2. Vorbereitungen
Noch bevor die allgegenwärtigen Silberranken damit beginnen konnten, das für Aera typische Tageslicht abzusondern, hatte Arin Rabenfeder einen Entschluss gefasst. Er würde sich ändern, sein wahres Naturell unterdrücken und endlich den Vorstellungen seiner Familie entsprechen. Dieser Tag, vor dem er sich seit Wochen gefürchtet hatte, sollte ihm dienen, um seinen Kokon aufzusprengen. Und mit etwas Glück würde sich eine gute, folgsame Motte entpuppen. Nein, kein Glück. Willenskraft hieß das Zauberwort. Seufzend ließ er sich in seinen Lesesessel fallen und hielt dann erschrocken die Luft an. War er zu laut? Aus dem Nachbarzimmer ertönten die leisen Schnarchgeräusche seiner Eltern. Er war allein mit seinen Gedanken. Doch fühlte er sich nicht alleine. Etwas war da. Neugierig geworden hob er seinen Kopf.
Ein weißer Schemen schwebte langsam an seinem Fenster vorbei, drehte sich nach links und fing seinen Blick ein.
Vorsichtig trat Arin ans Fenster und schaute in die Nacht hinaus. Zunächst sah er nur sein eigenes Gesicht, mit den dunkelblauen, fast schwarz wirkenden Augen. Sein Spiegelbild wirkte ernst, die schmalen Schultern angespannt. Niemand würde denken, dass er sich heute Abend vermählen würde. Seufzend schaute Arin hinaus, hinter seine traurige Erscheinung.
Der Schemen bewegte sich und er erkannte schließlich, um was es sich handelte. Direkt vor seiner Fensterscheibe tanzte eine Schneeflocke. Es war völlig untypisch für diese Jahreszeit. Hoch oben, über den Baumwipfeln, musste in der Nacht ein Sturm aus dem Norden gewütet haben. Unschuldig drehte sie sich in einer Pirouette und Arin übernahm die Bewegung, kopierte sie anmutig.
Mit einem sanften Sprung glitt er in eine Kapriole und schlug seine Beine aneinander. Es glich fast einem Wunder, dass es die kleine Flocke geschafft hatte, sich durch das Dach der gigantischen Bäume zu kämpfen, um nun elegant vor seinem Zimmer entlang zu gleiten. Arin stoppte und öffnete leise das Fenster, um ihr besser folgen zu können. Die Kälte umfing ihn wie eine eisige Faust und klärte seine Gedanken. Was tat er nur?
Obwohl der kleine Schemen seine Stimmungsänderung unmöglich spüren konnte, schwebte sie dennoch für einen Herzschlag still in der Luft. Sie war von unfassbarer Schönheit, ein kleiner Kristall, dessen Weiß genauso strahlte wie Arins eigenes Haar. Dann war der Moment vorbei und die Flocke setzte ihren Weg fort. Wie eine Feder.
Arin erkannte die Doppeldeutigkeit des Augenblicks. Eine weiße Feder, die an einem unerwarteten Ort aufgetaucht war. Es glich einem Sinnbild seines Lebens, bestimmt für einen Ort, an den er nicht gehörte. Seine Schultern zitterten in in der Kälte und Arin fächerte seine schwarzen Flügel auf, um sein Gleichgewicht zu wahren. Mit der rechten Hand fing er die Flocke ein und beobachtete resigniert, wie sie langsam schmolz und zu Wasser wurde. Würde es ihm auch so ergehen? Würde er dahinschmelzen, bis er nur noch eine blasse Erinnerung sein würde, ein Rahmen für die Nymphe, die er heiraten würde? Er schloß das Fenster und kehrte zu seinem zerwühlten Bett zurück. Das Wasser war verschwunden, die Schneeflocke tanzte nur noch in seiner Erinnerung.
