19. Seidenstoff

Nach Arins Rückkehr saß Admiral an seinem Schminktisch. Sie hielt ein kleines Paket in ihren Händen. Ihr Körper war in eine schimmernde mintfarbene Robe gehüllt und jedes Härchen befand sich an seinem Platz. Die Nyr verströmte die Eleganz einer Seerose.

Mauerfuchs half ihm, seine Last ins Innere zu tragen, dann wandte sie sich der älteren Nyr zu. »Wie geht es Frostvogel?«

Admiral strich sich eine dunkelbraune Locke aus dem Gesicht. Ihr Seufzen war gleichermaßen erschöpft und traurig. »Sie ist wach, aber sie spricht nicht.«

»Darf ich zu ihr?«, bat Mauerfuchs mit sanfter Stimme.

»Natürlich«, antwortete Admiral. »Dein Besuch wird ihr gut tun. Achte aber darauf, dass sie sich nicht übernimmt.«

Mit einem eifrigen Nicken wandte sich Mauerfuchs ab. Sie legte Arin zum Abschied eine Hand auf die Schulter. Er drückte sie, darauf bedacht, sie nicht länger als notwendig aufzuhalten. »Danke.« Das Wort kam aus seinem Herzen und Mauerfuchs verstand es. Arin erkannte es an ihrem Lächeln. Die Tür schloss sich und er war mit Admiral allein.

»Wie geht es dir, Apollon?«, fragte sie, während ihr Blick über die Unmengen an Taschen schweifte. »Du musst zu Tode erschöpft sein.«

Nachdem sie auf dem einzigen Stuhl Platz genommen hatte, setzte sich Arin aufs Bett. Er zog die Beine an und faltete die Flügel zusammen. »Es geht. Mauerfuchs hat es mir so einfach wie möglich gemacht. Ich bin euch wirklich sehr dankbar.«

»Es freut mich, dass du dich wohlfühlst«, erklärte die Nyr. Ihre klugen Waschbäraugen zwinkerten freundlich. Sie drehte das Päckchen in ihren Händen. »Wir sind hier eine kleine Gemeinschaft und füreinander da.«

Diesen Tonfall kannte er von seiner Mutter. Eine in Moos verpackte Bedeutung, die tiefer ging, als das eigentlich Gesagte. Ein Angelhaken. Er dachte an Mauerfuchs Worte. Er konnte jederzeit gehen, wenn ihm die Bedingungen seines Aufenthaltes missfielen. Arin folgte seiner Neugier und schluckte den Köder. »Das sehe ich. Doch wie passe ich ins Bild?« Er sah Admiral fest in die Augen. »Was erwartest du von mir?«

Ihr Lachen war echt, kam tief aus ihrem Inneren und sprudelte aus ihr heraus. »Du bist nicht so schüchtern, wie du immer tust. Das freut mich.«

Arin schlug die Beine übereinander, sodass sein Bett leise knarrte. »Ich bin nicht schüchtern. Das denken viele, weil ich gerne über Dinge nachdenke, bevor ich etwas sage.«

»Eine Qualität, die ich leider nicht teile.« Ihr Blick war warm, fast mütterlich. »Wir erwarten nicht viel von dir. Nur dass du versuchst, dich einzugliedern und einen Beitrag leistet.«

Arin nickte. Das Zimmer war klein, doch ein eigener Rückzugsort. Die Bekleidung stellte eine weitere Freundlichkeit dar. »Und wenn ich nicht zu euch passe?«

»In diesem Fall verbrennen wir alles, bevor wir dich in hohem Bogen hinauswerfen.«

»Was?«

Admiral grinste schelmisch und erhob sich. Sie war wahrlich ein Kind des Lachenden Gottes. »Nur ein Scherz. Du solltest einmal dein Gesicht sehen.« Mit dem Päckchen in der Hand ging sie voran. »Komm mit mir. Ich erkläre dir alles.«

Als sie die Tür öffnete, konnte er gedämpft Geräusche aus dem Schankraum hören. Admiral deutete mit einer Hand in die entgegengesetzte Richtung des Ganges. »Hier sind noch ein paar leere Zimmer und unsere Krankenstation. Nicht dass sich hinter dem Namen viel versteckt, aber es ist ein ruhiger Raum.« Das Licht der Ranken schien gedämpfter zu sein, als im Inneren des Zimmers. Der Boden war uneben. Hier ragte dann und wann eine Wurzel aus der Erde heraus. Der Untergrund schien deutlich lockerer als näher am Schankraum.

