31. Untergrundstraftaten

Der Raum, den seine Schwester nutzte, lag still und verlassen vor ihm. In diesem Teil des Gardentraktes war niemand mehr. Das rege Treiben unter Arin glich einen Wasserstrom, der durch die Erde floß.

Um zu lauschen trat er auf die Tür zu und schob sein Ohr gegen das Holz. Sicher war sicher. Keine Geräusche waren zu hören. Seine Schwester bewahrte einen Ersatzschlüssel in einem falschen Panel neben der Tür auf. Suchend glitten seine Finger über das Holz, bis sie die winzigen raue Stelle fanden, die den Hohlraum markierte. Er drückte. Ein Splitter klappte heraus. Mit den Fingernägeln fuhr er unter ihn, zog und hielt gleich darauf den Schlüssel in der Hand.

Das Schloss öffnete sich ohne Schwierigkeiten. Nuf neigte dazu, während ihrer Abwesenheit ein Haar im Schließmechanismus zu hinterlassen. So sehr er auch suchte, er fand es nicht. Es musste in einem Rille gelandet sein.

Durch das kleine Fenster schien das Licht der Silberranken hinein. Die Nacht senkte sich über Aera. Es wäre ein Fehler, wenn er zu viel Zeit verschwenden würde. Admiral brauchte ihn.

Alles im Raum spiegelte den nüchternen und pragmatischen Charakter seiner Schwester wieder. Der Schreibtisch war penibel ordentlich. Zwei Federn und ein Tintenglas lagen auf einem kleinen Tablett, das er ihr zum vorletzten Geburtstag geschenkt hatte. Ein Stapel Papier wartete darauf, dass ein Bericht oder eine Anweisung darauf notiert werden würde. In einem Umschlag bewahrte seine Schwester Briefpapier auf, das über ihr spezielles Siegel verfügte. Arin steuerte zielsicher die Körbe an, die sich im Regal hinter dem Stuhl befanden. Ganz rechts, neben dem schmalen Fenster fand er die Listen. Auf einer fand er die Wachpläne, auf einem anderen die Regeln zur Unterbringung. Offenbar folgte die Verteilung der Höhlen einem Schema. Er zog einen der leeren Zettel vom Stapel und schrieb die Informationen ab.

Beim Verlassen des Raums zögerte er. Was würde Nuf tun, wenn sie das Haar nicht fand. Würde sie wissen, dass jemand hier gewesen war. Dass er hier eingedrungen war. Bevor er es sich anders überlegen konnte, zupfte er sich ein eigenes Haar aus. Vielleicht konnte es sie täuschen. Vorsichtig klemmte er es zwischen Tür und Spalt, dann eilte er den leeren Gang entlang.

Beim ersten Fenster, das auf eine der Seitenstraßen zeigte, blieb er stehen. Er schob den Riegel zur Seite, kletterte auf die Brüstung und schaute nach unten. Niemand war zu sehen. Arin wusste, dass er sich beeilen musste. Dennoch sprang er nicht alle Tage aus einem Fenster. Ob seine Flügel ihn tragen würden? Er musste es riskieren.

Erst im Sprung konnte er die Flügel ausbreiten. Sie bremsten seinen Fall, dennoch trudelte er hinab. Zwei Flügelschläge brachten ihn wieder nach oben, doch dann prallte er gegen die gegenüberliegende Hauswand und rutschte hinab. Seine Handflächen brannten, doch er hatte es geschafft.

Mauerfuchs begrüßte ihn mit einem Lächeln. Sie stieß einen leisen Pfiff aus, der die anderen aus der Höhle rief.

»Wo ist Koralin?«, fragte Trauermantel. Suchend blickte sie über ihre Schulter, als ob sich der riesige Stiersatyr tatsächlich vor ihr verstecken würde.

»Er hat seinen Bruder getroffen. Ich hätte gedacht, dass er vor mir hier eintrifft.« Arin runzelte die Stirn. Was konnte ihn aufgehalten haben.

