𝟏𝟑.𝟏┃𝐉𝐞𝐝𝐞𝐬 𝐤𝐥𝐞𝐢𝐧𝐞 𝐋ä𝐜𝐡𝐞𝐥𝐧
[ACE]
Im Morgengrauen war Ephis eine Stadt des Nebels. Er hing so tief über den Kanälen, dass er Ace kaum bis zur Brust reichte und sie ihre eigenen Füße nicht sehen konnte. Aber der der Himmel über ihr leuchtete in blau und rosa, und die Luft war warm und salzig.
Ein seltsames Wetter, dachte Ace, während sie dem schwarzen Hund hinterher schlenderte. Zuerst hatte sie Angst gehabt, ihn in der wässrigen Milchsuppe leicht verlieren zu können, doch Takesch trottete durch die Gassen und über die Brücken der Stadt, ohne sich weit von ihr zu entfernen.
Ace betrachtete ihn genauer. Er musste schon älter sein, das konnte sie an seinem bedächtigen Gang erkennen. Ruhig, aber nicht weniger aufmerksam. Ganz anders als die wilden Jagdhunde ihres Vaters, vor denen sie sich als Kind stets gefürchtet hatte. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn einmal bellen gehört zu haben. Ihr Meister hatte behauptet, Takesch würde Alarm schlagen, wenn sich jemand dem Haus näherte. Doch der Hund hatte keinen Laut von sich gegeben, da war sie sich sicher. Er musste tief und fest geschlafen haben, während Ace wachgelegen und, sie wusste nicht wie, die grauenhaftesten Stunden ihres Lebens überstanden hatte.
Die vergangene Nacht hing wie ein grauenvoller Albtraum über ihr, der nicht aus ihrem Gedächtnis verblassen wollte. Ob man ihr ansah, dass sie kaum ein Auge zubekommen hatte? Sie hatte sich noch nicht im Spiegel betrachten können, aber die roten Abdrücke des Seils zierten noch immer ihre Handgelenke. Sie hatte geglaubt, ihn überzeugen zu können, doch als er die Peitsche herausgeholt hatte, hatte sie bereits mit dem Schlimmsten gerechnet. Die Tatsache, dass sie nun hier war, nicht an die Wand gefesselt, glich einem Wunder.
Hinterher hatte er sich beinahe lächerlich gnädig gezeigt. Oh, was für eine nette Geste ihres Meisters, ihr Brot und Wasser zu bringen und sie auf dem Sofa schlafen zu lassen, nachdem sie sich die Augen ausgeheult hatte. Half bestimmt gegen dein schlechtes Gewissen, du Bastard.
Doch selbst dort hatte sie keinen Schlaf finden können. Ace war es nicht gewohnt, in völliger Dunkelheit zu schlafen. Auf dem Sofa waren ihre Gedanken zu ihrem ärgsten Feind geworden. Die Schatten hatten in den Ecken und Winkeln des Raumes bedrohliche Formen angenommen, Grauen und Gefahren, die in der Finsternis auf sie warteten und sie zum Tag der Invasion zurück katapultierten. Und ihr war so bitterkalt gewesen. Noch nie hatte sie sich mehr nach ihrem Kamin gesehnt, der ihr in Atraklin Licht und Wärme gespendet hatte. In Atraklin hätte sie auch nach ihrem Kammermädchen rufen können. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass sich ihre Dienstmädchen neben sie in das große Himmelbett gelegt und sie nach einem Albtraum beruhigt hätten.
Doch hier, in dieser fremden Umgebung, war sie allein mit ihrer Angst. Da war es kaum verwunderlich, wenn sie sich beim ersten unheimlichen Geräusch zurück ins Schlafzimmer und auf den Boden legte. Außerdem war sie sich sicher, etwas auf der Terrasse gehört zu haben. Ein Scharren, ein lautes Knarzen der Holzplanken. Im Nachhinein wäre es gut gewesen, aus den Fenstern hinauszuspähen und nach Bewegungen Ausschau zu halten. Vielleicht hätte sie dann wirklich bloß den Hund gesehen, aber das war leichter gesagt als getan. Ihr Meister hatte Recht. Sie hatte das Herz eines Hasen.