Gemeinsam gingen sie auf die Stimmen zu, vorbei an mehreren Türen, neben denen die Abbilder von kleinen Schmetterlingen hingen. Jemand hatte mit zarten Strichen die Farben und die Eleganz der Tiere getroffen und auf Papier gebannt. Trauermantel, Berghexe, Veilchenfänger, Mauerfuchs und Frostvogel.

»Trauermantel zeichnet sie für uns. Du wirst sie noch kennenlernen. Sie mag düster wirken, hat aber ein gutes Herz.«

Vor der letzten Tür, Frostvogels Zimmer, blieben sie stehen. Admiral strich sanft über das kleine Kunstwerk. Ein blassblauer Falter war in dem Moment eingefangen worden, als er sich auf Blume gesetzt hatte. Seine Flügel standen weit auseinandergefaltet, die Fühler stolz gereckt.

Bevor Admiral das Bild erreichte, zögerte sie. »Ich sollte dich zuallererst jedoch warnen. Wir erleben oft Anfeindungen. Man bespuckt und beleidigt uns. Manche überschreiten Grenzen, Nymphen ebenso wie Satyrn.« Ihre Hand zuckte zurück. Traurigkeit umgab sie wie ein weiter Mantel.

»Wie bei Frostvogel?«, fragte Arin als sie weitergingen.

Admiral nickte, ohne ihn anzuschauen. »Es kommt nicht oft vor, aber unser Leben hier ist gefährlicher, als es den Anschein haben mag. Du solltest wissen, worauf du dich einlässt.«

»Ich verstehe.«

»Tust du das wirklich?« Admiral umfasste seinen Arm und sie blieben stehen. In ihren Waschbäraugen tobte ein Sturm. »Dir könnte hier etwas zustoßen. Frostvogels Schicksal ist kein Einzelfall. Manchmal schlägt uns Hass entgegen.«

Arin dachte zurück an sein altes Leben. Die Politik, die seinen Alltag bestimmt hatte. Seine Machtlosigkeit. Das Wissen, dass sein Wille kaum etwas bedeutete und seine Meinung niemanden außerhalb der Familie interessierte. Dort hatte er sich zwar geliebt, aber niemals sicher gefühlt. Daher nickte er. »Freiheit hat immer einen Preis.«

Admirals Griff wurde schwächer, bevor sie ihn losließ. Für einen Moment wirkte sie kraftlos. »Das sollte sie aber nicht.«

Sein Herz klopfte schnell. Die Wahrheit hinter Admirals Worten berührte ihn, entfachte einen Funken, den er bislang unterdrückt hatte. Sie hatte recht. Es war nichts falsch daran, ein Satyr zu sein. Niemand sollte deswegen Angst verspüren müssen. Immerhin waren Flora und Fauna Geschwister gewesen. Wenn ihre Götter auf einer Stufe standen, warum konnte das nicht auch für Nymphen und Satyrn gelten?

Admiral deutete auf den Raum, vor dem sie stehen geblieben waren. »Dort drinnen ist unser Proberaum. Du wirst ihn natürlich mit uns anderen teilen müssen, aber das klappt eigentlich recht gut.«

Arin wollte einen Blick hineinwerfen, doch Admiral winkte ab.

