerichtet. Sein linker Flügel riss. Es brannte fürchterlich, auch wenn er aus Erfahrung wusste, dass es nichts schlimmes war. Das Fortkommen war kräftezehrend. Seinen Kopf konnte er in der Enge nicht bewegen. Wie weit reichte denn dieser elende Durchlass nur? Oja, er würde ihr seine Gedanken hierzu mitteilen. Von wegen, einfaches Anschleichen. Die Biester waren hochintelligent und sofort aufgewacht, als er eine der Schuppen gelöst hatte. Ohne die Notfallkugel, die Smilla ihm mitgegeben hatte, wäre ihm die erste Flucht schon nicht gelungen. Eine mit langen Krallen bedeckte Hand schob sich in sein Sichtfeld. Sie war größer als sein Kopf. Einerseits natürlich einschüchternd, andererseits aber auch etwas, das ihn beruhigte. Sie passte nicht durch den Schlitz.

Endlich erspürte seine Hand eine Öffnung. Seine Finger umklammerten den Rand und er zog. Die Hand in seinem Sichtfeld verschwand. Wieder pfiffe und es war klar, dass die Viecher nicht aufgegeben hatten.

Dain taumelte zwischend den Säulen hervor. Für eine Bestandsaufnahme blieb keine Zeit, daher stürmte er weiter. Ein Rauschen vor ihm lenkte ihn ab. Eine Dramäre? Nein, es war ein regelmäßiges Geräusch. Er hielt darauf zu. Die Luft wurde nicht kühler, aber feuchter. Ein Dunst, der vor ihm auftauchte. Irgendwo hier musste Wasser sein. Die Steine wurden rutschiger. Schlitternd kämpfte er sich weiter. Er ignorierte die Pfiffe hinter sich. Es half ja nichts. Das Loch im Boden tauchte so schnell auf, dass er beinahe hereingefallen wäre. Wieder brauchte er seine Flügel, um nicht den Halt zu verlieren. Das war seine Rettung? Ein Loch?

Pfeifendes Gelächter. Dain drehte sich um. Im Dunst tauchte eine massige Gestalt auf. Dann eine zweite. Ihre Augen leuchteten blutrot. In seinem Volk bedeutete das nichts gutes und es würde ihn sehr überraschen, wenn es bei den Echsen anders wäre.

»Nun, kleiner Bruder«, zischte einer der Beiden, »hast du gefunden, was du suchst?«

Es dauerte einen Moment, bis Dain begriff, dass die Echse ihn meinte. »Natürlich könnte ich meine Mutter fragen, aber ich bezweifle irgendwie, dass wir verwandt sind.«

Die erste Dramäre trat näher, während sie ein hohes Fiepen von sich gab. Ein Lachen? Langsam konnte Dain Details erkennen. Sein Verfolger war groß, er selbst reichte ihm gerade einmal bis zu dem unteren Teil des Körpers, der wahrscheinlich den Brustkorb verbarg. Die Haut war mit gold glänzenden Schuppen besetzt. Darüber war blaue Tinte verspritzt, ein Überbleibsel von Smillas Notkugel. Die Schnauze der Echse verbarg messerscharfe Zähne. Auch wenn sie tatsächlich ein wenig an seine eigenen erinnerten, so waren sie länger als Finger. Die Echse ging aufrecht und zog dabei einen kräftigen Schwanz hinter sich her.

Von der Seite her trat eine zweite Dramäre näher. Dain erkannte blutrote Schuppen und Tintenschlieren auf Brust und Hals. »Ihr seid uns ähnlicher als den Nymphen, kleiner Feender. Wir blicken auf eine gemeinsame Abstammung zurück, doch während wir uns entwickelt haben, seid ihr verkümmert.«

Dain trat einen Schritt zurück, bis seine Füße an den Rand des Loches stießen. »So sehr mich das alles interessiert, und das tut es wirklich«, log er mit einem Lächeln, »bedeutet das jetzt, dass wir ein Fässchen Blauwein teilen und Familiengeschichten austauschen?«

»Wohl kaum.« Die goldene Dramäre schnaubte. »Wir mögen eure Art nicht.«

Dain zuckte mit den Achseln. Das tat niemand. »Naja, so richtig beliebt seid ihr auch nicht.«

Die zweite Dramäre stieß einen Pfiff aus, der seine Ohren klingeln ließ. Weiteres Fußtrappeln ertönte als Antwort. Mit einer Kralle über die roten Schuppen auf seiner Brust. Die blaue Tinte bröckelte unter der Berührung. »Abgesehen davon hast du uns bestohlen.«