Trauermantels Finger trommelten über den schwarzen Stoff ihrer Tunika. »Nun gut. Er wird seine Gründe haben. Was denkt ihr, wie lange sollten wir warten?«

»Nicht länger als eine Kerze«, antwortete Hexe. Sie musterte Arin aufmerksam und er verbarg seine aufgeschürften Handflächen. »Unsere dringendste Aufgabe ist jetzt Admiral.«

Niemand widersprach ihr. Als Koralin auch nach einer Kerze nicht aufgetaucht war, führte Mauerfuchs sie schweigend durch die Höhlen. Sie gingen ein gutes Stück zurück und bogen dann an einem unterirdischen Bach ab. Die Luft war feucht, erfüllt vom Rauschen des Wassers und dem Duft der Algen, die sich auf den Steinen gebildet hatten.

Besonders Berghexe tat sich mit dem rutschenden Untergrund schwer. Immer wieder verlor ihr Fuß den Halt, so dass ihre Schuhe in kürzester Zeit nass waren.

Arin war erleichtert, als die Wände einen höheren Brokatsteinanteil aufwiesen. Sie nährten sich eindeutig den Verließen. Schließlich hörten sie Stimmen, die einen der parallel verlaufenden Gänge entlang liefen. Durch den Hall war es schwierig auf das Geschlecht oder die Anzahl der Sprecher zu schließen. Sie schlichen weiter, immer bemüht, kein Geräusch zu verursachen. Dann machte ihr Gang eine Kurve und die Stimmen wurden leiser und leiser, bis sie ganz verstummten.

Mauerfuchs hielt erst an einer verschütteten Stelle an. Steine in allen Größen und Formen lagen hier übereinander und verhinderten das weitere Fortkommen.

»Krötenschleim«, fluchte Trauermantel. »Was machen wir jetzt?«

Zu seiner Verwunderung lächelte seine Freundin nur. »Klettern.«

Arin folgte ihrem Blick hinauf und entdeckte einen Spalt zwischen den oberen Steinen und der Decke. Der Stiersatyr hätte bestimmt Schwierigkeiten bekommen, aber er und seine drei Begleiterinnen waren weit weniger kräftig gebaut. Mit etwas Glück sollte es passen.

Als erstes zog sich Mauerfuchs an den Steinen nach oben. Sie sah aus, als wäre sie diesen Weg schon häufiger gegangen. Arin setzte seine Füße genauso, wie sie es ihm vormachte. Aus der Nähe betrachtet wirkte die Lücke immer noch sehr schmal. Mauerfuchs schlüpfte hindurch und er hielt die Luft an, während er sich ebenfalls hindurch schob. Es ging sich gerade so aus.

»Woher kennst du diese Gänge so gut?«, fragte Arin, während sie auf die anderen Beiden warteten.

Mauerfuchs zuckte mit ihren Schultern. Auf ihrer Wange hatte sie einen grauen Schmutzfleck, doch ihr Augen verbarg sie wie bisher auch hinter ihrem Vorhang aus Haaren. Sie umklammerte ihre Laterne. »Ich bin hier unten oft unterwegs. Meist für Admiral selbst.«

Hexe rutschte mit dem Kopf voran durch den Spalt. Ihre graue Perücke bleib an einem Stein hängen. Hektisch richtete sich die Nyr auf, zog die Haare hinunter und versuchte ihre eigenen braunen Locken zu verstecken. Mauerfuchs eilte zu ihr und gemeinsam richteten Hexe wieder her. Arin versteckte ein Lächeln. Es war nicht wichtig, wie sie aussahen. Beide hatten wunderschöne Herzen und bedeuteten ihm viel.

Einige Steine kullerten herab, als schließlich Trauermantel ihren Weg durch den Spalt suchte. Arin richtete sich auf, um ihr zu helfen. Sie reichte ihm das zweite Licht herab und sprang das letzte Stück nach unten. Dann standen sie zu viert in einer kleinen Höhle. Die Wände glühten im Schein der Laternen.

»Seid ihr bereit?«, fragte Trauermantel. Sie waren es nicht, doch nickten.

