Kapitel 33 - Tote Männer

„Auch wenn ihr noch hundert Mal nachfragt, wir fahren nicht", murrte der Seefahrer. Kakuzu konnte es nicht fassen.

„Wieso nicht? Du hast gesagt, wir sollen heute herkommen." Er gab sich keine Mühe seinen Unmut zu verbergen. Zwei Tage Warterei vollkommen umsonst. Nichts an dieses Reise lief je ohne Mühe ab.

Der Seefahrer gab sich unbeeindruckt von Kakuzus Sorgen und gereizten Nerven. „Keiner darf mehr raus, sogar die Fischer nicht. Die Stadt wird abgeriegelt."

„Wer hat das veranlasst?", wollte Shouta wissen.

Der Seefahrer zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich? Ich weiß nur, dass Soldaten heute früh da waren und unsre Ware eingesackt haben. Im Namen des Königs, wenn ihr heute rausfahrt, werdet ihr hängen und so weiter und so fort. Diese verdammten Hurensöhne..."

Er spuckte auf dem Boden. „Kann euch auch nicht mehr sagen und besser ist's, wenn ihr jetzt abhaut, sonst wird noch jemand misstrauisch."

Also verzogen sie sich.

„Wir könnten schauen, ob wir einen Händler bestechen, kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass niemand mehr raus darf", sagte Shouta, der die Hände in den Taschen vergrub. Seitdem er gestern vom Treffen mit den Dieben zurückgekommen war, war er still geworden und auch in dieser Nacht hatten die Toten Shouta keine Ruhe gelassen.

„Wir können es versuchen, aber ich weiß nicht, ob es klug ist, wenn du dich weiter zeigst." Mittlerweile würde man nach ihm suchen. Kakuzu glaubte nicht, dass irgendwer etwas versuchen würde, solange er dabei war, aber sie sollten sicher gehen.

Shouta seufzte tief. „Ja, du hast ja recht."

Er zog sich die Mantelkapuze ins Gesicht und den Schal über die Nase.

„Für dich muss es ja ganz gut sein, dass wir nicht wegkönnen. Du kannst noch das Geld haben, das Ára versprochen hat."

„Hm", machte Kakuzu.

„Reicht dir mit der Kälte, was?"

„Könnte man so sagen, ja." Tatsächlich hatte er sich Gedanken darum gemacht. Und ja, Sadaos Vermögen plündern zu können war eine verlockende Gelegenheit, aber aus Orora zu kommen, war eine größere. Er hatte die Schnauze voll von schlecht isolierten Häusern und dem nasskalten Wetter. Und noch mehr von all den Geschichten und dem Drama. Er wollte nichts mehr von den Streitigkeiten der Diebe wissen. Am besten war es, wenn sie fortgehen würde.

Der Marktplatz war überfüllt und laut. Shouta lief dicht neben ihm und nutze den Keil, den Kakuzu in die Menge trieb. Wenn man ihm sah, wich man ihm aus, kannte man ihn oder nicht. Er kannte diese Wirkung, die er auf die Menschen hatte. Manchmal glaubte Kakuzu, dass sie seine Unmenschlichkeit spürten als wäre es einer ihrer Instinkte.

„Schau mal", sagte Shouta plötzlich und deutete in eine Richtung.

Kakuzu hob den Kopf. An einem Galgen baumelte eine Person. Es war ein Mann mit aufgequollenem Gesicht und offensichtlich teurer Kleidung. Eine Krähe pickte ihm ein Auge aus und der Mund stand auf absurde Weise offen. Er kam ihm bekannt vor...

„Ist das Genta?"

„Ja", sagte Shouta. „Ich will ihn vom Nahen sehen."

Kakuzu folgte Shouta zum Podest. Die meisten Menschen widmeten der Leiche keinen Blick, wahrscheinlich waren sie schon bei der Hinrichtung dabei gewesen und jetzt war sein Anblick zur Gewohnheit geworden. Und vermutlich interessierte man sich in der Hauptstadt auch nicht sonderlich für die Schicksale der Armen in einer armen Stadt.

