18. Jadewissen

Dain klammerte sich an den massigen Körper der Motte, während Eisfeders Libelle ihm folgte. Sein Sattel befand sich direkt hinter dem Kopf, damit er die Flügel nicht störte. Ein dünner Flaum bedeckte die Haut, die beinahe so dunkel wie seine eigene war. Nur die silbernen Flügel hoben sich von der dunklen Erscheinung ab. Barkin hatte recht gehabt: Die Viecher waren brandschnell.

Auch wenn er es vor der Eisfeder nicht zugeben würde, so war er doch froh, dass sie seine Beine am Reitgeschirr festgebunden hatte. Nicht, dass es schlimm gewesen wäre, sollte er abstürzen. Im Gegensatz zu seiner Begleiterin hatte er ja eigene Flügel, mit denen er einen Fall bremsen konnten. Der Gedanke brachte ihn zum Schmunzeln. Neben dem Sattel hingen zwei Beutel. In einem hatte Barkin Hemd und Hose hineingepackt, in welchen er versinken würde. Im anderen steckte Verpflegung. Ein halber Laib Nussbrot, etwas Käse, getrocknete Beeren und ein Glas mit Mottenfutter. Er hoffte sehr, dass sich der Inhalt nicht vermischte, denn die Fliegeneier wirkten nicht besonders appetitlich. Hinter seinem Sitz war eine Decke zusammengerollt. Warum Barkin diese Sachen lächelnd der Eisfeder überließ, wusste er nicht.

Unter ihm glitten die Baumkronen von Aeras Stadtwald entlang. Mit jedem Flügelschlag empfand er mehr Sicherheit. Dain orientierte sich und lenkte die Motte mit einem Zugband nach Norden, in Richtung des massiven Re'taz-Gebirge. Hier oben fühlte er sich dem Himmel nah. Ungewohnt nah, nachdem er sein Leben meist am Boden verbrachte. Direkt über ihm schwebte die Nachtkugel. Die riesige Fläche wurde von Elysias Monden hell erleuchtet, die es ihm ermöglichten, auch ohne seine Feensicht gut sehen zu können.

Mit einem Surren kam die Eisfeder näher. Der Körper ihrer Libelle glänzte blau, während die weißen Haare der Nymphe im Flugwind herumgewirbelt wurden. Sie passten zusammen. »Du hättest den Bärenkäfer nehmen sollen. Die sind schneller.«

Niemand, schon gar keine Seenymphe mit fragwürdigen Methoden, würde ihn dazu bringen, sich einem Käfer zu nähern. Unter keinen Umständen! Daher hatte er sich für die sanfte Motte mit ihren hellen Flügeln entschieden. Sie mochte der Libelle und auch dem anderen Vieh, was die Schnelligkeit betraf, unterlegen sein, aber sie löste weder Panik noch Brechreiz in ihm aus. Abgesehen davon war sie erstaunlich bequem. Sie glitt eher durch die Nacht, nutze Aufwinde und Dain merkte mit jedem Flügelschlag, dass sie den Ausflug genoss.

Nach nicht einmal einer Kerze veränderte sich die Landschaft. Vereinzelt tauchten Hügel auf, Vorboten der Gebirgsketten, die sich weit im Norden befanden. Dazwischen befanden sich dunkle Seen, wenige Lichtungen und düster anmutende Bäume. Sie näherten sich dem Ziel.

Dain signalisierte der Eisfeder, dass sie sich einen Landeplatz suchen würden. Zwischen den Baumriesen stach ein hoher Findling hervor, dessen zerklüfteten Seiten für ein bisschen Spaß sorgen könnten. Die Motte sank tiefer. Dain zog am Zugband und sie drehte eine Kurve über dem Stein. Trotz des rasenden Flügelschlags blieb der Flug ruhig und entspannt.

Die Eisfeder landete natürlich weitaus eleganter, aber Dain war mit seiner Leistung nicht unzufrieden. »Hier?«, fragte die Wassernymphe. Ihr Blick glitt zwischen den Stämmen hindurch.