Auch wenn Arin bei dem Begriff 'Höhlen' eher an etwas natürliches dachte, hatten sie eindeutig Aeras Gefängnis erreicht. Die gehauenen Steinwände wurden zu Mauern, je weiter sie sich ins Innere wagten. Die Erbauer hatten die Größe genutzt und die Verliese in die Grotten gebaut. Die meisten Kerkerräume, die sie passierten, schienen leer zu sein.

»Wohin jetzt?«, fragte Trauermantel, als ihre blonde Führerin schließlich stehen blieb.

Mauerfuchs schüttelte ihren Kopf. Aus seiner Tasche holte Arin die Aufzeichnungen hervor. Er rollte den Zettel auf, während sich die anderen Nyrs um ihn stellten.

»Es kommt darauf an, wo sie Admiral festhalten. Ich denke, Hochverrat scheidet aus. Im Eingangsbereich werden die wichtigen Gefangenen aufbewahrt, sowas wie politische Gefangene oder Adlige. Viele Zellen werden gar nicht mehr benutzt. Im Ergebnis kommen wohl nur noch der Bereich für Kapitaldelikte oder der Teil für Untergrundstraftaten in Frage.« Er deutete auf die beiden Abschnitte, die sich in unterschiedlichen Ebenen der Höhlen befanden.

Er spürte Mauerfuchs' warmen Atem über seine Wange gleiten, als sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht pustete. »Untergrundstraftaten«, erklärte sie ohne zu zögern.

»Woher willst du ...«, begann Trauermantel, brach jedoch dann von selbst ab. Sie zögerte. »Und wenn du dich irrst?«

Arin prägte sich den Weg ein, bevor er das Blatt zusammen faltete und in seiner Tasche verstaute. »Wir werden irgendwo anfangen müssen.«

Berghexe trat näher an ihn heran, als sie ihren Weg fortsetzten. »Ich weiß nicht mal, was Untergrundstraftaten sein sollen«, flüsterte sie.

Damit traf sie einen guten Punkt. »Ich glaube, dass sind Verstöße, die mit den Rebellen zu tun haben.« Langsam fragte sich Arin, weshalb man Admiral überhaupt verhaftet hatte. Was hatten Untergrundstraftaten überhaupt mit ihrer Tanzaufführung zu tun. Oder dachten die Wachen, dass es ein aufrührerischer Akt gewesen sei?

»Still jetzt«, murmelte Mauerfuchs. »Wir sind gleich da.«

Die Wände um sie herum waren grober, der Brokatstein glänzte in tiefem Rot. Der Laternenschein wurde von den Mauern geschluckt, so dass nur ein heller Fleck übrig blieb, der den Boden um sie herum erhellte.

Hinter der nächsten Ecke warfen Fackeln ihr zuckendes Licht gegen die Wände. Sie reichten Hexe die Laternen und schlichen auf die Gänge zu. Wachen waren nicht zu sehen, doch zahllose Zellen reihten sich nebeneinander. Jede war durch eine massive Tür verschlossen.

Arin seufzte lautlos. Welche sollten sie nehmen?

Da klopfte Trauermantel gegen seinen Arm. Mit zwei Fingern deutete sie auf eine der Türen, die sich in nichts von ihren Nachbarn unterschied. Arin verstand nicht, was sie ihm sagen wollte, bis er das Tablett bemerkte, dass vor dem Raum stand. Es war das einzige, das jemand vor eine der Zellentüren gestellt hatte. Arin nickte. Ein guter Ort, um zu beginnen. Ob das bedeuten würde, dass die anderen Kerkerräume leer waren? Sie warteten, bis sie in einiger Entfernung das Eintreffen der Wachen vernahmen. Laut Arins Unterlagen patrouillieren sie alle zwei Kerzen durch die Gänge. Das sollte ihnen genug Zeit geben, um Admiral zu finden und mit ihr die Höhlen zu verlassen.

Trauermantel schob sich um die Ecke, kaum dass die Schritte am anderen Ende wieder verklangen waren. Arin folgte ihr, während Mauerfuchs den Wachen folgte. Es wäre Arins und ihre Aufgabe, Ausschau zu halten, während Trauermantel sich um seine Mentorin kümmern würde. Hoffentlich würde alles gut gehen.

