27. Reue
Die Wurzel über seinem Bett erinnerte Arin heute nicht mehr an einen tanzenden Fuß, eher an einen mahend gereckten Finger. Wie hatte alles nur so schief gehen können?
Neben der Tür hing die Seti. Ihre langen Stoffbahnen reichten fast bis zum Boden. Heute glich sie weniger einem Waldsee, sondern mehr einem Tränenmeer. So merkwürdig es auch war, sie schien seine Stimmung aufzugreifen.
Ein leises Klopfen lenkte ihn für einen Moment ab, doch er wollte niemanden sehen. Arin zog ein Kissen über sein Gesicht. Wenn er den Besucher nur lange genug ignorierte, würde man ihn bestimmt alleine lassen.
Das Glück war ihm nicht holt. Zunächst knarzte die Tür, dann hörte er Schritte, die sich näherten. Schließlich sank neben ihm die Matratze ein.
»Es ist nicht deine Schuld, weißt du?« Arin linste unter dem Kissen hervor. Auf der Bettkante saß Mauerfuchs, deren Haare ihr wie immer ins Gesicht hingen. Trotz der geröteten Augen strahlte sie Ruhe und Stärke aus.
»Wie kannst du das sagen?« Keine netten Worte der Welt konnten etwas daran ändern, dass es seine Idee gewesen war, die sie zum Blumenmarkt geführt hatte. »Wenn ich nicht gewesen wäre ...«
Die zierliche Nyr schnaubte und unterbrach Arins Selbstanklage. »Wir wussten alle um das Risiko. Du hast niemanden von uns gezwungen, auch Admiral nicht. Außerdem hattest du völlig recht mit deinem Plan - wir müssen sichtbarer werden. Wir sind Teil dieser Welt.«
Sie zog am Kissen und Arin gab nach. Zögernd setzte er sich neben sie, kreuzte seine Beine und zog seine Flügel eng um sich. Die schwarzen Federn hüllten ihn ein.
»Sie sind wunderschön, weißt du?« Mauerfuchs hob zögernd eine Hand, als ob sie die Flügel berühren wollte, dann verharrte sie.
»Danke.« Ihr Kompliment gab ihm ein warmes Gefühl. »Du darfst sie gerne berühren, wenn du magst.«
Ihre Hand fuhr sanft über seine Schwungfedern. Es kitzelte, aber Arin hielt still, um die Nyr nicht zu verschrecken.
»Sie sind mehr Zierde als wirklich nützlich«, erklärte er, als sie ihre sich wieder zurückzog.
Mauerfuchs pustete sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Aber ich habe gesehen, wie du geflogen bist!«
»Für kurze Distanzen geht es, aber das ist kein richtiges Fliegen. Eher ein Gleiten.« Das Licht seiner Glühranke schimmerte auf ihren blonden Haaren.
Die Nyr wollte noch etwas sagen, als es ein weiteres Mal an der Tür klopfte. Flink sprang sie vom Bett und öffnete. Berghexe streckte ihren grauen Schopf herein. Als sie bemerkte, dass sie nicht die erste Besucherin war, lächelte sie. »Du bist beliebt, Apollon.« Mauerfuchs und sie tauschten einen Blick, den Arin schlecht deuten konnte. Dann sprach die grauhaarige Nyr weiter. »Die anderen haben sich im Gastraum versammelt. Es wird Zeit, dass wir uns unterhalten.«
Auch wenn er sich davor scheute, den anderen unter die Augen zu treten, würde er nicht kneifen. Seufzend erhob sich Arin vom Bett. Er blickte ein weiteres Mal zur Decke und hoffte, dass seine Liebe zum Tanz sie nicht alle ins Verderben geführt hatte.
Mauerfuchs und Berghexe nahmen ihn in die Mitte und zu Dritt traten sie in den Schankraum hinein. Auf den meisten Tischen standen Stühle, nur der Bereich vor dem Podest war vorbereitet. Alle hatten sich versammelt. Beim letzten Mal hatte er sich auf Admiral konzentriert, die ihn vorgestellt und mit einbezogen hatte. Nun stellte er fest, dass die Dorada ohne ihre Anwesenheit dunkler wirkte.
Frostvogel saß auf dem Rand der Bühne. Beinahe ihr ganzer Körper war bandagiert, dennoch hielt sie sich gerade. Neben ihr standen zwei Nyrs, die Arin bisher nicht gesehen hatte. Alle drei wirkten misstrauisch, als sie sich nährten.
»Jetzt sind wir vollständig«, stellte Berghexe fest. Arin bemerkte ihre Hand, die sich vorsichtig um seine schlang. Mauerfuchs deutete auf einen unbesetzten Tisch. Sie zogen die Stühle hervor und nahmen Platz.
Eine mollige Nyr trat zwischen den anderen Nyrs hervor. »Wir müssen überlegen, was wir jetzt tun. Als erstes - öffnen wir die Dorada heute abend oder nicht?« Unter ihrem weiten Kleid bemerkte Arin einen buschigen Schwanz. Sie trug den waldgrünen Stoff mit einer besonderen Grazie, aber am beeindruckendsten war ihre Stimme. Sie erfüllte den Raum, ohne dass es die Nyr darauf anzulegen schien.
