Hanahaki- Verhängnisvolle Narzissen

»Sie gehören alle dir, jede Blüte, jede Blume. Dir soll ein ganzer Garten gehören, an dem mein Herz vergehen wird.«

~*~

„So Leute, das war es auch schon wieder mit dem heutigen Video. Ich hoffe es hat euch gefallen und-"

Nein, das hoffen wir nicht. Geht euch vergraben!", unterbrach Gisela die Abmoderation von Tim, was ihm ein Schmunzeln entlockte.

„Doch, wir hoffen es geht euch allen gut und dass wir uns in unserem nächsten Video wiedersehen.", brachte Jan den Satz zu Ende und winkte freundlich in die Kamera. Tim stand von der Couch auf, um das Video zu beenden. „Sehr schön, mal wieder eine erfolgreiche Kochstunde hinter uns gebracht.", scherzte er.

Jan blickte den Tisch an, jedenfalls das, was noch davon übriggeblieben war. Tomatenreste waren auf der gesamten Tischplatte verteilt und ihr roter Saft tränkte einige Küchentücher. Etwas Gewürz war hier und da verteilt worden, anscheinend überall, nur nicht in der Tomatensauce, deren Reste auf der Herdplatte standen.

„Zumindest hat die Sauce gut geschmeckt", merkte Jan an und versuchte die Messer ohne motorische Tics in die Küche zu räumen.

„Du meinst, obwohl die Nudeln viel zu weich waren?" Beide mussten über Tims Aussage lachen.

Es stimmte. Die Nudeln hatten wirklich nicht gut geschmeckt und an der Sauce war viel zu wenig Gewürz, aber Jan hätte diesem Essen keine Mahlzeit der Welt bevorzugt. Denn sie hatten es gemeinsam zubereitet, mit Hingabe und Leidenschaft.

Nachdem der Größere die Kamera und das Stativ abgebaut hatte, beschloss er, sich erst einmal einen neuen Pullover anzuziehen.

„Kann ich mir ein Oberteil aus deinem Schrank nehmen?"

Jan schaute auf und betrachtete das Gematsche auf Tims Ärmeln. „Ein weißer Pullover war wohl nicht die beste Entscheidung, was?"

Tim fasste das als ein ‚Ja' auf und machte sich auf den Weg in Jans Schlafzimmer. Es war nichts Besonderes gewesen, sie liehen sich ständig die Sachen des anderen aus und würden sie bei ihrem nächsten Besuch wieder zurückgeben.

Tim öffnete die Schranktür und durchstöberte die Klamottensammlug seines Freundes, bis er sich für einen schwarzen Hoodie aus ihrem Online-Shop entschied, den er sich schnell überwarf, nachdem er seinen alten Pullover zu Jans Wäschestapel gelegt hatte.

Der Braunhaarige unternahm noch einmal einen kleinen Umweg in Jans Badezimmer, um seine Haare zu richten, die sein Freund durcheinandergebracht hatte. Tim schaltete das Licht ein und betrachtete sich im Spiegel, als er in der Reflektion etwas auf dem Boden liegen sah. Erst sah es nur aus wie ein kleiner blauer Fleck, doch als sich Tim umdrehte darauf zulief, um das Etwas genauer zu betrachten, erkannte er, dass es sich um etwas Pflanzliches handelte.

Er kniete sich auf den Boden, um es aufzuheben und wunderte sich, ob es eine Blüte war, die er gerade in den Händen hielt.

Ein zartes Himmelblau zierte den Rand des dicken Gebildes und ein kräftiges Ozeanblau füllte die Mitte. Tim wusste genau, zu welcher Blume diese Blüte gehörte. In dieser Farbe waren sie äußerst selten zu finden, doch es waren ihre Lieblingsblumen, auch wenn Jan nicht wusste, dass Tim sie ebenfalls liebte. Es war ein Blütenblatt einer blauen Orchidee, das Tim schon länger nicht mehr gesehen hatte, weil kein Laden in ihrer Stadt diese Blumen mehr verkaufte.

Warum sollte Jan so etwas in seinem Bad haben? Nirgendwo im ganzen Haus habe ich eine blaue Orchidee gesehen.

Tim dachte sich nichts weiter dabei und warf die Blüte schulterzuckend in den Mülleimer im Flur, als er sich wieder auf den Weg in die Küche begab, wo Jan bereits mit dem Abwasch fertig war. „Na du hast dir aber Zeit gelassen.", kommentierte er Tims lange Abwesenheit schmunzelnd.

„Ich habe etwas im Bad gefunden."

Sofort horchte Jan auf. Hatte Tim es herausgefunden? War nun alles vorbei? Das jahrelange Zittern und Geheimhalten, vielleicht sogar ihre Freundschaft? Wie würde Jan etwas erklären, dass zu blutbespritzten Blumen im Badezimmer führte?

„Hast du hier blaue Orchideen?" Jan fühlte sich, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Ihm wurde schwindelig und er versuchte gegen das Pochen in seinem Kopf anzukämpfen, dass es ihm schwer machte, klar zu denken. Tim schaute ihn mit durchbohrendem Blick an. Er hatte es herausgefunden, Jan würde es ihm erzählen müssen, oder?

„Warum, w- was ist damit?", fragte er zögernd und versuchte, seine Schnappatmung zu verbergen. Ihm war aufgefallen, dass er schon längere Zeit keine Tics mehr gehabt hatte. Er musste sich nun konzentrieren, keinen Anfall zu bekommen.

Plötzlich wandte Tim seinen Blick von ihm ab und zuckte mit den Schultern. „Ich hab ein Blütenblatt im Bad gefunden, aber keine Orchidee hier herumstehen sehen und hab mich gewundert." „I- Ich habe ein paar für meine Mutter im Internet bestellt, als Geschenk." Jan fiel ein Stein von Herzen, als Tim verständlich nickte. Er schien ihm zu glauben.