Sein Tanz war jedoch noch nicht beendet. Mit müden Augen starrte er zur Decke. Der Schlaf wollte nicht kommen. Fast unmerklich wurde es in seinem Zimmer heller, als das erste Glimmen der Silberranken Aera erhellte. Der Morgen graute. Langsam, wie die Schritte zu Chassex Ouvertüre in »Vor dem großen Baume« kroch es in sein Zimmer. Auch wenn sich die Hauptstadt unter dem schützenden Dach uralter Bäume befand, fingen die Blätter das Licht der Sonne ein, deren Intensität sie je nach Tageszeit an die Bewohner zurücksandten.
Es war seine letzte Nacht in diesem Raum. Später würde er mit seiner Braut in ihr Stadtpalais im alten Teil des Floraviertels ziehen. Er drehte sich auf den Bauch und seine Rabenschwingen umhüllten ihn wie eine tröstende Decke. Ein neuer Anfang. Ein Tanz der Seelen. Eine Vereinigung zum Wohl der Häuser. Wenn er nur fest genug daran glaubte, würde es bestimmt funktionieren.
Mit schwerem Herzen schlief er ein und wachte, wie es ihm schien, bereits nach kurzer Zeit wieder auf.
Von unten erklang das leise Singen eines melodischen Baritons. Es versetzte ihn zurück in eine Zeit, in der noch Einschlafgeschichten und Nachtlieder zu seinem Leben gehört hatten. Einen Moment ließ er sich einhüllen, verblieb im Dunst zwischen Schlafen und Wachen. Er könnte alles ausblenden, sich das Kopfkissen über das Gesicht ziehen und hier bleiben. Eine simple Lösung für ein komplexes Problem.
Schwere Schritte polterten die Stufen hinauf. Schon am Klang erkannte er ihre Besitzerin und öffnete stöhnend die Augen. Kaum etwas entsprach mehr dem Begriff Naturgewalt als einer Schwester. Vor allem einer älteren Schwester. Vor allem seiner älteren Schwester. Die Tür zu seinem Zimmer öffnete sich schwungvoll und stieß mit einem Poltern gegen die Holzverkleidung. Arin hatte keine Chance. Nurise stellte sich mit vorwurfsvoll verschränkten Armen mitten in den Raum. Ihr Blick glitt von dem Gewand auf dem Boden über die verteilten Bücher bis zu den Zeichnungen auf seinem Schreibtisch. Die Tierposen, die er als Bewegungsskizzen für seine neueste Choreographie eingefangen hatte, schienen sie nicht besonders zu beeindrucken. Dann blickte sie wieder zu ihm und hob nur eine ihrer weißen Augenbrauen an.
Arin schluckte.
Es war leicht zu sehen, warum ihr bei ihrer Übergangszeremonie der Nachname 'Eisfeder' verliehen worden war. Von ihren weißblonden Haaren bis zum Grau ihrer Hosen strahlte alles Kälte aus. Sie schien es darauf nicht einmal anzulegen, das Eis war Teil ihrer Persönlichkeit.
»Komm schon, Nuf«, murmelte Arin und nutzte ihren Spitznamen aus Kindertagen. »Du, hier am Morgen? Was habe ich verbrochen?«
Nurise schüttelte nur ihren Kopf. Durch die offene Tür strömte der Duft nach Waffeln.
Arins Magen knurrte und trieb ihn schneller aus dem Bett als seine Schwester es konnte.
»Es ist nicht mehr Morgen«, murmelte sie und das Eis in ihren gletscherblauen Augen taute ein wenig auf. »Abgesehen davon hat Papa schon versucht, dich zu wecken. Vor zwei Kerzen hat er mir einen Botenfalter geschickt, weil du nicht wach zu bekommen warst. Seither steht er in der Küche und backt Waffeln.«
»Und hier bist du also«, stellte Arin das Offensichtliche fest, während er sich eilig umzog. Wenn Nuf ihm mit dem Tonfall eines Leibmarschalls gegenübertrat, war mit ihr nicht zu spaßen. Normalerweise befehligte sie über ein Dutzend Mitglieder der Goldwache, die ihr allesamt zu Füßen lagen und er war schlau genug, zu wissen, wann er keine Chance hatte.