Die Luft roch muffig, nach Moos und Wald. Gleichzeitig nahm er noch eine andere Nuance wahr. Irgendwo in der Nähe blühten Sternenglöckchen. Ein untrügliches Zeichen für die Anwesenheit einer Hexe.

Dain breitete seine dunklen Flügel aus, sprang und glitt sanft zum Boden. Dann drehte er sich um, damit er den Abstieg der Eisfeder beobachten konnte.

Sie blickte zu ihm herunter. Ihr Kopf verschwand wieder, doch anstatt am Stein hinabzuklettern, flog sie mit einem Satz plötzlich über ihn hinweg.

Überrascht trat er einen Schritt nach hinten.

Der Sprung der Nymphe endete in eine Tanne, wo sie sich am Stamm festgeklammerte und nach unten kletterte. Ziemlich schnell, wie er zugeben musste. Schade, er hatte irgendwie erwartet, dass sie mehr Schwierigkeiten haben würde. Vom letzten Ast stieß sie sich ab und landete neben ihm im weichen Moos. Hier am Boden hingen lange Silberranken von den Ästen, die ein sanftes Blick verbreiteten.

Sie wechselten einen Blick. Ein kurzer Moment, indem sie seine unausgesprochene Herausforderung anerkannte. Ihre Antwort bestand in einem eisigen Lächeln. »Geh voran, Feender.«

Der Pfad, dem er folgte, glich eher einem Wildwechsel als einem richtigen Weg durch das Unterholz. Es ging immer bergauf. Auf halber Höhe passierten sie eine längliche Lichtung. Sie sah aus, als ob ein Feuer einen Teil des Waldes verbrannt hatte, um nichts als Asche zurückgelassen hatte.

»Nicht, dass es wichtig wäre: Hätte irgendetwas gegen diese Lichtung als Landeplatz gesprochen?« Die Eisfeder blieb stehen. Ein Zweig hatte sich in ihren weißen Haaren verfangen, das im Mondlicht einen sanften Schimmer verbreitete.

»Ich glaube nicht«, antwortete er.

»Das dachte ich mir.«

Hintereinander stiegen sie weiter nach oben, bis sie zwischen den Bäumen einen schwachen Lichtschein ausmachen konnten. Es roch nach verkohlten Zweigen. Eingebettet zwischen zwei Felsen stand ein kleines Häuschen. Das Dach hing so tief herab, dass der Feender den Kopf neigen musste, als er die brüchige Veranda betrat.

Kurz überlegte er, ob es angebracht wäre, zu klopfen, doch in Anbetracht ihres letzten Auseinanderscheidens riss er die Tür auf und trat in das vollgestellte Zimmer.

Am Esstisch saß eine junge Frau mit langen schwarzen Haaren. Ihre Haut glänzte gelblich im Schein zahlloser Kerzen. Ein Löffel fiel aus ihrer Hand und landete mit einem lauten Platschen in der dampfenden Schale vor ihr. Suppe spritzte, doch sie rührte sich nicht.

In einer theatralischen Geste breitete er beide Arme aus. »Siom, Hexchen, ich bin zurück.«

Sie bleckte die Zähne und sah nicht besonders erfreut aus.

»Eine Freundin von dir?« Die Eisfeder hatte ihren Kopf zur Tür hineingesteckt. Zwischen den beiden Frauen kam ihm die Hütte noch beengter vor als sonst.

»Du diebischer Sohn eines ranzigen Teerhaufens!« Siom schien ernsthaft verärgert zu sein. Mit einem Satz sprang sie auf, so dass ihr Stuhl mit einem dumpfen Knall zu Boden ging. Sie griff nach dem Löffel, hob ihn drohend wie einen Dolch und umrundete langsam den Tisch.

Dains Nackenhaare stellten sich auf.

Hinter ihm lehnte sich die Eisfeder an den Türrahmen und verstellte damit den einzigen Fluchtweg. »Sie scheint dich gut zu kennen«, kommentierte sie.

