𝟏𝟏┃𝐃𝐢𝐞 𝐇𝐞𝐫𝐫𝐬𝐜𝐡𝐞𝐫 𝐝𝐞𝐫 𝐖𝐞𝐥𝐭𝐞𝐧


[ACE]


Wie schnell die Bilder wechselten.

Der steinerne Boden unter ihr schwankte, und vor ihren Augen verschwamm alles. Das Gleichgewicht schon längst verloren, stützte sie sich mit den Schultern an der Wand ab. Das Bedürfnis, zu Boden zu sacken, trieb sie allmählich in den Wahnsinn, doch die Riemen zwangen sie, mühsam aufrecht zu stehen und zu kämpfen.

Anfangs hielt sie bloßes Stehen noch für eine vergleichsweise milde Strafe, wenn sie an den Sklavenmarkt zurück dachte. Selbst ihre Arme, die von den Ketten gehalten wurden, musste sie nicht mit gespreizten Fingern an den Kopf halten, wie sie es bei anderen Sklaven gesehen hatte. Aber Stehen allein war ein weitaus schrecklicherer Zustand, als Ace gedacht hatte.

Sie wusste nicht, seit wie vielen Stunden er schon weg war. Ihr Zeitgefühl war vollkommen verloren gegangen. Sie konnte ihre Beine nicht bewegen, in die Hocke konnte sie nicht gehen, alles was ihr blieb, war zu stehen. Ihre Muskeln brannten wie Feuer, die Waden, in denen sich das Blut staute, zitterten, an ihren Beinen kroch Kälte hoch. Seit ein, oder zwei Stunden nahm das Zerren in ihrem Unterleib zu, und der Druck in ihrer Blase wuchs mit jeder Minute.

Nykip und Nareb.

Seit ihr Meister zur Tür hinaus war, geisterte ihr das gezeichnete Bild der Statuen wie ein wiederkehrendes Echo durch den Kopf. Dass er sein Notizbuch vor ihr auf der Kommode zurückgelassen hatte, dort wo sie es ständig im Blick hatte, machte es nicht besser.

Die Herrscher der Welten.

Es war ihr Vater gewesen, der ihr die Legenden der Götter als Kind vorgelesen hatte. Ace erinnerte sich bekümmert daran, wie Skadi und sie seiner ruhigen Stimme gelauscht hatten, während vor ihnen ein warmes Kaminfeuer knisterte. Auf seinem Schoß ein aufgeschlagenes Buch, dessen Seiten zwischen seinen Fingern schon fast zerfielen, so alt war es.

Nykip war die Göttin des Ozeans und des Mondes, und ebenso atemberaubend schön wie unberechenbar. Die Menschen früher ehrten ihren Namen in Liedern, die heute keiner mehr kannte.

Nareb war ihr Zwillingsbruder, der Gott der Wünsche, der seinen Palast für jeden öffnete, der nach Macht und Stärke suchte.

Die Geschwister waren die Mächtigsten unter den Göttern, denn nur sie alleine besaßen die Fähigkeit, lebende Schöpfungen hervorzubringen. So erschuf Nykip riesige Seeungeheuer, Kraken und Sirenen, während Nareb die Erde mit Menschen, Schlangen- und Drachenwesen bevölkerte, die ihnen dienten und sie mit reichen Opfergaben verehrten. Die Schönste ihrer Schöpfungen jedoch sollte zum Untergang der beiden führen.

Die Malakim, Wesen, so hatte ihr Vater erzählt, die halb Vogel und halb Mensch waren und über magische Fähigkeiten verfügten, stellten sich gegen die Göttergeschwister. Ständig an ihrer Seite erfüllten sie alle Aufgaben, die ihnen die Götter befahlen, bis sie selbst über die Welten herrschen wollten, die Nykip und Nareb erschaffen hatten.

Der Erste, Stärkste und Schönste unter ihnen war Rhehezkiel gewesen.

Über ihn wusste Ace nur sehr wenig, aber sie ahnte, dass Ezekiel eine Abwandlung seines Namens, oder vielleicht die naraenische Übersetzung sein musste.

Rhehezkiel, der Entwürdiger.

Er war der erste der Malakim, der sich geweigert hatte, vor ihrer überwältigenden Macht zu knien und der erste, der gegen die Götter rebellierte. Rhehezkiel führte seine Geschwister in einen Krieg und durch eine List gelang es ihm, Nykip und Nareb in einem goldenen Gefäß zu versiegeln.