»Nun, ich bin nur etwas früher als geplant gekommen. Immerhin ist heute ja dein großer Tag.« Der Stolz in in ihrer Stimme traf ihn mitten ins Herz. Sein Hochzeitstag, fast hätte er ihn vergessen. »Außerdem mag ich Waffeln.« Nurise beugte sich vor und zerwühlte sein Haar. So wie er sie kannte, hatte sie es trotzdem geschafft, dass er hinterher ordentlicher aussah als vorher.
Er präsentierte ihr ein mattes Lächeln. Bevor sie stutzig werden konnte, sprang er die Stufen hinab zur Küche.
Während Arin geschlafen hatte, war ihr Vater mehr als fleißig gewesen. Auf dem massiven Esstisch türmten sich Waffelberge. Schon immer hatte er eine Leidenschaft für die Küche besessen, die er besonders dann auslebte, wenn etwas Großes anstand. Zu Nurises Einberufung hatte es Eichelsouflee mit passierten Algen gegeben, bei seiner ersten Aufführung einen flambierten Nussauflauf und nachdem seine Schwester die Königin gerettet hatte, wurde sie mit gefüllten Traubenkrautröllchen begrüßt. Die blaue Farbe der Waffeln deutete auf einen besonderen Zusatz. Arin schnüffelte. Etwas Süßes kitzelte seine Nase. Eindeutig Gauklerkraut.
Keinem von beiden viel auf, dass Arin wenig zum Gespräch beitrug. Die weißen Schwanenflügel auf dem Rücken seines Vaters zuckten immer wieder, ein deutliches Zeichen seiner Nervosität. Nurise nahm sich einen Teller und erzählte von ihrem Dienstalltag im Palast. Nichts Aufregendes, nur ein paar Details, über die anderen Wächter und ihre Essensvorlieben.
Nachdem seine Mutter aus dem Ministerium für Handel und Logistik zurückgekehrt war, wurde es leichter. Sie sprach mit Nuf über die Arbeit und schob seine Schweigsamkeit den flatternden Nerven eines Bräutigams zu. Wenn dies eine Bezeichnung dafür war, dass er sich am liebsten übergeben hätte, war es wohl zutreffend.
Es dauerte nicht lange, bis sie sich auf den Weg machten und er am Fuße des städtischen Floratiumsgebäudes stand. Aufgrund der Anzahl der zu erwartenden Gäste war dieser Ort der Einzige in ganz Aera, der allen Platz bieten würde. Die Waffel, an der er geknabbert hatte, meldete sich mit unangenehmen Druck.
Seine Familie flankierte ihn. Seine Schwester an seiner rechten Seite, seine Mutter links von ihm und sein Vater bildete den Abschluß. Natürlich war es tröstend, andererseits kam ihm der Verdacht, dass zumindest Nuf seinen Arm eher festhielt als leitete. Was dachte sie, was er vorhatte? Aus dem Fenster springen? Wohl kaum, nachdem sie sich im Erdgeschoss aufhalten würden und er Flügel hatte. Auch wenn sie zum Fliegen zu schwach waren, zum Gleiten taugten sie allemal. Vor den großen Zugangstüren blieben sie stehen. Der Vorplatz war bereits gut gefüllt, von überall strömten Gäste herbei.
Der Lunghe, sein traditioneller Wickelrock, fühlte sich ungewohnt an, nachdem er ihn bisher erst zweimal hatte tragen müssen. Mit der formellen blauen Kleidung und dem bestickten Hemd verband er keine angenehmen Erinnerungen. Immer waren es Abschiedsfeiern gewesen, bei denen zuerst seine Noma Lyre und später dann sein bester Freund Peridin dem Wasser übergeben worden waren. Ob dies ein Zeichen für seine künftige Verbindung sein sollte?
