Hanahaki- Fragender Flieder

»Noch atme ich, noch will ich dich nicht vergessen. Und mein Herz wächst mit jedem Zentimeter den du zwischen uns bringst, um deines zu erreichen. Bis es dich berührt. Eines Tages.«

~*~

„Wie war es heute bei deiner Ärztin?", fragte Tim in den viel zu groß erscheinenden Raum, in dem eine unangenehm bedrückende Stille herrschte.

Seitdem er Jan auf dem Parkplatz abseits der Praxis wieder abgeholt hatte, lag eine quälend merkwürdige Stimmung zwischen den beiden, die selbst während des Mittagessens und des darauffolgenden Nachmittags bei Jan keiner auflösen konnte, bis auf Gisela, die hin und wieder die dicke Luft lockerte.

Mittlerweile war es Abend geworden und Jan hatte es nach ein paar Problemen geschafft, für sich und Tim asiatisches Essen bei einem Lieferdienst zu bestellen. Keiner der beiden war in der Stimmung selbst zu kochen.

Jans Schuldgefühle jedoch wurden über den Tag nicht weniger; im Gegenteil, er stellte sich regelmäßig Tims enttäuschtes Gesicht vor, als sein bester Freund vom Parkplatz gefahren war, um Jan bei der Ärztin allein zu lassen.

Tim blickte fragend von seinem Essen auf und sah zu Jan, der neben ihm auf dem Sofa saß und nachdenklich in die Luft starrte, anstatt ihm eine Antwort auf seine Frage zu geben. Als Jan den Blick bemerkte, wendete er sich schnell ab, ohne Augenkontakt zu suchen.

Scheiße, ganz schrecklich. Er war normal, so wie immer halt.", antwortete Jan und aß unbeeindruckt weiter.

„Aha.", kam es von Tim zurück, doch Jan wusste, dass er noch mehr forderte. Er kannte seinen Freund, vermutlich besser als jeder andere Mensch auf diesem Planeten. Und genauso erkannte er, dass Tim mit dieser Antwort nicht zufrieden war, nein, er klang genervt und sogar enttäuscht.

„Was erwartest du? Es war nichts ungewöhnliches." Mit jedem Wort, dass er log, schnürte sich Jans Kehle weiter zu, bis er kurzzeitig das Gefühl hatte, nicht mehr atmen zu können.

„Ich hab keinen Hunger mehr." Der Größere stellte sein Essen auf den Tisch vor sich und sah bedrückt zu seinem Gegenüber, bis er es nicht länger aushielt. „Warum lügst du mich an?"

Jan fühlte sich, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggerissen. Seine Gedanken waren nur bei Tim, der vor ihm saß und ihn verzweifelt anblickte, mit einem Gesichtsausdruck, den Jan noch nie zuvor gesehen hatte. Wie Pfeilspitzen bohrten sich Tims Blicke in Jans Geist und er wusste, dass er diesen Augenblick der Enttäuschung niemals vergessen würde.

Tim hatte es herausgefunden. Natürlich hatte er das, er war die schlauste Person die Jan kannte. Wie hatte er sich je erlauben können zu glauben, dass Tim ihm seine Lüge abgekauft hatte.

„Ich-", Jan versuchte einen vernünftigen Satz in seinem Kopf zu bilden, doch er scheiterte kläglich. Nicht nur sein Tourette ließ ihn immer wilder seine Arme hin und her schleudern, sondern auch Tim ließ seinen Blick nicht einmal von Jan ab, der zu unterdrücken versuchte, einfach von der Couch aufzustehen und zu gehen. „Ich... kann es dir nicht erklären. Bitte, du musst das verstehen." Jan fühlte Tränen in sich aufsteigen, die seine Sicht vernebelten.

Er durfte Tim nicht damit belasten, dass er sich in ihn verliebt hatte. Tim würde geschockt und verwirrt sein. Was, wenn er einfach aufstünde und die Wohnung verlassen würde? Das hier wäre ihr vermutlich letztes Abendessen zusammen; es wäre nie wieder etwas wie zuvor.

Plötzlich schloss Tim seine Augen, drehte seinen Kopf von Jan weg und legte ihn in seine Hände. „Ach weißt du was, ist schon ok." Er blickte wieder auf, strich sich mit der Hand durch die Haare und ließ sich nach hinten an die Sofalehne fallen, gefolgt von Jans Blicken. „Es tut mir leid."