Dain hob beide Hände und wedelte damit herum. Einerseits sollte es beruhigend wirken, auf der anderen Seite hatte er seine Hände damit genau dort, wo er sie dringend brauchen würde. »Komm schon, Hexchen. Leg den Löffel weg.«

Ihre Wiedersehensfreude war eindeutig getrübt. Siom hechtete auf ihn zu und Dain konnte einen Zusammenstoß nur durch einen Sprung nach vorne verhindern. Er brachte den Tisch zwischen sie. Sie pirschte weiter.

»Das bringt doch nichts. Du wirst dir noch selber wehtun.«

»Ich werde dich an deinen Fersen aufhängen und dir deine verlogene Zunge herausreißen.« Ihr Knurren hatte eine bösartige Färbung angenommen. Solange sie ihn mit dem Löffel jagte, war er relativ sicher.

Nachdem sie den Tisch einmal komplett umrundet hatten, hob sie ihre Hand und fing an zu murmeln. Ihre Augen glühten in einem satten Grünton auf, der die natürliche dunkelbraune Färbung überlagerte. Asche und Staub, das würde Probleme geben.

Dain erreichte sie, bevor sie ihren Spruch beenden konnte. Mit einer Hand packte er ihren Nacken, mit der anderen hielt er ihren Mund zu.

Sie versuchte ihn zu beißen. »Beruhige dich, Hexchen. Ich will nur reden.«

Ihr Fuß landete auf seinem und er unterdrückte einen Schmerzensschrei. Es reichte. Er atmete tief ein, legte jedes Quäntchen Gefühl, das er hatte, in seine Feensprech. »Es reicht.« Sein Befehl wirkte und sie hielt zitternd inne. Sanft strichen sein Finger über das kleine Jadezeichen, das zwischen ihren Schlüsselbeinen steckte.

»Man kann sagen, was man will, aber du hast wirklich ein Händchen für Frauen«, spottete die Eisfeder. Noch immer lehnte sie am Türrahmen.

Beim Klang der fremden Stimme bäumte sich Siom auf.

»Shhh, beruhige dich«, flüsterte Dain gerade noch, bevor sich die Hexe losreißen konnte.

Ihre Glieder erschlafften und sie fiel wie eine Marionette in sich zusammen, der man die Fäden durchgeschnitten hatte.

Behutsam setzte er sie auf ihren Stuhl und strich ihr eine schwarze Strähne aus dem Gesicht. Sein Kopf pochte. Die Feensprech forderte ihren Tribut. Er setzte sich auf die Tischplatte. »Ich will nur reden!«, erklärte er in seiner normalen Tonlage. Ihre Lider blinzelten und schneller als erwartet, kehrte ihr Wille zurück.

»Reden?« Sie spuckte ihm das Wort förmlich entgegen. »Ist dir überhaupt klar, was du getan hast?«

»Nein?« Zwar hatte er schon damit gerechnet, dass er sie bei seinem letzten Versuch verärgert hatte, diese unkontrollierte Wut war jedoch unerwartet. Aber zumindest schien sie nicht gemerkt zu haben, dass er die Feensprech genutzt hatte. Soweit so gut.

Ihre Augen hatten wieder ihr tiefes Schwarz angenommen. Von ihrer Magie war nichts mehr zu sehen. »Das Gift, das du mir gestohlen hast, war eine Auftragsarbeit. Du hast mich um mehrere Mondläufe zurückgeworfen.«

»Ach, das.« Er versuchte ihren Zorn mit einem Lächeln zu dämpfen.

»Ja. Das!«, fauchte Siom. »Und als ob das nicht schon schlimm genug wäre, tauchst du mit deinem neuen Liebchen in meinem Wohnzimmer auf.«

Hinter ihm regte sich die Eisfeder. »Ich bin Vieles, aber ganz sicher nicht sein Liebchen.«

Dain ignorierte sie genauso wie den Suppenfleck, der langsam seine Hose durchfeuchtete. »Nun, wo wir gerade von dem Gift sprechen - wo könnte man denn ein Gegengift auftreiben?«

»Beim achten Zirkel, warum sollte ich dir helfen?« Siom schien es ihm nicht gerade leicht machen zu wollen.