»Du wirst mehr Zeit dort drinnen verbringen, als du dir jetzt vorstellen kannst. Komm, die ersten Gäste sind da und wir wollen schauen, wo wir dich am Besten unterbringen können.«

Gleich hinter der nächsten Tür befand sich Admirals Raum. Sie bat ihn hinein. Unschlüssig blieb er im Raum stehen. Warum waren sie hier?

Admiral schob ihn hinter den Paravent und reichte ihm das Päckchen. »Das hier ist für dich.«

Es war leicht. Das dünne Papier raschelte unter seinen Händen. Ein Geschenk?

»Mach es auf.« Sie lehnte sich gegen einen Stützpfeiler, den Blick fest auf dem Gegenstand in seinen Händen geheftet.

Lage für Lage faltete Arin auseinander, bis seine Finger über einen hauchdünnen Seidenstoff glitten. Er zögerte, dann hob er das Kleidungsstück hoch. »Was ist das?«

Admirals Grinsen hatte etwas Selbstzufriedenes. »Ein Rock. Du hältst ihn falsch herum.«

Als er die Seide drehte, nahm der Stoffhaufen plötzlich Gestalt an. Die langen Bahnen glichen Blütenblätter. Himmelsblau an den Rändern, während die Mitte dem verborgenen Herzen eines Waldsees glich. Auch wenn er nie zuvor eine Seti berührt hatte, erkannte er doch sofort, um was es sich handelte. Ehrfürchtig drehte er den Bund herum und sah die eingestickten Namen der letzen Träger. Schwinge, Feuerläufer, Waldherz. Etwas verwaschen entdeckte er noch zwei weitere: Wiesensprung und Zeitdiebin. Arin stutzte. »Zeitdiebin hat diese Seti getragen?«

Die dunklen Streifen, die Admirals Augen bedeckten, zogen sich bei ihrem Lächeln zusammen. »Sie war die Erste. Seitdem wird er von einem Kind Kisums an das nächste weitergegeben. Wir haben niemanden unter uns, der tanzt. Er würde dir gehören, solange du Kisum ehrst.«

Sprachlos strichen seine Hände immer wieder über die federleichten Seidenbahnen. Was für eine Ehre. Es gab immer wieder besondere Tänzer, die sich in Aera einen Namen gemacht hatten. Zeitdiebin war während der großen Umstürze eine leuchtende Fackel aus gelebter Musik gewesen, hatte durch ihre Vorstellungen Hoffnung und Einheit in die gespaltene Gesellschaft gebracht. Auch Feuerläufer war ein großer Name. Die Feuerfee hatte neue Elemente in den Tanz gebracht; wilde Bewegungen, die mehr einem Kampf als einer künstlerischen Darbietung glich. Diese Seti erzählte eine Geschichte. Eine Geschichte, von der Arin Teil sein konnte.

Admiral wandte sich um. Zum ersten Mal bemerkte er die geringelte Schwanzspitze, die unter ihrem weiten Rock hervor lugte. »Na, mach schon«, forderte sie ihn auf.

»Bitte?«

Ihr Seufzen war laut und hatte eindeutig eine ungeduldige Note. »Probier sie an.«

Seine Hände hielten den Stoff immer noch fest. Was, wenn etwas kaputt ging? Er zögerte. Dann schüttelte er den Kopf, mehr über sich selbst, da Admiral ihn nicht sehen konnte. Ein solches Kleidungsstück sollte, nein, musste getragen werden. Er zog sich die enge Hose aus und schlüpfte vorsichtig zwischen die Stoffbahnen. Sie fühlten sich kühl und glatt an seiner Haut an, fielen bis zu seinen Knöcheln hinab. Der Bund war etwas weiter, als er es benötigte. Doch ein paar Bänder waren versteckt eingearbeitet, mit denen er die Seti über seine Hüfte anpassen konnte.

Mit angehaltenem Atem sah er an sich herab. Die einzelnen Fragmente glichen Seidenflügel, die ihn umschwebten. Er drehte sich, stieß dabei fast den Paravent um. Ein Flattern und Rauschen umgab ihn. Seine Beine hatten Platz, fanden immer wieder eine Lücke zwischen dem Stoff.