Was? Hatte Tim sich gerade bei ihm entschuldigt? Obwohl es eigentlich Jan sein müsste, der um Entschuldigung bettelnd auf dem Boden liegen sollte?

„Ich mische mich viel zu viel in dein Leben ein. Es ist deins und das war dein Termin, ich sollte nicht mehr als die mentale Unterstützung sein."

Ach Tim, wenn du wüsstest, dass du noch so viel mehr bist als das.

„Nein. Bitte hör auf so etwas zu sagen. Du bist nicht nur meine Unterstützung, du bist mein Lichtblick." Jan konnte nicht mehr kontrollieren, welche Worte seinen Mund verließen.

Doch anstatt einer Abweisung, erhielt Jan einen liebevollen Blick, der seine Tics weniger wurden ließ. Tim richtete sich auf und sah Jan in die Augen. „Jan, kann ich dir eine Frage stellen?"

Plötzlich machte sich Jan auf alles gefasst. Konnte es etwa sein, dass- Nein. Er musste sich solche Gedanken aus dem Kopf schlagen. Schnellstens. Tim fühlte nichts weiter für ihn als Freundschaft.

„Wollen wir zusammenziehen?"

Ein Ziegelstein. Wie ein Ziegelstein traf Jan dieser Satz mitten ins Gesicht. Unerwartet und fürchterlich hart. Sollte er sich nicht eigentlich freuen? Der Mensch, den er mehr liebte als alles andere auf dieser Welt hatte ihn gerade gefragt, ob sie ihr Leben miteinander teilen wollten, in einer gemeinsamen Wohnung, nie wollte er irgendetwas mehr.

Doch was in seinem Inneren überwog war die Angst und der Schmerz, den der Abdruck des Steines auf seiner Haut hinterließ. Schmerz, den er nicht zu lindern wusste. Wie würde er es überstehen so nah bei Tim zu sein? Es ging nicht, nicht unter seinen Umständen; den Umständen der Hanahaki-Krankheit.

Die Blumen würden schneller wachsen, größer werden und Jan würde noch weniger Zeit bleiben. Zeit, die er allerdings näher an Tim verbringen könnte als je zuvor.

Was also sollte er in seiner Verzweiflung gegen die größer werdenden Glücksgefühle tun, die letztlich vollkommen sein Handeln übernahmen. Jan nickte und lächelte und freute sich mit Tim gemeinsam über ihre Zukunft, doch dann überkam ihn etwas, was er gehofft hatte besiegt zu haben.

Ich bin nichts Besonderes.

Warum sollte Tim mit jemandem wie mir zusammenziehen?

An mir gibt es nichts Liebenswertes.

Jan versuchte seine Gedanken zu unterdrücken, doch sie fanden immer wieder einen Weg an die Oberfläche. Und als hätte Jan es geahnt, spürte er ein rasierklingenscharfes Kratzen in seinem Hals.

Er versuchte es zu unterdrücken, genauso wie seine Tics, doch aus dem Räuspern wurde ein Husten, dass Tim nicht überhören konnte. „Hast du dich an irgendwas verschluckt?"

„Nein... es ist nur-", versuchte Jan auf Tims Frage gelassen zu antworten, doch ein Husten schnitt ihm die Worte ab und ließ ihn nach Luft ringen. Jan hielt sich die Hand vor den Mund und konnte das Kratzen in seinem Hals einfach nicht abstellen, was Panik in ihm aufsteigen ließ.

Als Tim bemerkte, dass es seinem Freund alles andere als gut ging, rannte er in die Küche und wäre fast auf seinen Socken ausgerutscht, um Jan ein Glas Wasser zu bringen, was dieser in einem Zug austrank.

Kurz schien der Hustanfall sich beruhigt zu haben, doch dann spürte Jan das Kratzen erneut, doch diesmal bemerkte er außerdem den Druck, der von seiner Lunge ausging und sich durch seine Gliedmaßen bahnte wie eine toxische Substanz.

Er wusste, dass er schleunigst in sein Badezimmer musste, weg von Tim. Jan stand vom Sofa auf und bahnte sich seinen Weg durch die Wohnung und ließ einen völlig verwirrten Tim in seinem Wohnzimmer zurück. „Jan?" Doch er war schon verschwunden.