Bevor er antworten konnte, stieß sich die Eisfeder ab und trat in den Raum hinein. »Weil das Herstellen und Vertreiben von Gift gegen das Gesetz verstößt.«

Siom lachte. Es hatte einen falschen und offensichtlich höhnischen Klang. »Warum sollte mich das Aristeanische Gesetz kümmern. Ich bin eine Jadehexe.«

»Du lebst im Territorium von Aristea. Das Gesetz ist auch für dich bindend.« Die Eisfeder verschränkte ihre Arme.

»Und wer will es hier durchsetzen?« Das Gespräch mit der Eisfeder schien Siom auch nicht zu beruhigen.

»Wenn es sein muss.« Die Stimmer der Eisfeder war kälter als die Winter in Volkolak.

Noch immer gab Siom nicht nach. »Du? Und welche Armee?«, höhnte die Jadehexe.

Dain beschloss, das Spektakel zu beenden. »Sie braucht keine, so heißt es zumindest. Gestatten, dass ich euch vorstelle?« Ohne auf eine Antwort zu warten, sprach er weiter. »Siom, dort steht die Eisfeder. Eisfeder, das hier ist Siom Grünwalder, ihres Zeichens Jadehexe.«

Das Gesicht der Hexe verfärbte sich erst rot, dann blass. Damit war klar, dass sie die Gerüchte über seine Begleiterin kannte. »Gegen das Gift des Rotbauchteichlings gibt es kein Gegengift.«

Dains Herzschlag setzte für einen Moment aus. So war das also. Die Schlinge um seinen Hals war deutlich zu spüren.

»So ist das also.« Eisfeders Stimme sang ein Lied von Eis und Kälte.

Siom kratze an dem eingetrockneten Suppenfleck am Tisch. »Jedenfalls keines, das ich kenne. Der Sommermarkt öffnet in wenigen Tagen an der Grenze zu Volkolak. Wenn jemand helfen kann, dann werdet ihr ihn dort finden.« Sie vermied jeglichen Augenkontakt, als ob nur die verschüttete Suppe noch wichtig wäre. »Ich würde mir allerdings nicht viel Hoffnung machen.«

Wieder war es die Eisfeder, die antwortete. »Verstehe. Was sind die Symptome?«

Sioms Stimme klang weit entfernt, als sie den Inhalt ihres Hexenbuchs aufsagte. »Das Gift des Rotbauchteichlings ist tückisch. Es fängt harmlos an. Der Geruchssinn wird sensibler. Den Betroffenen plagt ein Gefühl der Unruhe, er schwitzt und sein Herz rast. Sein Warm-Kalt Empfinden wird gestört. Als nächstes kommen die Muskelschmerzen, der Körper fängt an zu zittern. Diese Abwehrreaktion wird oft mit einer Erkältung verwechselt. Manche fiebern.«


Dain griff nach jedem Schilfrohrzweig. »Aber ist es nicht gut, wenn sich der Körper wehrt?«

»Eigentlich schon, aber dadurch wird das Gift immer weiter transportiert, sodass sich der Befall verstärkt. Waren am Anfang die Sinne betroffen, ist nun das Herz gefährdet. Es ist nichts, was ausgeschwitzt werden kann. Der Körper überreizt. Die Konzentration ist erschwert, vielleicht auch das Sehvermögen. Das Opfer wird Kopfschmerzen bekommen. Dann Krämpfe. Zuerst versagen die Organe, kurz danach der Kreislauf. Zum Schluß erscheint der Tod wie eine Erlösung.«

In der Hütte wurde es so kalt, dass Dain seinen Atem sehen konnte.

»Wie lange hat mein Bruder noch zu leben?«

Siom griff nach seinem Arm. »Was hast du getan?«

Das fragte sich der Feender auch.

»Wie lange?«, wiederholte die Eisfeder und machte einen Schritt auf Siom zu.

Die Finger der Hexe krallten sich schmerzhaft in seine Haut. »Vielleicht vier Mondumläufe.«

Ohne ein weiteres Wort verließ die Eisfeder die Hütte.

Sioms weit aufgerissene Augen leuchteten wie nächtliche Seen. »Wenn du das hier überlebst, reden wir.«

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