Genta konnte noch nicht lange hier hängen. Es roch unangenehm und hier da hatten Vögel Fleisch herausgepickt, aber im Großen und Ganzen war die Leiche noch intakt und als Genta zu erkennen. Er trug eine dunkle Tunika, deren Kragen reich bestickt war. Sie war stellenweise gefrorenen und einer seiner Stiefel fehlte. Kakuzu fragte sich, wer nur einen Stiefel stahl.

„Geschieht ihm recht", sagte Shouta beiläufig. „Aber er hängt nicht für die richtigen Verbrechen."

Kakuzu nickte. Die Krähe flog davon und hinterließ eine leere Augenhöhle.

„Kaum zu glauben, dass der so schnell so viel hässlicher aussehen konnte. Ich mein, lebendig war er schon keine Augenweide, aber jetzt..."

„Im Tod sind alle Menschen hässlich", sagte Kakuzu.

Shouta zuckte die Schultern. „Ja, aber er besonders."

„Wir sollten gehen", sagte Kakuzu. Es gab keinen Sinn darin, weiter eine Leiche anzustarren. Arschloch hin oder her, das war nur eine Hülle. Und er hatte das Gefühl, dass es besser für Shouta war, würden sie zurückgehen. Je weniger sie gesehen wurden, desto besser, auch wenn er nicht davon ausging, dass sie angegriffen werden würden solange Kakuzu dabei war.

Ein Seufzen Shoutas folgte. „Ja, du hast Recht."

Er drehte es sich mit einem Schwung um, dass sein Mantel flog, machte einen Schritt – und erstarrte in der Bewegung.

„Was ist?", wollte Kakuzu wissen, doch Shouta brachte ihn mit einer knappen Geste zum Schweigen.

„Hör zu."

Also lauschte Kakuzu und er brauchte nicht lange um zu erkennen, was Shouta mitanhörte.

„Er soll es mit Tadashi abgesprochen haben", sagte ein Teenager mit pickeligem Gesicht.

„Schwachsinn", sagte ein anderer, der nicht weniger Pickel im Gesicht hatte. „Der's tot."

„Nein, untergetaucht. Bekommst du denn gar nichts mit?"

„Wo soll er denn bitte hin untergetaucht sein?"

Schon wieder dieser Tadashi. Kakuzu legte eine Hand auf Shoutas Rücken. „Komm, wir sollten gehen."

Doch Shouta schüttelte seine Hand so heftig ab, dass er dabei beinahe das Gleichgewicht verlor. Kakuzu zog die Hand zurück.

„Was weiß ich, genug Geld dafür wird er ja haben", sagte er der erste Teenager, „aber ich habe gehört, dass Genta auch mit Tadashi gearbeitet hat."

„Und was sollen sie gemacht haben?"
Der Teenager erzählte von irgendwelchen abstrusen Plänen über Menschenhandel und Verschwörungstheorien über den Brand. Es ging um Kontakte mit Fremdländern und um Regierungspläne. Zumindest damit, dass Genta am Ende unschuldig hing, hatte der Teenager recht, wenn er auch auf seltsamen Umwegen zu diesem Schluss gekommen war.
„Tadashi war nie weg, er hat immer nur im Untergrund gearbeitet." Das Wort Untergrund betonte der Teenager wie einen mystischen Ort, in dem Dämonen hausten.

„Ich habe gehört, dass er verrückt geworden ist und sich ins Meer geworfen hat", sagte der andere Teenager.

Kakuzu verdrehte die Augen. Er fasste Shouta nicht noch einmal an, aber er trat an seine Seite.
„Das ist Blödsinn und du weißt das."

Shouta antwortete nicht, doch er setzte sich in Bewegung.

Er war so schnell auf dem Weg in seine Wohnung, dass Kakuzu ihm kaum hinterherkam. Wie eine Katze wandte er sich zwischen die Menschenmasse hindurch, verschwand mal hier, mal da hinter einer Ecke oder eine Gruppe. Er rannte nicht, er bewegte sich schnell. Elegant, aber gehetzt.