Nuf knuffte ihn in die Seite und er verdrängte alle Überlegungen zu dem kratzigen Stoff.
Den Schweiß zu ignorieren, der sich zwischen seinen Flügeln sammelte und höchstwahrscheinlich Flecken auf seinem Hemd hinterließ, fiel ihm deutlich schwerer.
Immer mehr Aeraner kamen auf sie zu und es bildete sich hinter ihm ein Pulk. Satyrn und Nymphen aus dem Hause des Wassers nahmen Aufstellung, um in das Floratium einzuziehen. Um ihn für das große Ganze zu opfern. Die Wirtschaft.
Nuf schaute ihn an und bedeutete ihm mit einer leichten Kopfbewegung in Richtung des Portals, dass er etwas tun sollte.
Verwirrt hob er die Augenbrauen. In seinem Kopf hatte sich ein Nebel gebildet. Gab es nicht ein Protokoll? Was sagte es bei Opferungen aus? Arin presste die Zähne zusammen. Er sollte weniger melodramatisch sein. Es war immerhin nur eine Verbindung. Ein Fest. Alle würden überleben.
Seine Schwester verdrehte die Augen und trat einen Schritt vor, um energisch gegen das stabile Holz zu klopfen. Sofort schwang die Tür auf.
Hatte das Meer an Besuchern Arin schon eingeschüchtert, tat der Wald vor ihm sein Übriges. Gesicht umf Gesicht starrte ihn an, alle in das Grün des Waldes gehüllt. Ganz vorne stand, aufrecht wie eine Weide und unbegleitet, der Stolz des politischen Zentrums. Sumse Weidensang. Ihr rotes Haar fiel offen über ihre bloßen Schultern. Nur ein schmaler Zopf neben ihren Schläfen war mit Holzringen verziert, die von ihren zahlreichen Heldentaten berichteten. Auf dem politischen Parkett war Sumse eine Legende.
Es kostete Arin Überwindung, einen Schritt nach vorne zu treten und ihr seine Unterarme anzubieten.
Natürlich war sie schön, aber in den stillen Kerzen der Nacht hatte er auf eine Braut gehofft, mit der ihn eine gemeinsame Geschichte verband. Freundschaft, Vertrautheit und Akzeptanz. Ein wenig von dem Band, das seine Eltern teilten. Doch das Schicksal, oder besser noch die Hoffnungen seiner Mutter, hatten diese Träume zerstört. Die Muskeln in seinem Gesicht schmerzten vom erzwungenem Lächeln. Nun musste er auf sein Glück vertrauen.
Im Gegensatz zu ihm wirkte seine Braut ruhig, fast gelassen, trotz der Vielzahl an Gästen. Federleicht schob sie ihre Handgelenke über seine, dann zog sie ihn mit einem fröhlichen Lächeln neben sich. Er bewunderte die Eleganz ihrer Bewegungen und beneidete sie um ihre Disziplin. Ihre grüne Hemdbluse war mit bunt gefärbten Stachelschweinborsten verziert und leuchtete im Kerzenlicht der Festbeleuchtung. In seinem fahlblauen Gewand musste er neben ihr wie ein Geist wirken, trotz der Perlen und Stickereien, die von seiner Stellung zeugten. Sie ergriff seine Hand; drückte sie, trotz seiner schweißnassen Handflächen. Eine tröstende Berührung, die ihm half, sich zu sammeln.
Gemeinsam verbeugten sie sich vor seinen Eltern, die die Bewegungen mit Stolz in den Augen würdigten.
Sumse verschränkte ihre Finger mit seinen und hob ihrer beiden Hände hoch.
Der Jubel der Umstehenden ließ ihn zusammenzucken. Aus den Augenwinkeln erkannte er Nufs Zufriedenheit, ihre Aura schimmerte beinahe freundlich. Dann war die Begrüßung vorbei und er folgte Sumse in den Festsaal.
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