»Hey, du.« Eine Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Bleib stehen. Deine Tunika ist falsch gebunden.«
Ace drehte sich um. Das Mädchen, das mit ihr gesprochen hatte, hatte dunkle Haut. Goldene Akzente und Fäden waren in ihr schwarzes Haar geflochten, das ihr in prächtigen Locken über die Schulter fiel.
»Was?« Ihre Schönheit verblüffte sie so sehr, dass sie kaum mehr als das hervorbrachte.
»Lass mich dir helfen.« Das Mädchen trat mit einem Lächeln näher. Ihr Gesicht faszinierte Ace auf den ersten Blick, doch es waren nicht die lebhaften Gesichtszüge oder der goldene Lidschatten, auf den sie starrte, sondern ihr Hals. Dieser war geschmückt mit einem Sklavenkragen aus Gold, edel geschmiedet und mit drei strahlend blauen Saphiren bestückt.
Und drei Saphire. Das ist sie! Das muss die Tanzsklavin sein, von der er gesprochen hat! Ihr Herz schlug aufgeregt in ihrer Brust. Aber sie sieht gar nicht richtig aus wie eine Sklavin...
Ihre Augen wanderten auf der Suche nach einem Brandmal von ihrem Gesicht bis hinunter zu ihren Füßen. Das Mädchen war größer und älter als Ace, aber nicht viel. In ihren Ohren steckten Diamanten, um ihre Gelenke trug sie funkelnde Reife und ein Kleid aus feinster, meerblauer Seide schmiegte sich fließend um ihre Gestalt. Das Meisterwerk eines Schneiders, erkannte sie. Wenn sie ein Brandmal trug, dann irgendwo gut versteckt, denn sie konnte keines finden.
»Alles in Ordnung mit dir?«
Oh nein, ich habe sie viel zu lange angestarrt, fluchte Ace. Das gehört sich nicht. Das ist unhöflich. Röte schoss ihr ins Gesicht, und sie suchte vergeblich nach den richtigen Worten. In ihrem Kopf baute sich auf einmal ein Druck auf, den sie nicht kannte. Sag etwas, sag schon etwas. Sie wird dich sonst meiden, sie wird dich abweisen, und wenn du es nicht schaffst, dann wird Zoharon dich bestrafen.
»Verzeih mir.« Sie verschluckte sich fast an den Worten. Ihr Herz raste, ihre Finger zitterten und sie war so verkrampft, dass sie am liebsten einfach weggerannt wäre. Auf einmal war jede Eloquenz, die in Atraklin immer natürlich zu ihr gekommen war, verschwunden. Sie konnte nur noch an eines denken: Er wird dich bestrafen, wenn du nicht ... wenn du nicht ... Sie musste hier weg, musste...
»Alles gut«, drang die freundliche Stimme in das Chaos ihrer Gedanken. »Ich bin Meliora. Wie heißt du?«
Die Antwort fiel ihr leichter. Ihr Name war etwas, an dem sie sich festhalten konnte. »Ace.«
»Hallo, Ace. Das dort drüben ist Remus.« Sie zeigte auf einen Jungen, der in einem Abstand hinter ihr stehen geblieben war und unter einem flachen Sonnenschirm misstrauisch hervor spähte. Ihn erkannte sie sofort als Sklaven. »Remus mag keine Hunde.«
Sie hatte gar nicht bemerkt, wie Takesch zu ihr gekommen war. Er stand neben ihr, die Ohren gespitzt, aber gelassen, und als Ace ihm mit der Hand über den Rücken fuhr, entspannte sie sich ebenfalls. »Ich mag Hunde eigentlich auch nicht«, gestand sie. »Aber dieser hier ist in Ordnung.«
»So, du bist also ein guter Junge? Wie heißt er denn?« Meliora ging in die Hocke und streichelte mit beiden Händen über seinen Kopf. Der Hund begann eifrig mit dem Schwanz zu wedeln und drückte ihr die Schnauze gegen den Bauch.