Und kaum waren sie in der Wohnung, sank Shouta auf dem Sofa zusammen und fasste sich in die Haare. Kakuzu setzte sich neben ihn.

„Was ist los?

„Nichts", murmelte Shouta und vergrub das Gesicht in seinen Händen. „Ich hätte alles da, um abhauen zu können. Sadao wird bald nach uns suchen und ..."

Er brach ab. Kakuzu schwieg, denn er ahnte, dass es Shouta nicht wirklich um Sadao ging.

„Wir müssen hier fort, kann mir nicht vorstellen, dass Sadao uns einfach gehen lassen wird und es wäre besser, würden wir Kämpfe vermeiden."

„Wir haben kein Schiff", warf Kakuzu ein.

„Ich weiß, aber wir könnten sicher eines finden. Notfalls in einer anderen Stadt, sind noch ein paar kleinere in der Nähe. Irgendwer muss fahren."

Shouta stand auf. Für einen Moment befürchtete Kakuzu, Shouta würde wieder mit dem Trinken anfangen, doch er schaute nur aus dem Fenster. Er war blass und auch wenn er seine Arme vor seiner Brust verschränkt hatte, bemerkte er, dass seine Hände zitterten.

„Und was ist mit Ára?"

„Ich weiß nicht."

Sie schwiegen lange.

„Ich will nicht kämpfen, ich kann nicht mehr", sagte Shouta irgendwann, „aber ich will hen nicht alleine lassen und hen hat Informationen für mich."

„Informationen?"

„Über Nobu."

„Und die bekommst du nur, wenn du hen hilfst?"

„Nein, das ist es nicht."

Kakuzu fragte nicht, was es sonst war.

Shouta ließ sich wieder auf das Sofa fallen und einen jämmerlichen Anblick abgab. Kakuzu hasste es, Shouta so zu sehen.

„Danke." Shouta hob den Kopf. Er lächelte gezwungen.

„Bedank dich dafür nicht", sagte Kakuzu härter als er es wollte.

„Dann eben nicht." Mit einem Mal schwang sich Shouta auf Kakuzus Schoß. Die Hände lagen auf Kakuzus Brust, sie waren kalt. Das spürte Kakuzu selbst durch den Stoff. Shouta zitterte.

Doch seine Lippen legte sich auf Kakuzus und für den Moment vergaß Kakuzu das falsche Lächeln. Shoutas Hände vergruben sich in seinen Pullover, er drückte sich an Kakuzu heran. Heftig, aber unkoordiniert. Kakuzu öffnete den Mund für einen Zungenkuss. Es war ein heftiger, aber kein besonders guter Kuss.

Shouta zerrte an Kakuzus Oberteil und zog es ihm über den Kopf, Kakuzu fasst an Shoutas Hüften. Er kannte Shouta mittlerweile gut. Er wusste, wie er reagierte und was er mochte. Das Anspannen, wenn ihm etwas gefiel, das leise Keuchen und das Schnappen nach Luft, das kaum hörbar, aber da war. Er kannte, wie Shouta sich unter seinen Berührungen wand und wie all seine Bewegungen weich wurden. Doch all das blieb heute aus.

Shouta reagierte kaum, außer, dass er sich näher an ihn presste. Beinahe hölzern und auf eine unangenehme Art verzweifelt. Kakuzu schob Shouta von sich weg.

Der sah ihn überrascht an. „Was ist?"

„Willst du nicht?"

„Ist schon okay", sagte Shouta und beugte sich nach unten, um ihn wieder zu küssen, doch Kakuzu drückte ihn erneut von sich. Dieses Mal mit mehr Kraft.

„Das war nicht meine Frage. Willst du oder nicht?" Kakuzu gab sich wenig Mühe zu verbergen, dass er genervt war. Er wollte eine klare Antwort, jetzt sofort.

Shouta stand auf. „Ich weiß auch nicht, was los ist."