Die verschollenen Götter.

Der Legende nach fror Rhehezkiel das Gefäß tief in einen Gletscher am Eingang zwischen den Welten der Lebenden und der Toten ein und erklärte sich selbst zum Herrscher der Welten.

Aber was ist dann passiert?

Ace versuchte, sich an das Ende der Geschichte zu erinnern, doch es gelang ihr nicht. Nach zwei weiteren Stunden sah sie ein, dass die Erinnerung an den damaligen Abend, das alte Buch und ihren Vater in ihrem Kopf verblasst war, egal, wie sehr sie sie festhalten wollte.

Schlussendlich war es nur eine alte Geschichte gewesen, und alle Monster, Welten und Gottheiten erfunden. Die Götter, zu denen man in Atraklin betete, hatten nichts gegen den Untergang ihres Landes unternommen, außerdem erschien es ihr sinnlos, sich gefangen in einem Land, in dem sich eine ganze Kaiserdynastie zu neuen Göttern erklärt hatte, weiter darüber Gedanken zu machen.

Dieses Land ist gottlos, und jetzt bin ich es auch.

Ace drehte ihren Kopf zur Seite und sah durch das Fenster nach draußen. Es war dunkler geworden. Die Sonne hatte sich bereits hinter die gegenüberliegenden Häuser zurückgezogen und es dämmerte. Mit jeder Minute, die verstrich, wurde sie schwächer, doch wenn ihre Beine nachgaben, schnitt ihr das Gewicht ihres eigenen Körpers durch die Riemen in die Handgelenke. Ihr Körper krampfte, fühlte unerträglichen Schmerz, den sie bisher nicht gekannt hatte. Hunger und Durst plagten sie, doch all das schien ihr das noch das geringste Problem zu sein.

Wenn ich wieder da bin, werden wir uns noch einmal darüber unterhalten.

Seine scharfen Worte hatten ihr klar verdeutlicht, dass er die Sache nicht ruhen lassen würde. Wie wollte sie ihn überzeugen? Mit Tränen, mit süßen, nach Gnade winselnden Worten? Wenn sie bereits an ihrem ersten Abend scheiterte, eine glaubhafte Lüge rund um ihre Körperbehaarung zu erzählen, wie sollte sie dann jemals ihre Identität wahren können?

Das Versprechen ihres Ritters, sie in Ephis zu finden und sie zu holen, rückte mit jeder Minute weiter weg, bis es nur noch ein blasser Hoffnungsschimmer in der Ferne war.

Auf einmal hörte sie Schritte vor der Tür. Jetzt geschah es. Seit Stunden starrte sie auf die Klinke und endlich war es soweit. Sie wusste nicht, ob er die Tür langsam öffnete, um sie zu quälen, oder ob sie ihre Zeitwahrnehmung bereits derartig verloren hatte, dass ihr alles wie in Zeitlupe vorkam, doch dann stand er vor ihr. Seine Anwesenheit löste in ihr gleichzeitig die Hoffnung aus, dass der Schmerz nun vorbei war, als auch den Impuls wegzurennen.

Langsam hob sie den Kopf, merkte erst jetzt, wie verspannt ihr Nacken war, und öffnete den Mund. »Bitte ...« Ihre Kehle war trocken wie Schleifpapier.

Ihr Meister zog sich gelassen seinen Mantel aus. »Keine Sorge, ich habe dich nicht vergessen«, meinte er. »Mein Vorhaben hat nur etwas länger gedauert, als es beabsichtigt war.«

Sie wartete, doch er machte keine Anstalten, die Seile um ihre Gelenke und die Fußringe zu lösen, und je länger sie wartete, desto größer wurde der Wunsch, ihm wehzutun. Der Stilettdolch an seiner rechten Hüfte wirkte scharf genug, um ihn mühelos in seine Augen zu treiben.

»Macht mich los.« Ace bebte vor Kälte, vor Angst, es nicht länger durchstehen zu können. Sie wollte Haltung zeigen, doch das flaue Gefühl in ihrem Magen machte es ihr schwer. Sie ahnte bereits, dass er auf ihre Forderung nicht eingehen würde. Es lag nicht an ihrem Tonfall oder ihrer Wortwahl, sondern weil er bereits sein Notizbuch in der Hand hielt, und mit einem Bleistift etwas hineinschrieb.

