14. Traumfinder
»Wie geht es ihr?«, fragte eine zierliche Nyr, deren lange blonde Haare ihr bei jeder Bewegung ins Gesicht fielen. Sie trug trotz der Wärme einen langen roten Mantel, der eng um ihren Körper geschlungen war.
Arin hatte mit den anderen im Schankraum auf Neuigkeiten gewartet und nun trat Admiral aus dem Gang auf die Gruppe zu. »Besser, Mauerfuchs. Sie hat viel Blut verloren. Einer ihrer Flügel ist gebrochen, der andere mindestens verstaucht. Trauermantel hat ihre Wunden genäht.« Jemand reichte Admiral ein Glas Wasser, das sie annahm und in einem Zug austrank. »Es waren so viele. Irgendein Faulholz hat ihr wirklich weh tun wollen.«
Einige der Nyrs fingen an zu tuscheln, die Stimmen wütend oder entsetzt gefärbt. Der größte Teil jedoch blieb still.
Arin wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte Frostvogel nur kurz am vorangegangen Abend getroffen, kannte weder ihr Leben noch ihren Charakter. Aber egal was vorgefallen war: niemand verdiente es, so zugerichtet zu werden.
Admirals Blick wanderte über ihn, bevor sie wieder zu seiner Sitznachbarin sprach. »Ich habe den Jungen hier gestern aufgenommen, doch jetzt muss ich mich um Frostvogel kümmern. Kannst du ihn herumführen, ihm alles zeigen und einen der leeren Räume herrichten? Er heißt Apollon.«
Mauerfuchs warf ihm unter gesenkten Lidern einen prüfenden Blick zu, bevor sie nickte.
Admiral wirkte sichtlich erleichtert. Ihre klugen Waschbäraugen zwinkerten ihm noch freundlich zu, dann drehte sie sich um. Ohne die prunkvollen Gewänder und den fließenden Gang wirkte sie beinahe wie ein einfacher Satyr. Doch nicht ganz. War es die Haltung? Die Art, wie sie den Kopf bewegte? Egal was es war, Admiral war etwas Besonderes und würde nie den anderen Fischen im Teich gleichen.
»Komm mit.« Mauerfuchs hatte sich erhoben und schob ihre Hände in die Ärmel des roten Mantels. Jedoch führte sie Arin nicht zu den Quartieren, sondern hinter den Tresen. Es war eng neben all den Fässern und Flaschen, doch es reichte für Zwei. An einer Wand aus harter Erde hingen mehrere Regalbretter. Darauf standen kleine, große, feuerfeste und bauchige Gefäße wie Soldaten ordentlich nebeneinander, jederzeit bereit für ihren Einsatz. Wenn man zwischen den Tischen entlang ging, konnte man leicht vergessen, dass man sich tief unter der Erde befand. Hier gelang das nicht.
Die Theke selbst war aus einer Wurzel geformt, deren Oberfläche zwar glänzte, die aber immer noch zu leben schien. Über dem Schanktisch hingen kleine Laternen, welche die Arbeitsfläche beleuchteten.
Mauerfuchs drehte ihm den Rücken zu, bewegte etwas und zog ein Fass von der Wand weg. Nun klaffte genau an der Stelle ein Loch, das von dicken Balken eingerahmt wurde. Geduckt hielt sie ihre Haare fest und schlüpfte hindurch.
Das unbehagliche Gefühl ignorierend, das Arin immer beschlich, wenn ihm etwas zu klein erschien, folgte er ihr.
»Natürlich kann ich dir noch nicht zeigen, wie der Mechanismus funktioniert, aber du solltest wissen, dass wir einen weiteren Ausgang haben.« Die Nyr strich sich zögerlich eine Strähne hinter das Ohr. »Falls es drinnen mal gefährlich werden sollte.«
Gestern noch hätte Arin nicht verstanden, warum ein solcher Tunnel notwendig sein könnte. Doch Frostvogels gekrümmter Körper hatte mehr als deutlich gemacht, dass auch dieser Ort Gefahren bot.
Mauerfuchs nahm einen Glimmstein aus ihrer Tasche, der sanftes Licht spendete. Der Gang bestand aus roher Erde, die nur unregelmäßig von Balken gestützt wurde. Er schien einer Ader aus fluoreszierenden Flechten zu folgen, die im Lichte des Steins grünlich schimmerten. Arin musste den Kopf einziehen, um sich nicht ständig an ihnen zu stoßen.