»Takesch«, antwortete sie. »Er gehört meinem Meister.«
Das Mädchen stand wieder auf und winkte nach ihrem Freund. »Komm schon her, du Feigling!«, rief sie ihm zu, und der Junge setzte sich in Bewegung.
Obwohl auch er einen Kragen um den Hals trug, war der Unterschied zwischen ihnen wie Tag und Nacht. Seine Haut war blasser als die von Ace, sogar etwas schmutzig. Er war stämmig, hatte zahllose Sommersprossen und einen sehr vorwurfsvollen Blick. Vor tausend Jahren hatte sie ein Mädchen gekannt, das ebenso feuerrotes Haar wie er besaß. Denk nicht an sie. Deine Schwester ist bereits verloren.
»Ich bin kein Feigling«, raunte er und rollte mit seinen Augen.
Meliora lachte amüsiert auf. »Nein, du bestimmt nicht.« Sie schüttelte den Kopf und deutete Ace, sich umzudrehen. »Tut mir leid, aber ich muss jetzt deine Tunika richten. Sonst könnte sich der Knoten von alleine lösen.«
»Das ist sehr nett von dir.« Nicht mehr ganz so nervös kehrte Ace ihr den Rücken zu und strich ihr Haar zur Seite. Der Druck, den sie zuvor empfunden hatte, war weg. »Ich weiß gar nicht, wie das geht, ich neu, ich komme eigentlich aus...«
»Atraklin.« Meliora lächelte sanft. »Das hört man. Dein Akzent ist ziemlich stark. Ich zeig dir, wie man es richtig macht.«
Remus verschränkte seine Arme. »Aber mach schnell, Mel, wir haben nicht ewig Zeit...«
»Sh, sei leise. Soviel Zeit muss sein«, zischte sie, ehe sie laut aufseufzte. »Entschuldige sein Verhalten. Remus nimmt seine Aufgabe als mein Aufpasser viel zu ernst. Aber eigentlich muss ich eher auf ihn aufpassen.«
»Ja, natürlich, du Lügnerin.« Remus zog einen beleidigenden Gesichtsausdruck auf. »Du würdest es mir nicht so schwer machen, wenn du nicht ständig auf alles losrennst, was bemitleidenswert aussieht, weißt du?«
Meliora stieß ihm den Ellbogen in die Schulter, zusammen mit einem warnenden Blick, aber er schien nicht sonderlich beeindruckt zu sein. Sie löste den Knoten an ihrem Nacken, hielt ihre Tunika fest und band die Schnur erneut, wobei sie ihr die Vorgehensweise erklärte. »Wohin gehst du, Ace?«, fragte sie, als sie fertig war.
»Zum Markt... ich folge dem Hund...« Ace sah sich suchend um, aber von Takesch war keine Spur zu sehen. Weder gespitzte Ohren noch ein wackelnder Schwanz, der aus dem Nebel hervorragte. Verfluchter Hund. Wo ist er hin?
»Dorthin wollen wir auch. Lass uns gemeinsam gehen.«
Ace fühlte sich erleichtert über das Angebot. »Vielen Dank, das wäre großartig. Ich soll Brot kaufen, aber ich kenne mich hier wirklich nicht aus.«
Remus zuckte mit den Schultern. »Ich hole frischen Fisch, Muscheln und Gemüse. Mel ist nur dabei, um mich zu nerven. Aber sie hat Recht, die Stände sind gleich nebenan.«
»Ich bitte dich, Remus, ich bin dabei, damit du nichts Dummes anstellst.« Meliora hakte sich bei Ace ein und führte sie so überquerten sie einige Brücken, unter denen zahlreiche zugedeckte Gondeln dicht nebeneinanderlagen, und dann einen größeren, schattigen Platz.