Arin beobachtete den leeren Gang, doch immer wieder huschte sein Blick zurück zu Trauermantel. Sie zog etwas aus ihrem Haar, hockte sich vor das Schloß und schob den Gegenstand hinein. Immer wieder biss sie sich auf ihre Unterlippe. Dann, endlich sprang die Tür auf. Seine Knie zitterten vor Aufregung und Arin bereute, dass er vor ihrem Aufbruch nichts mehr gegessen hatte. Sein Magen knurrte. Trauermantel öffnete die Tür einen Spalt und schaute hinein.

Mit einem erleichterten Lächeln zeigte sie ihm, dass sich tatsächlich Admiral im Inneren der Zelle aufhalten musste. Doch dann schnalzte Mauerfuchs ein Warnzeichen und sie erstarrten.

Trauermantel reagierte als erste. Sie sprang auf und schlüpfte ins Innere der Zelle. Die Tür schloß sich hinter ihr. Mauerfuchs musste sich in eine Nische oder so zurückgezogen haben, denn sie tauchte nicht mehr auf. Arin hatte kein Versteck auf seiner Seite. Was sollte er tun?

Schlurfende Schritte ertönten. Jemand kam. Arin zog sich in die Schatten zurück. Auch wenn er wahrscheinlich den Überraschungsmoment auf seiner Seite hatte, es widerstrebte ihm, jemandem weh zu tun. Zur Not würde er einfach bis zum nächsten Quergang vorraus schleichen und auf sein Glück setzen müssen.

Ein Diener tauchte auf. Seine gebeugte Gestalt sprach für ein hohes Alter. Er ging, ohne sich genauer umzusehen. Vor Admirals Zelle hielt er an. Arin verkrampfte.

Dann bückte sich der Satyr, hob das Tablett auf und humpelte zurück. Vor Erleichterung wurde Arin schwindelig. Nur ein Diener, der das schmutzige Geschirr abholte.

Trauermantel hatte glücklicherweise die Tür nur zugezogen. Die Wartezeit hatte sie dafür genutzt, ihrer Mentorin die Ketten zu lösen. Als Arin zurückkehrte, um den Beiden zu helfen, konnte er lediglich die Tür für sie aufhalten.

Admiral wirkte müde. Als ob die kurze Zeit im Kerker sie unnötig viel Kraft gekostet hätte. Man hatte ihr die Perücke und das Kleid weggenommen, so dass vor ihm nur ein einfacher Waschbärensatyr in barocksteinroter Gefangenenhose zu erkennen war. Trauermantel stütze sie, als sie nebeneinander die Zelle verließen. Im Vorbeigehen drückte seine Mentorin für einen Moment Arins Arm. Er spürte ihre Dankbarkeit. Mauerfuchs schloß sich ihnen mit Tränen in den Augen an.

Keiner von ihnen hatte Worte übrig. Arin zuckte zusammen, als sie jemanden durch den Trakt laufen hörten. Schnelle Schritte konnten nur ein schlechtes Zeichen sein. Würden sie auffliegen? So kurz vor dem Ziel scheitern?

Es dürfte nicht sein. Hexe harkte sich auf Admirals anderer Seite unter und gemeinsam führten sie die Nyr in Richtung des Durchlasses. Mauerfuchs blieb neben Arin stehen.

»Ohne dich finden sie nicht durch die Höhlen«, zischte er. Sie funkelte ihn böse an. Zögernd, doch dann lief auch sie weiter.

Mit jedem Schritt, die der Fremde näher kam, hörte Arin mehr Geräusche. Sein unregelmäßiger Atem, das Poltern auf dem Steinboden. Gezischte Flüche.

In Arins Herz kämpfte der Drang, Admiral und die anderen zu schützen gegen seine Abneigung gegen Gewalt. Doch seine Entscheidung stand fest. Wer immer seine Familie auch bedrohen würde, Arin würde ihn aufhalten.

Die Schritte wurden langsamer. Schließlich blieb der Läufer stehen.

»Mauerfuchs? Trauermantel, Hexe - wo seid ihr?« Ungläubig blickte Arin in den Gang und sah direkt in das Lächeln von Koralin. Der Stiersatyr hatte sie wiedergefunden.

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