Die Schuppe in seiner Hand fühlte sich warm an. »Wenn ich gewusst hätte, dass ich nur hätte Fragen brauchen...«

»Das hätte nichts geändert«, fauchte die goldene Echse. Sie schien reizbarer zu sein als die rote. »Wir töten Eindringlinge!«

Dank der Wärme war sein Energievorrat aufgefüllt. Er zog so viel es ging in sein Feensprech. »Lasst mich gehen

Sein roter Verfolger schnalzte nur und trat einen Schritt näher. »Deine kleinen Tricks funktionieren hier nicht.«

Das wäre wohl auch zu einfach gewesen. »Schade«, erklärte er. Damit blieb also nur noch Plan B. In diesem Moment spürte er mehr als Wut. Nicht auf die Dramären, nicht mal auf die Eisfeder oder den Ring, der ihn an sie band. Wenn der elende Wieselsatyr nicht ausgerechnet ihn in seine Machenschaften hineingezogen hätte, würde er immer noch in seiner gemütlichen Höhle für Schutz und Sicherheit sorgen. Hoffentlich hatten die Anderen alles im Griff.

Mit einem freundlichen Lächeln trat er einen Schritt zurück und stürzte durch das Loch nach unten. Das Wasser umschloß ihn mit einer kalten Umarmung. Obwohl es wahrscheinlich wärmer war als es sich auf seiner erhitzen Haut anfühlte. Das letzte, das er hörte, war das Kreischen der Dramären, dann zog ihn der unterirdische Fluß mit sich fort.

Trotz allem würde er die Eisfeder nicht einfach so davonkommen lassen. Es war ja nicht nur dieser Ausflug in die Höhlen. Der Strom rammte ihn mit einem satten Klatschen gegen ein steinernes Hindernis, das gleich darauf hinter ihm zurückblieb. Der Flug war auch nicht besser gewesen. Während sie selbst mit Smilla und Lore geflogen war, hatte sich Motti mit Falks zusätzlichem Gewicht abgeplagt. Ein weiterer Felsen tauchte auf. Beinahe hätte er die Schuppe verloren.

Am Schlimmsten war aber die Höhenangst der Sirene gewesen. Wer hätte auch ahnen können, dass sich hinter den Vogelattributen ein Mann verbarg, der kotzen musste, wenn Motti beschleunigte. Anstatt die Zeit für ein Schläfchen zu nutzen, hatte ihn der Gestank nach Erbrochenem wachgehalten.

Der Fluss verschwand unter einer massiven Wand. Hoffentlich hatte ihn sein Glück nicht verlassen. Ein tiefer Atemzug, dann tauchte er unter.

Dies war sein drittes Vollbad, seit er die Eisfeder kannte. Die Dunkelheit machte ihn orientierungslos. Sie hatten ihr Lager an einem See aufgeschlagen. Dort hatte er nach der Landung baden müssen, damit ihn der saure Geruch verließ. Dabei hatte er auch den unterirdischen Zufluss gefunden.

Wenn ihm der lachende Gott nicht gänzlich abgeschrieben hatte, würde sein Körper dort rauskommen. Hoffentlich wäre er dann noch am Leben.

Das Bedürfnis zu atmen wurde übermächtig. Der Sog zog an ihm. Nur noch ein Stückchen mehr.

In seiner Verzweiflung begann Dain zu zählen.

Eins.

Zwei.

Drei.

Ein weitere Strömung, kälter als seine, erfasst ihn.

Vier.

Er musste atmen.

Fünf. Da. Ein Ring aus Felsen tauchte auf. Er hüllte sich eng in seine Flügel und schoss hindurch.

Sechs.

Ein Schmerz poppte auf, doch das kalte Wasser trug ihn mit sich fort.

Dann war plötzlich der Sternenhimmel über ihm. Hustend holte er Luft. Spuckte Wasser. Holte erneut Luft. Es war egal, dass er dabei Lärm machte. Der Lachende Gott war ihm gewogen, er hatte überlebt.

Ein Arm hielt seine Mitte, zog ihn durch das Wasser in Richtung Ufer.

Sein Körper schmerzte, als ob ihn ein Berg unter sich begraben hätte. Dain zwinkerte. Oder ausgespuckt.

Ein Gesicht tauchte vor ihm auf. Nasse weiße Haare, in denen sich das Mondlicht fing.

»Dein Auftrag war es eigentlich, die Schuppe zu holen. Von einem Bad war nie die Rede.«

Vielleicht hasste er sie doch ein bisschen.

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