Admiral drehte sich um. »Er passt zu dir«, stellte sie fest.

Hinter dem Paravent war es zu eng, daher trat er auf ihren weichen Teppich. Die Seti vervollständigte ihn. Er fühlte beinahe die Energie der vorherigen Träger. Für einen Moment blendete er alles aus, zog sich aus dem Raum unter dem Baum zurück und genoß das Gefühl von Kisums Nähe.

Erst Admirals Lachen holte ihn wieder zurück und etwas verlegen merkte er, dass er in seiner Euphorie die Flügel ausgebreitet hatte.

Das Stimmengewirr außerhalb des Raums wurde lauter. Darüber erhob sich langsam der Klang eines Waldhorns. Tiefe Töne vibrierten durch seinen Körper. Beinahe konnte er den Wald fühlen, obwohl er sich tief unter der Erde befand.

»Ah, Perlmutt ist schon dran«, erklärte Admiral. »Komm, es wird Zeit. Für den Anfang kannst du Berghexe hinter dem Tresen unterstützen.«

Mit einem lauten Knall flog die Tür auf. Im Rahmen stand Mauerfuchs, die Wangen vom Laufen gerötet. Ihr Blick glitt von Admiral zu Arin und wieder zurück. Den Seti beachtete sie nicht. »Frostvogel hat mir alles erzählt.« Ihre untypisch dunkle Stimme überschlug sich.

Admiral hob eine Augenbraue, forderte Mauerfuchs lautlos zum Weiterreden auf.

Diese schloss die Tür hinter sich, ging ein paar Schritte in den Raum hinein, um doch nur wieder stehenzubleiben. »Sie wurde angegriffen, als sie ihren Cousin besuchen wollte. Er hatte gerade erst eine Stelle in einem Nymphenhaushalt angenommen, sodass sie nach ihm schauen wollte. Eine der Angreiferinnen trug die grauen Abzeichen der Steingarde, die anderen waren normale Nymphen und Satyrn. Eine Feuerfee war auch dabei.« Zitternd atmete sie ein. »Frostvogel wollte gerade das Wohnhaus ihres Cousins betreten, als die Gruppe auf sie aufmerksam wurden. Es gab ein paar Beleidigungen. Dann, ohne Vorwarnung, hat eine der Nymphen sie geschubst. Als sie am Boden lag, konnte sie nur noch ihre Arme um den Bauch schlingen. Sie hatten es auf ihre Flügel abgesehen. Auf die Flügel, Arin!« Mauerfuchs rang mit ihren Händen. Was immer sie erzählen wollte, es war noch nicht vorbei. »Am Anfang hat sie um Hilfe gerufen. Aber niemand kam. Die Leute gingen an ihr vorbei. Einer Nymphe hätten sie geholfen, da bin ich sicher. Vielleicht auch einem Satyr. Aber keiner Nyr.«

Im Raum war es so still, dass man ein Blatt hätte fallen hören. Die kühle Seide umgab Arin ihn wie ein Kokon aus Stoff. Admiral ballte in stiller Wut ihre Hände zu Fäusten, während Mauerfuchs ihren eigenen Arm schutzsuchend umklammerte. Keine schien zu wissen, wie sie sich verhalten sollten. Doch was konnten sie tun?

Arin räusperte sich. Auch wenn er weder Kämpfer noch Anführer war, konnte er diese Ungerechtigkeit nicht ertragen. Sie sollten frei sein, nicht verfolgt und ausgegrenzt. »Wir müssen etwas tun - die Nymphen darauf aufmerksam machen, dass es uns gibt.«

»Wie?«, fragte Admiral, während Mauerfuchs ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.

»Mit der einzigen Sprache, die sie verstehen.«

Was immer die Zukunft ihm brachte, hier würde ihm kaum langweilig werden.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top