»Ohne zu bekommen, was ich will?«

»Meine Beine ... alles tut weh!«, wimmerte sie.

Krachend schlug seine Faust direkt neben ihrem Kopf in die Wand. Putz bröckelte hinunter, sie atmete erschrocken ein und wagte es nicht mehr, ihn anzusehen. »Wie nett, aber es wird noch länger weh tun, wenn du mich noch länger zum Narren hältst!«, fuhr er sie laut an.

Obwohl er bei seiner Ankunft so gelassen gewirkt hatte, wurde ihr jetzt deutlich bewusst, dass es in ihm brodelte. Er würde sie nicht befreien. Mit der bitteren Erkenntnis kamen die Tränen, die sich in ihren zusammengepressten Lidern sammelten und plötzlich wie ein Wasserfall ihre Wangen hinab flossen. Ace konnte die Schluchzer nicht mehr unterdrücken.

Sie konnte nicht mehr. Der einzige Weg hier raus war der Weg in ihr Verderben.

Er wird sich nicht mit dem Lesen zufriedengeben. Er wird nachbohren, und er wird sich alles zusammenreimen. Oder er wird mich an einen gebildeten Mann verkaufen, der alles noch schneller herausfinden wird.

»Ich gebe dir noch eine letzte Chance. Pass auf.« Er ließ sich nicht durch ihre Tränen beeinflussen. Das aufgeschlagene Buch tauchte plötzlich in ihrem Blickfeld auf, über beide Seiten verteilt war ein deutlicher Schriftzug zu erkennen. »Lies vor, was dort steht, und winsel weiter um Vergebung. Heute werde ich sie dir nicht gewähren, aber vielleicht morgen.«

Trotz dass ihr Blickfeld verschwommen durch den Tränenschleier war, konnte sie den Satz auf dem Papier deutlich erkennen:

Ich bin eine Lügnerin, las sie, und ihre Kehle schnürte sich zusammen. Ihr Herz schlug schneller, beide Hände verkrampften sich in den Fesseln zu Fäusten, und sie spürte wieder das schreckliche Gefühl der Angst in ihrem Bauch. Doch diesmal war es kein Brenneisen oder ein Hund, vor dem sie sich fürchtete. Es waren nicht die Gestalten in ihren Albträumen, sein Zorn oder die Aussicht, die Nacht an der Wand verbringen zu müssen - sondern der Tod.

Sie konnte nicht mehr – und doch musste sie weitermachen. Für Atraki gab es keinen Tod ohne Kampf. Man würde sie wahrscheinlich nicht mehr retten kommen, doch bei allen Göttern dieser Erde, man hatte immer eine Wahl.

Tod oder Versklavung war eine Wahl.

Es war naiv von ihr gewesen, zu glauben, sie nur ein einziges Mal treffen zu müssen.

Ihr Schenkel kribbelte, das Bein schlief ihr ein, es zuckte in ihrer rechten Wade, ein Krampf kündigte sich an. »Ich kann das nicht lesen, Meister«, antwortete sie mit brüchiger Stimme.

Es war so unbeschreiblich schwer, zwischen all den Schmerzen, der Tränen und der Angst einen einzigen klaren Gedanken fassen zu können, aber es gelang ihr. Ezekiel Zoharon hatte überhaupt keine Ansätze, ihre wahre Identität zu kennen, war es nicht so? Die Naraener glaubten, die gesamte atrakische Königsfamilie befand sich im Palast des Kaisers und warteten auf ihre Hinrichtung. Er hatte bloß eine Kriegsgefangene vor sich, eine junge Barbarensklavin, nur eines von tausenden Gesichtern. Sie würde nicht auffallen. Sie war der sprichwörtliche Blütenkelch im Blumenmeer. Der eine Baum im Nadelwald. Der silberne Tropfen im Wasserfall ...

Trotzdem musste sie ihn jetzt überzeugen. Ace hob den Blick, um an Informationen zu gelangen, die sie in seinem Gesicht ablesen konnte. Gewissheit, dass sie richtig lag. Und tatsächlich - da war es.

Da war Verunsicherung.

Sie konnte das hier gewinnen.

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