„Und deswegen versucht du zu ficken, obwohl du gar nicht willst?"

„Ja, hab verstanden, dass das eine beschissene Idee war, zufrieden?" Shoutas Ohren wurden rot.

„Shouta", sagte Kakuzu, weil ihm darauf nichts einfiel.

„Was?"

„Was soll das?", fragte er.

„Ich wollte nicht mehr reden."

Shouta wandte sich ab um wieder aus dem Fenster zu starren. Mittlerweile wurde es dunkel und Kakuzu konnte Shouta Reflektion im Fenster sehen. Er sah müde aus und ängstlich.

„Das ist kein Grund", sagte Kakuzu stirnrunzelnd.

„Ich weiß es nicht! Ich ... Ist doch scheißegal, oder?" Als sich Shouta zu ihm herumdrehte, war die Angst aus seinem Blick verschwunden. Stattdessen war da Wut.

„Willst du jetzt wieder saufen?" Kakuzu wollte eigentlich etwas anderes sagen, doch es rutschte ihm raus. Auch er war müde, auch er hatte keine Lust mehr darauf in Orora festzuhängen und er hatte auch keine Lust mehr, dass er nie wusste, was los war. Wenn er wenigstens nur einmal eine klare Antwort von Shouta bekommen würde...

Shouta atmete zitternd durch. Die Wut war so schnell verflogen, wie sie gekommen war. Stattdessen war Shoutas Blick leer und er hatte Tränen in den Augen.

Kakuzu atmete seinerseits durch, um sich zu beruhigen. „Seit dem wir in Satama sind, drehst du durch. Was ist los?"

Shouta bedankte sich dafür, dass Kakuzu ihm beim Ficken nicht verletzte oder dafür, dass er ihn Entscheidungen treffen ließ. Er schlief schlecht und manchmal konnte er sich nur beruhigen, wenn Kakuzu ihn in den Arm nahm.

„Gar nichts ist los", sagt Shouta. „Ich bin einfach so, solltest dich dran gewöhnt haben, mittlerweile."

Kakuzu hatte sich an vieles gewöhnt – inklusive Shoutas ständigem Geplapper – aber das war er nicht gewohnt. Als sie sich kennengelernt hatten, war Kakuzu davon überrascht gewesen, dass Shouta ihm in die Augen sah. Er hatte nicht gewusst, ob Shouta mutig oder dumm war und sich irgendwann dafür entschieden, dass es wohl Mut sein musste.

„Das bist nicht du", knurrte Kakuzu.

„Dann kennst du mich scheinbar doch nicht so gut." Shouta lief an Kakuzu vorbei und öffnete einen Schrank. Er sah hinein – zu den Flaschen, die in ihm standen – und knallte ihn wieder zu. Er zitterte mittlerweile so stark, dass es Kakuzu durch den ganzen Raum sehen konnte.

„Dann sprich mit mir."

„Ich kann nicht!"

„Shouta."

„Ich kann nicht, habe ich gesagt. Zwing mich nicht dazu." Shouta stand mit dem Rücken zu Kakuzu. Er wischte sich über das Gesicht.

Kakuzu blieb sitzen. Er wollte zu Shouta, aber er wusste, dass es Shouta gerade nicht wollte.

„Ich bin nochmal weg, ich spreche mit Ára."

„Nach dir wird gesucht."

„Ich weiß, mach dir keine Sorgen."

Kakuzu fühlte sich seltsam hilflos. Er hasste dieses Gefühl.

„Ich passe auf mich auf, versprochen."

Bevor Kakuzu etwas sagen konnte, war Shouta aus der Wohnung verschwunden.

„Scheiße", sagte Kakuzu.

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So, etwas verspätet bin ich wieder da! :) Und leider ist das Kapitel auch nicht betagelesen, was aber an mir liegt. Ich hab's überarbeiten so lange vor mir hergeschoben (ich war nicht wirklich zufrieden damit), dass mein Betaleser keine Zeit mehr hatte. Also na ja, jetzt muss das eben so gehen!

lg

Cato

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