Tim setzte sich an den Küchentisch und blickte seinen Freund erneut an. „Wusstest du, dass es meine Lieblingsblumen sind?"

Jan stand immer noch in der Küche und versuchte, sein Herzrasen wieder zu beruhigen. Das wusste er nicht. Ob es Zufall gewesen war, dass Jan ausgerechnet blaue Orchideen spuckte? Vielleicht gab es wirklich so etwas wie Schicksal, dass ihm die Hanahaki-Krankheit mitsamt der Lieblingsblumen der beiden gegeben hatte.

Jan wusste nicht so recht, was er mit dieser Information anfangen sollte, aber er wusste, dass es den Punkt nicht erträglicher machte, dass er an den Blumen in seiner Lunge langsam aber sicher erstickte.

Ratlos sah sein bester Freund ihn vom Tisch aus an, als könnte er fühlen, in was für einer Lage sich Jan befand, auch wenn er keinen Schimmer hatte, was gerade in seinem besten Freund vorging.

„Nein, ich hatte keine Ahnung, dass du die Blumen auch magst.", antwortete Jan schließlich, mit einem gekränkten Lächeln. Tim spürte, dass etwas mit ihm nicht stimmte. In all den Jahren in denen sie sich kannten, wusste Tim immer, wann es seinem Freund schlecht ging, doch diesmal traute er sich nicht nachzufragen. Er spürte, dass Jan dieses Thema aus irgendeinem Grund unangenehm war und Tim wollte danach fragen, doch er würde vermutlich sowieso keine Antwort erhalten, sollte er jetzt darauf herumhacken.

„Ich muss jetzt aber wieder los, Henry wartet sicher schon.", durchbrach Tim die Stille, die eingekehrt war. Jan nickte nur und begleitete Tim zur Tür, nachdem Gisela ihn zum Abschied einige Male beleidigt hatte.

„Ich hab dich auch lieb Gisela.", war Tims einzige Reaktion gewesen, als er seine Schuhe angezogen hatte, aus der Tür trat und das Treppenhaus hinunterlief.

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Als Jan die Tür hinter seinem Freund schloss, musste er sich an sie anlehnen, damit seine Beine nicht den Halt verloren. Die ganze Zeit hatte er sich gefragt, was gewesen wäre, hätte Tim an diesem Tag von seiner Krankheit erfahren. Was hätte es für ihre Freundschaft bedeutet? Jan wollte sich gar nicht Tims erschrockenes Gesicht vorstellen und die Enttäuschung in seinen Augen.

Auf einmal spürte Jan das vertraute Kratzen in seinem Hals.

Nein, diesmal nicht.

Jan unterdrückte seine furchtbaren Gedanken und Vorstellungen und versuchte seine Konzentration darauf zu richten, was an diesem Tag gut gelaufen war. Sie hatten erfolgreich ein neues Video aufgenommen, für das er sofort wieder Werbung in seiner Instagram-Story machen würde, sobald es erschien. Er hatte herausgefunden, dass Tims Lieblingsblume ebenfalls eine blaue Orchidee war, was ihm ein zärtliches Lächeln auf die Lippen zauberte, welches sein Tourette durch eine Grimmasse allerdings sofort wieder verschwinden ließ. Ticbedingt zeigte er dem Bild in einem Flur den Mittelfinger und begab sich wieder auf den Weg in die Küche.

Vielleicht sollte er Tim schreiben, wie schön er den heutigen Tag mit ihm fand. Das tat er öfters und freute sich jedes Mal, wenn Tim ihm die Bestätigung zurückschickte, dass er sich schon auf ihr nächstes Treffen freute.

Also griff Jan nach seinem Handy und versuchte WhatsApp zu öffnen, was ihm durch Gisela erschwert wurde. Als er endlich Tims Chat geöffnet hatte, tippte er die Worte ein ‚War schön heute, freue mich schon auf das nächste Mal.', drückte auf ‚Senden' und legte sein Handy weg.

Jan setzte sich auf sein Wohnzimmersofa und schaltete den Fernseher ein, während er auf Tims Antwort wartete. Eine halbe Stunde verging wie im Flug und Jan wunderte sich, dass sein Handy nicht vibrierte, um ihm anzuzeigen, dass er eine Nachricht bekommen hatte, doch vielleicht war Tim beschäftigt. Aber auch nach nochmal einer Stunde hatte Jan noch keine Nachricht von seinem Freund erhalten.

Was er aber sah, war, dass Tim die Nachricht schon vor 25 Minuten gelesen hatte. Warum antwortete er also nicht endlich? Tim antwortete immer auf Jans Nachrichten. Warum also jetzt nicht?

Hatte Jan etwas Falsches gesagt? Wieder und wieder las er sich seine letzte Nachricht durch, aber konnte einfach keinen Grund finden, warum Tim ihm nicht zurückschreiben sollte.

Und plötzlich konnte Jan es nicht mehr kontrollieren. Er hatte das Brennen in seinem Hals ignoriert, zusammen mit dem unerträglichen Druck, der von seiner Lunge zu kommen schien. Es war wieder einmal soweit und diesmal konnte Jan es nicht ignorieren. Rasch rannte er in sein Badezimmer und beugte sich über das Waschbecken, als er schon die erste Blüte seinen Hals hinauf klettern spürte, die ihm den Atem raubte.

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So, wie hat euch dieses Kapitel gefallen? Ich beginne langsam Gefallen an Drama in dieser Story zu finden, mal sehen was daraus wird! Liebe Grüße ~Adler

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