»Es ist leicht, sich in Ephis zu verirren, wenn man in kleinere Gassen ohne Kanäle abbiegt.«, erklärte ihr Remus, der ihr nach einiger Zeit doch netter vorkam. Die hohen Häuserwände schienen jeden Laut zu verstärken, sodass selbst ein leises Flüstern deutlich zu hören war. »Deshalb orientiere dich an den Booten, sie fahren immer zu den Häfen.«
Als sie um die Ecken bogen, marschierte eine Gruppe von Eulen an ihnen vorbei. Ace zog instinktiv den Kopf ein und wich eng an Melioras Seite, obwohl die Soldaten sie höchstens wegen der hübschen Tanzsklavin neben ihr musterten. Remus fand ihre Reaktion wohl recht lustig, denn er grinste still vor sich hin.
»Lach du nur«, fauchte Meliora, »du kleiner Feigling würdest dich doch nie mit denen anlegen.«
»Warum nicht? Ich bin stark! Meister Auris hat gesagt, noch drei Jahre, dann kann ich ihn vielleicht beim Armdrücken besiegen. Und Kassianos Varga, den kann ich ganz leicht abwehren.«
»Armdrücken? Die Eulen hacken dir gleich den ganzen Arm ab, wenn du sie auch nur ansprichst! Und wehe dir, du sagst auch nur ein Wort zu Varga!« Mel hob drohend ihren Zeigefinger und sah nun auch Ace mit ihren dunklen Augen ernst an. »Den Eulen kommen wir nicht in die Quere, verstanden?«
Ace zögerte nicht, bestrebt zu nicken. Etwas anderes hatte sie auch nicht vorgehabt. »Von denen halte ich mich fern. Wer ist dieser Kassianos Varga?«
Remus rümpfte mit der Nase. »So ein aufgeblasener Soldat. Ich hasse diesen Kerl.«
»Er ist niemand«, fügte Meliora hinzu. »Und außerdem ist er ja gar nicht hier.«
»Falsch. Die Zehnte Legion ist vorgestern zurückgekommen. Und Kassianos soll sich sogar ganz tapfer geschlagen haben.«
»Er ist in der Zehnten?« Ace wusste sofort, von was der Junge sprach. Die berühmte geflügelte Zehnte. Angeführt von General Vicar, der nur die fähigsten Eulenreiter unter sich duldete. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihrem Bauch breit. Ephis allein war bereits ein furchtbarer Ort, aber das Wissen, dass Vicar jederzeit über ihren Kopf hinwegfliegen konnte, machte ihn noch schlimmer.
»Das macht ihn auch nicht wichtiger als andere. Und Remus, wenn du etwas Dummes tust, erzähle ich Meister Auris, dass du ständig seine Parfüms benutzt, wenn er schläft«, drohte Meliora, und Remus verzerrte augenblicklich seine Miene. Die Tanzsklavin schien Ace' Besorgnis zu spüren, denn sie nahm ihre Hand und drückte sie leicht. »Mach dir keine Gedanken. Ich weiß genau, was du jetzt brauchst.«
»Achja? Was denn?«
»Eine schönen heißen Becher Kaffee. Der wird dich aufwecken.«
»Kaffee? Was ist das?« Ace hob neugierig eine Augenbraue, doch Mel tauschte nur einen erheiterten Blick mit Remus aus.
»Du weißt nicht, was Kaffee ist?«, fragte dieser erstaunt, woraufhin sie den Kopf schüttelte. »Du wirst schon sehen, Atraki ... aber dann müssen wir einen mit Milch und viel Zucker für dich nehmen.«
Meliora lächelte, und ihr wurde dabei ganz warm ums Herz. Etwas breitete sich in ihr aus; sie konnte nicht sagen, was es war. Lag es an der Sonne, die langsam den Nebel verdrängte? Daran, dass sie auf einmal keine Sorgen mehr hatte, etwas würde schiefgehen? Ace drückte ihre Hand fester.
Vielleicht habe ich heute doch etwas Glück.
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