Mauerfuchs beugte sich zu ihm herüber. Ihr warmer Atem kitzelte sein Ohr, als sie sprach. »Das ist Flockenblume. Sie kommt nur an den Wels- und Karpfentagen zu uns, um zu singen.«
Aus den Schatten trat der Satyr hervor, der den Eingang bewachte. Seine spitzen Hörner funkelten, als die Bewegung das Licht an ihnen brach. »Das ist doch nebensächlich. Ob wir öffnen oder schließen - was machen wir wegen Admiral?«
Die Nyrs um ihn herum fingen an zu reden. Es war unmöglich, im Rauschen der Stimmen sinnvolle Sätze zu verstehen.
Es waren vierzehn Nyr und drei Satyrn. Es hätte nicht so laut sein dürfen, aber die Anspannung sorgte dafür, dass alle zu laut sprachen.
Schließlich fuhr ein Ton zwischen sie und fuhr durch die Stimmen wie ein Wal durch das Krill. Schlagartig wurde es still. Flockenblumes Mund stand offen, als sie den Ton weiter und weiter sandte. Dann musste auch sie Luft holen.
»So kommen wir nicht weiter. Lasst uns vernünftig darüber reden, was nun zu tun ist.«
Der Stiersatyr nickte, auch wenn sein Stirnrunzeln dafür sprach, dass er lieber einen direkteren Weg suchte.
Diesmal war es Berghexe, die ihn informierte. »Flockenblume und Koralin sind sich selten einig. Ich glaube, zwischen ihnen lief mal was.«
»Wir können ohne Admiral nicht öffnen!« Eine weitere Nyr hatte sich erhoben. Ihre Hasenohren waren hinter den schwarzen Haaren zusammengebunden und wackelten, während sie zu Flockenblume trat. »Es wäre nicht richtig.«
Jetzt war es Berghexe, die sich zu Wort meldete. »Ich stimme Alexis nicht zu. Nichts zu tun, wäre falsch. Wir dürfen nicht still bleiben.«
Arin spürte, wie die Aufmerksamkeit der anderen auf ihm ruhte.
»Nun, die fehlende Stille hat uns ja erst das Dilemma hier eingebrockt«, merkte Flockenblume an.
Mauerfuchs wackelte auf ihrem Stuhl hin und her. Durch die Bewegung fielen ihr noch mehr Haare vor die Augen, so dass sie von einem natürlichen Schutzschild umgeben wurde. Die vielen Personen setzten ihr offenbar zu. Vorsichtig legte Arin seine freie Hand auf ihr Bein und drückte es. Sie sollte sich nicht alleine fühlen.
»Wenn wir uns Frostvogel so ansehen, hat uns Zurückhaltung auch nicht viel gebracht.« Trauermantel stand an ihrem Tisch. Ihre schwarze Kleidung ließ ihr helles Gesicht noch weißer wirken. Arin hatte mit ihr vor dem Auftritt nur wenige Worte gewechselt. Abgesehen von der Tatsache, dass sie die Binou spielen konnte, wusste er nichts von ihr. Doch gerade deswegen gab es ihm ein gutes Gefühl, dass sie ihn nicht zu verurteilen schien.
Mauerfuchs Hand legte sich auf seine. Sie zitterte, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings.
Die Nyrs vor der Bühne nickten zustimmend. Frostvogel ergriff das Wort. »Ich stimme zu. Vielleicht war Apollons Weg nicht der Richtige, vielleicht war er es. Was geschehen ist, können wir nicht ändern. Aber ich werde nicht weiter den Kopf ins Wasser stecken und darauf hoffen, dass mich der Habicht nicht sieht.«
Die anderen nickten.
»Was also sollen wir tun?«, fragte Flockenblume. Sie drehte sich einmal um die eigene Achse und musterte jeden von ihnen.
Koralin ballte seine großen Pranken zu Fäusten. »Wir holen unsere Admiral zurück.«
Der Gastraum war so still, dass man den Fall einer Schneeflocke hätte hören können. Alle sahen zu dem massigen Mann, der sich so selbstverständlich zwischen den Nyrs bewegte.
Flockenblume riss die Augen auf. Die braune Haut über ihrem Dekoltee bebte, als sie zitternd Luft holte. »Sie werden sie längst in die Gefängnishöhlen gebracht haben. Wir wissen ja nicht einmal, warum sie gefangen genommen wurde. Wie also stellst du dir das vor?«
Zu seiner Verblüffung war es Mauerfuchs, die sich zögernd erhob und mit zitternder Stimme antwortete. »Ich weiß, warum sie verhaftet wurde. Und ich kenne einen Weg in die Höhlen.«
Erst als Flockenblume erneut ihren Ton sang, kehrte wieder Ruhe ein. Mauerfuchs umklammerte Arins Hand so fest, dass er befürchtete, sie könnte dabei etwas brechen. Doch er ließ nicht los.
»Das warum kann euch nur Admiral erklären.« Die blonde Nyr neben ihm zog den Kopf ein, blieb aber standhaft. »Ich kann euch lediglich führen.«
Die anderen Nyrs nickten, mehr oder weniger zustimmend. Trauermantel kletterte auf die Bühne. »Damit können wir arbeiten. Als erstes brauchen wir einen Plan. Wer also ist dabei?«
Mauerfuchs hob als erstes ihre Hand. Arin und Berghexe folgten. Nach und nach gesellten sich auch Koralin, Frostvogel und Flockenblume dazu, bis schließlich alle ihre Zustimmung ausdrückten.
Damit stand es fest. Sie würden Admiral befreien.
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