Tim wusste sich nicht weiter zu helfen, als seinem Freund nachzulaufen, denn er wollte helfen, doch wusste nicht, dass er so alles noch schlimmer machen würde.

Also lief er den langen Gang entlang nach hinten, folgte den lauten Hustern, die durch die gesamte Wohnung hallten und die Sorgen immer weiter in ihm aufsteigen ließen. Doch als er die Badezimmertür aufriss, bekam er einen Anblick zu Gesicht, den er wohl nie erwartet hätte.

Jan hing über dem Waschbecken, nach Luft ringend, noch nicht einmal in der Lage einen Blick zu seinem Freund zu riskieren. In Tims Augen spiegelte sich pure Angst, als er Jan in dieser Verfassung sah; die Hände vor den Mund haltend und beinahe erstickend, sodass der Größere lediglich gelähmt in dem Türrahmen stehen bleiben konnte.

Und als die Heiserkeit Jan schon hörbar überkam, spürte er einen gewaltig großen Brocken in seinem Hals, der sich den Weg zu seinem Mund bahnte, und den Jan hörbar laut ausspuckte, gefolgt von einem erlösenden Keuchen. Der Braunhaarige starrte auf das Objekt in seiner Hand, doch was auf den ersten Blick lediglich nach einer beunruhigenden Menge Blut aussah, entpuppte sich zu etwas Großem und Festem. Nach genauerem Hinsehen bemerkte Jan schließlich das schillernde Blau, dass durch die Blutspritzer zu sehen war. Es war soweit; er befand sich in der letzten Phase der Krankheit, denn das Etwas in seiner Hand war nichts anderes als eine große, ganze Blüte einer blauen Orchidee.

Der Kleinere hatte nicht bemerkt, dass sich sein bester Freund, der sich immer noch Sorgen um ihn machte, mittlerweile hinter ihn an das Waschbecken getreten war und ebenfalls die Blüte in Jans Hand betrachtete, die inzwischen vollständig sichtbar war.

„Was zum-" Tim hielt es nicht mehr aus. Er musste wissen, was um Himmels Willen er gerade sah.

„Jan schrak zurück, als er Tim bemerkte, der über seiner Schulter hing. „Ich- Ich kann das erklären...", stammelte Jan und blickte Tim an, dessen Augen immer noch auf die Blüte in Jans Hand gerichtet waren.

„Du hast Hanahaki?" Jan stutze. Die Frage klang nicht etwa fassungslos oder aufgebracht, sie klang eher sanft und besorgt. Tim wusste also, welche Schmerzen sein Freund im Moment ertragen musste; oder zumindest kannte er die Krankheit.

„Mein Onkel hat mir davon erzählt als ich klein war, aber ich dachte immer es wären nur seine alten Geschichten.", redete Tim weiter, als er von Jan keine Antwort über das Offensichtliche erhielt. „Wie viel Zeit hast du noch?"

Jan wollte schreien, Tim von den vergangenen Monaten erzählen, sein Leiden loswerden und endlich darüber sprechen; er wollte Tim um den Hals fallen und ihm sagen wie sehr er ihn vermisste, obwohl sie sich beinahe jeden Tag sahen. Er wollte Tims Lippen auf seinen spüren, um die Distanz und die Sehnsucht loszuwerden und wollte seinem Freund sagen, dass er der Grund für Jans Leiden war.

Doch etwas hielt ihn zurück. Vielleicht war es Dummheit, oder die Furcht vor dem Ungewissen, aber er traute sich nicht, Tim die gesamte Wahrheit zu sagen. „Mir bleibt nicht mehr lang, vielleicht eine bis zwei Wochen. Wenn ich Glück habe einen Monat."

Tim nickte verständnisvoll. „Du musst mir nicht erzählen warum oder für wen du so leidest, aber ich hoffe die Person hat es verdient."

Oh Tim. Die Sehnsucht.

„Nur,", sprach Tim weiter und lief aus dem Badezimmer „bitte stirb nicht. Ich brauche dich." ...Auch wenn du mich wahrscheinlich nie lieben wirst. ,ergänzte Tim schmerzerfüllt in seinen Gedanken.

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