Ab und an versperrte eine Wurzel den direkten Weg, so dass der Tunnel unerwartete Windungen hatte. An diesen Stellen war er so eng, dass Arin anfing zu schwitzen. Zweimal teilte sich der Gang. Er wollte schon Fragen stellen, doch dann ertönten Stimmen aus einer der Abzweigungen und Mauerfuchs zog ihn am Ärmel hinter sich her.
Die Luft wurde frischer, je höher sie stiegen und endlich erreichten sie den Ausgang, für Unwissende von einem unscheinbaren Busch verborgen.. Ein ausgetrocknetes Flußbett. kam in jetzt sein Blickfeld. Arin hätte nie vermutet, dass sich hier mehr verbergen könnte als Erde und Moos.
Mauerfuchs drehte ihren Kopf in Richtung der Blätterkronen und atmete tief ein. Der Wind spielte mit ihren Locken und legte fellbedeckte Ohren frei. Dann nahm sie auf einem umgestürzten Baumstamm Platz.
Unschlüssig blieb Arin stehen. Was erwartete sie von ihm?
Die Nyr griff in die Manteltasche und förderte ein gerolltes Blatt zutage. Sie zögerte. »Möchtest du auch einen Traumfinder?«
Auch wenn Arin das Rauschkraut nicht selbst nahm, wusste er doch ungefähr vom Wert eines solchen Angebots. »Danke, lieber nicht«, erwiderte er.
Mauerfuchs nickte nur und klemmte sich das Blatt zwischen die Lippen. »Es wird der Tag kommen, an dem auch du hin und wieder aus diesem Leben fliehen willst, so schön es dir im Moment noch erscheinen mag.«
Arins Blick folgte den Rauchkringeln, die sie ausblies. Jedes Leben hatte seine Schattenseite.
Obwohl Mauerfuchs schön war, fast schon ätherisch, strahlte sie eine innere Zerbrechlichkeit aus. Sie war klein und schmächtig, glich am ehesten von allen Nyrs einer richtigen Nymphe. Mit tiefen Zügen inhalierte sie das Kraut, bis eine Wolke aus duftenden Kräutern sie beide einhüllte. Schließlich war es die blonde Nyr, die das Schweigen brach. »Normalerweise reicht es mir, wenn ich singen oder spielen kann, aber dieser Vorfall öffnet alte Wunden.«
Um sie nicht zu verschrecken, nahm Arin auf einer Wurzel Platz und beobachtete die Pilze, die neben ihm wuchsen. Die blassen Wulste des Eitrigen Krötenbauchs zum Beispiel oder die gräulichen Stängel des Steinfusses.
Mauerfuchs versank in ihrem roten Mantel, während sie Wolke um Wolke in Richtung der Baumkronen blies. »Warum hassen sie uns für das, was wir sind?«, fragte sie leise, als sie den Rest ihres Blattes ausdrückte.
Auch wenn Arin sich schon immer anders gefühlt hatte, ausgegrenzt oder schlecht behandelt hatte man ihn nie. Der Schatten seiner Schwester war dafür zu groß gewesen.
Mauerfuchs schien keine Antwort zu erwarten. Ruckartig stand sie auf, nur um gleich wieder zurückzufallen. Erst schaute sie ihn nur verwirrt an, dann kicherte sie. Das Rauschkraut entfaltete seine Wirkung.
Der blasse Dunst um sie herum hatte sich zwar längst aufgelöst, trotzdem konnte er beinahe noch den Traumfinder riechen. Würzig und herb, aber mit einer süßen Note. Zwar hatte sich die Laune seiner Begleiterin deutlich gebessert, doch müsste er sie jetzt irgendwie wieder zurück bringen. Als er aufstand, spürte er einen Schwindel, der auch ihn wanken ließ. Arin schüttelte den Kopf, doch er konnte sich nicht befreien. »Komm«, nuschelte er, als er Mauerfuchs seine Hände hin streckte. »Ich bringe dich zurück.«
»Richtig. Wir müssen uns ja noch um dein Zimmer kümmern.«
Arin war sich nicht ganz sicher, ob Mauerfuchs gesprochen hatte, oder der Eitrige Krötenbauch, dessen augenbrauenförmiger Wulst ihm gerade zuzwinkerte. Es war aber eigentlich auch gar nicht so sicher. Mit einem Lächeln hakte er sich bei Mauerfuchs ein und gemeinsam kehrten sie in die Dorada zurück.
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